Man stelle sich folgende Situation vor: Die Inflationsrate liegt bei dreieinhalb Prozent und es ist nicht absehbar, wann sie wieder auf den Zielwert der Europäischen Zentralbank (EZB) von knapp zwei Prozent fällt. Was wäre wohl in Deutschland los?
Die Frage ist nicht schwer zu beantworten: Die Inflation wäre ein polit-mediales Topthema. Politiker und Kommentatoren würden die EZB zum Handeln auffordern. Wahrscheinlich würde man im Frankfurter Euro-Tower dem Druck aus dem größten Mitgliedsstaat der Währungsunion früher oder später auch nachgeben.
Derzeit liegt die durchschnittliche Inflationsrate in der Euro-Zone bei einem halben Prozent. Die Abweichung vom Zielwert entspricht also genau dem obigen Beispiel. Nur dass die Inflation eben nicht zu hoch, sondern zu niedrig ist. Trotzdem fordert in Deutschland niemand die EZB zum Handeln auf. Stattdessen wird der Notenbank geraten, erst einmal abzuwarten und nicht in Aktivismus zu verfallen. Das Missverhältnis zeigt, dass in Deutschland auch fast ein Jahrhundert nach der Hyperinflation zwischen den beiden Weltkriegen immer noch ein einseitiges Verständnis von Preisstabilität vorherrscht. Das erschwert eine nachhaltige Überwindung der Euro-Krise.
In Deutschland herrscht auch fast ein Jahrhundert nach der Hyperinflation zwischen den beiden Weltkriegen immer noch ein einseitiges Verständnis von Preisstabilität.
Dabei sind die Risiken einer deflationären Entwicklung gerade in Europa offensichtlich. In der deutschen Debatte ist häufig zu hören, die Gefahr einer Deflation läge darin, dass die Verbraucher wegen fallender Preise geplante Anschaffungen auf die Zukunft verschieben und damit die gesamtwirtschaftliche Nachfrage leide. Weil es dafür aber noch keine Anzeichen gebe, sei der Rückgang der Preissteigerungsrate kein Problem.
Mythos und Wirklichkeit: Das eigentliche Problem einer Deflation
Tatsächlich kann von einer solchen spekulativen Verschiebung keine Rede sein. Doch das will nicht viel heißen. Schließlich ist sie selbst in einem Land wie Japan, das mehr als zehn Jahre in der Deflation steckte, nur schwer nachzuweisen. Das ist aber auch nicht verwunderlich: Selbst wenn die Waschmaschinenpreise fallen: Wenn die alte Maschine kaputt ist, muss eine neue her. Die wichtigste Bestimmungsgröße des Konsumverhaltens ist das verfügbare Einkommen.
Das eigentliche Problem einer Deflation ist ein anderes: Sie geht mit fallenden oder stagnierenden Einkommen einher. Wenn die Unternehmen ihre Preise senken, müssen sie auch ihre Kosten reduzieren – und weil der wichtigste Kostenblock in einer modernen Volkswirtschaft in der Regel die Arbeitskosten sind, bedeutet das, dass Leute entlassen werden oder bei Löhnen und Gehältern gespart wird. Das ist vor allem dann ein Problem, wenn die Haushalte hoch verschuldet sind. Sie müssen dann mit einem geringeren Einkommen einen unverändert hohen Kreditbetrag abstottern.
Und weil die Steuereinnahmen sinken, wenn die Einkommen zurückgehen, hat eine Deflation auch Auswirkungen auf die Fähigkeit zur Bedienung der Staatsverschuldung. Weil die Schuldentragfähigkeit in den meisten Krisenländern ohnehin angespannt ist, ist ein deflationäres Umfeld derzeit besonders gefährlich. Es könnte entweder einem Staatsbankrott den Weg bereiten oder zu neuen hektischen Sparmaßnahmen führen. In beiden Fällen wäre die derzeit zu beobachtende allmähliche Erholung der Konjunktur in Gefahr – und die Krise zurück.
Aus diesem Grund ist es in Wirklichkeit zweitrangig, ob Europa derzeit eine echte Deflation erlebt oder nur eine Phase mit niedriger Inflation. Auch letztere ist in der jetzigen Situation ein Risiko für die wirtschaftliche und soziale Stabilität in Europa.
Gewiss: Der Tiefpunkt bei der Teuerung ist wahrscheinlich erreicht. Die Preise dürften in den kommenden Monaten wieder schneller stiegen. Und eine niedrige Inflationsrate in den Krisenländern ist Teil der notwendigen makro-ökonomischen Anpassung im Währungsraum. Die Unternehmen müssen ihre Kosten in den Griff bekommen, um wieder wettbewerbsfähig zu werden. Deshalb müssen auch die Preise langsamer steigen.
Doch das rechtfertigt nicht die Untätigkeit der EZB. Denn erstens ist die Inflation in Europa schon viel zu lange viel zu niedrig. Selbst nach Prognosen wird die Zielrate erst in drei Jahren wieder erreicht – und auch das nur, wenn alles gut läuft. Die Notenbank hätte also etwa ein halbes Jahrzehnt ihren Auftrag nicht erfüllt.
Zweitens würde eine höhere Inflation in der Euro-Zone insgesamt auch die wirtschaftliche Anpassung der Krisenländer erleichtern. Denn wenn die Preise im Norden schneller stiegen, müsste der Süden weniger stark kürzen, um bei der preislichen Wettbewerbsfähigkeit an Boden gutzumachen. Es ist ja gerade der Sinn eines positiven Inflationsziels, die Korrektur von Preisungleichgewichten im Währungsraum zu erleichtern – und zu verhindern, dass bei diesem Ausgleich ein Teil des Kontinents in die Deflation getrieben wird.
Die Instrumente der EZB sind längst nicht ausgereizt
Aber kann die EZB denn überhaupt noch etwas tun angesichts eines ohnehin niedrigen Zinsniveaus? Das kann sie. Zunächst einmal sind nicht einmal die konventionellen Instrumente der Geldpolitik ausgereizt. Eine weitere Zinssenkung wäre noch möglich, bevor die Nullmarke erreicht ist. Ein solcher Schritt würde sicherlich keinen Investitionsboom auslösen. Aber es wäre schon ein Fortschritt, wenn er die Aufwertung des Euro bremst, unter der vor allem die Industrieunternehmen im Süden leiden.
Zudem müssen so schnell wie möglich die maroden Banken in der Währungsunion saniert werden. Denn dass sich die Kreditwirtschaft derzeit mit Darlehen zurückhält hat auch damit zu tun, dass die Banken wegen der anstehenden Prüfung durch die EZB keine unnötigen Risiken eingehen wollen. Diese Prüfung sollte so schnell wie möglich über die Bühne gebracht werden – und Institute mit schwacher Kapitalausstattung müssen entweder rekapitalisiert oder abgewickelt werden.
Aber auch wenn das nicht reicht, wäre die EZB noch nicht am Ende ihrer Möglichkeiten. Sie könnte Anleihen aufkaufen und würde damit den Preis dieser Anleihen in die Höhe treiben. Damit würde aus Sicht der Investoren die Rendite sinken, sie würden in riskantere Engagements gezwungen. Dazu zählen aber eben auch Investitionen in die Realwirtschaft. Das Volumen der Papiere, die für eine solche Operation grundsätzlich geeignet wären , beläuft sich in der Euro-Zone auf rund 14 Billionen Euro. Davon entfällt knapp die Hälfte auf Staatsanleihen.
Notenbankpräsident Mario Draghi hat zwar angedeutet, dass er im Zweifel lieber verbriefte Kredite der Banken an Unternehmen und Haushalte – so genannte Asset Backed Securities (ABS) – aufkaufen würde, weil dadurch die Kreditvergabe direkt angekurbelt werden könnte. Doch es gibt im Währungsraum schlicht nicht genug solcher Papiere, um ein wirkungsvolles Kaufprogramm auflegen zu können. Deshalb wird die EZB im Ernstfall auf Staatsanleihekäufe nicht verzichten können.
Sicherlich: Solche Käufe haben Nebenwirkungen. Sie können zu Preisblasen an den Vermögensmärkten führen. Und die EZB würde sich damit dem Verdacht aussetzen, über Umwege Staaten zu finanzieren, was ihr die europäischen Verträge verbieten. Doch auch die anderen großen Notenbanken des Westens – die amerikanische Federal Reserve, die Bank of England und die Bank von Japan – haben durchaus mit Erfolg Staatsanleihen gekauft. Das Instrument ist also in der Praxis erprobt. Es gibt keinen Grund, warum es die Europäer nicht nutzen sollten.
Es ist bemerkenswert, dass gerade in Deutschland an der Zielverfehlung der EZB so wenig Anstoß genommen wird. In der ordnungspolitischen Tradition spielt die Einhaltung von Regeln schließlich eine wesentliche Rolle
Es ist jedenfalls bemerkenswert, dass gerade in Deutschland an der andauernden Zielverfehlung der EZB so wenig Anstoß genommen wird. In der deutschen ordnungspolitischen Tradition spielt die Einhaltung von Regeln schließlich eine wesentliche Rolle. Und deutsche Ökonomen sind nicht gerade zimperlich, wenn es darum geht, die Südländer für Verstöße der Defizitregeln zu kritisieren. Offensichtlich sind Regeln immer nur dann gut, wenn sie Einsparungen erzwingen. Wenn ihre Einhaltung eine expansive Politik erforderlich macht, will man plötzlich nichts mehr von ihnen wissen.
Klar sollte auch sein, dass Deutschland mit seinen riesigen Überschüssen in der Leistungsbilanz bei der Überwindung der niedrigen Inflation eine Schlüsselrolle spielt. Die Teuerungsrate hierzulande lag jahrelang unterhalb des Zielwerts, während sie in Südeuropa darüber lag. Jetzt kehren sich die Verhältnisse um.Deshalb müsste Deutschland einige Jahre einen schnelleren Preisauftrieb zulassen. Doch trotz einer soliden Konjunkturentwicklung beträgt die deutsche Teuerungsrate derzeit gerade einmal ein Prozent.
Das wird sich nur ändern, wenn die Löhne und Gehälter deutlicher als bisher steigen. Deshalb ist die verbreitete Klage über die in den jüngsten Tarifabschlüsse vereinbarten – immer noch maßvollen – Entgeltzuwächse verfehlt. Die deutsche Politik legt vielleicht vom öffentlichen Dienst abgesehen keine Löhne fest. Aber sie kann die nötigen Anpassungen fördern, indem sie auf überzogene Sparvorgaben verzichtet und die gesamtwirtschaftliche Nachfrage durch sinnvolle öffentliche Investitionen stützt. Dabei ist das, was im Koalitionsvertrag beschlossen wurde, sicher nicht genug.
1 Leserbriefe
Man könnte gleichzeitig Infrastrukturmaßnahmen in Deutschland vorziehen, wo sinnvolle zukunftsorientierte Projekte gleich vorfinanziert werden. Das bringt den Sparern mehr Zins als die 0,25% und es wird dann Vollbeschäftigung wieder in Deutschland herrschen. Vielleicht finden par aus dem Süden dann auch wie in alten Zeiten Jobs in Deutschland und damit könnte die Geschichte wieder ihren gewohnten Verlauf weiter nehmen.
Es ist ja auch so, dass die realen Innovationen durch die Krise in Europa zurückgingen. Es muss der Motor wieder in Schwung kommen.
Ehrlich der € ist gegenüber dem US$, dem Yen, der schwedischen und dänischen Krone erstarkt.
Ich würde einen Mix aus bisschen "Drucken" und Lohnerhöhungen durchführen, weil ein zu starker €uro bremst wieder die deutschen Exporte in Übersee, aber rein "Drucken " stößt auf Unmut der Sparer und das kann man eben mit einer steigenden Binnennachfrage und mehr Jobs durch vorgezogene Infrastrukturmaßnahmen in Deutschland schaffen,