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Am Donnerstag treffen sich die Staats- und Regierungschefs zum letzten Europäischen Rat des Jahres. Es könnte ein historischer Moment werden. Um in einem gemeinsamen Kraftakt aus der Corona-Krise zu kommen, wurde im Juli das größte europäische Hilfspaket aller Zeiten beschlossen. Damit ging der epochale Schritt zu einer neuen Finanzarchitektur einher: Die Europäische Kommission soll an den Finanzmärkten eigenes Geld aufnehmen dürfen. Es ist ein Schritt hin zu finanzieller Autonomie und Souveränität der EU.
Autonomie, die die EU nutzen will, um die von der Krise am stärksten betroffenen Staaten massiv zu unterstützen. Eine kleine, aber laute Minderheit – die Regierungen aus Polen und Ungarn – droht nun offen damit, diese Entscheidung mit ihrem Veto zu verhindern; und dies aus rein innenpolitischen Machtinteressen. Sie wollen den Rechtsstaatsmechanismus verhindern, eine der zentralen Bedingungen für eine Zustimmung des EU-Parlaments. Die Staats- und Regierungschefs, und insbesondere das EU-Parlament, müssen in dieser Frage standhaft bleiben.
Denn worum geht es im Kern bei der Frage des Rechtsstaatsmechanismus? Es geht um die Frage, ob die EU eine Werte-Union ist. Die entschiedene Mehrheit der Mitgliedsstaaten beantwortet diese Frage mit „ja“ und will diesen Mechanismus einbauen, damit Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit zukünftig durch eine Kürzung von EU-Geldern bestraft werden können. Wir müssen uns jetzt entscheiden: Entweder wir bleiben eine solidarische Gemeinschaft, eine Union, die auf gemeinsamen Werten und Regeln beruht oder aber wir lassen uns erpressen von einer Minderheit aus zwei autoritären Regierungen, die daran kein Interesse hat.
Regierungen, die weiter die Rechte von Journalisten, Kritikerinnen, Aktivisten und Minderheiten sowie die Unabhängigkeit der Justiz in ihren Ländern einschränken wollen. Die Logik von Orbán, Morawiecki und Kaczyński lautet: „Geld von der EU, ja bitte; Rechtsstaatsprinzip, nein danke.“ Eine EU, die diese Logik akzeptiert, wird auf Dauer entkernt. Diesem Prozess dürfen wir nicht länger zusehen. Die Entwicklungen, die wir in Ungarn und Polen seit Jahren beobachten, sind besorgniserregend.
Rechtsstaatlichkeit ist von jeher ein Fundament der EU, welches Ungarn mit Eintritt in die EU akzeptiert hat.
Beispiel Ungarn: Seitdem Orbán 2010 ein zweites Mal an die Macht kam, hat Reporter ohne Grenzen Ungarn in der Liste der Pressefreiheit von Platz 23 auf 89 herabgestuft. Auch antisemitische Anfeindungen, wie gegen den jüdischen Unternehmer George Soros, haben zugenommen. Kürzlich wurde Manfred Weber, der eigene Vorsitzende der Parteienfamilie der Fidesz im europäischen Parlament, der Europäischen Volkspartei (EVP), mit der Gestapo verglichen.
Orbán unterstellt nun – auch mir persönlich –, dass die Europäerinnen und Europäer, aber insbesondere die Deutschen, sich bei der Frage der Rechtsstaatlichkeit in die nationale Souveränität Ungarns einmischen. Diese Behauptung ist völliger Unsinn. Rechtsstaatlichkeit ist von jeher ein Fundament der EU, welches Ungarn mit Eintritt in die EU akzeptiert hat. Erst 2009 haben alle Mitgliedsstaaten außerdem mit dem Vertrag von Lissabon auch der EU-Grundrechte-Charta zugestimmt. Was mit dem Rechtsstaatsmechanismus jetzt endlich durchgesetzt werden soll, ist die Einhaltung von Regeln, denen auch Ungarn und Polen explizit und vertraglich zugestimmt haben.
Mit dem existierenden Artikel 7-Verfahren (welches besagt, dass Staaten das Stimmrecht entzogen werden kann, wenn sie gegen die Grundwerte der EU verstoßen) gibt es übrigens schon ein Verfahren, das genau dieses Ziel verfolgt. Nur stecken wir hier seit Jahren in einer Sackgasse. Da für dieses Verfahren Einstimmigkeit nötig ist, blockieren Ungarn und Polen jegliche Entscheidung, indem sie sich gegenseitig decken.
Ich selbst fordere seit Jahren, dass wir ein effektiveres Instrument brauchen, das auch finanzielle Sanktionen über den EU-Haushalt beinhaltet. Sowohl Polen als auch Ungarn sind dringend auf EU-Gelder angewiesen. Wenn Orbán vor die Wahl gestellt wird: Rechtsstaatlichkeit als Bedingung für EU-Gelder, dann wird er die Bedingung akzeptieren. Denn von den EU-Geldern sind seine Regierung und sein ganzes Machtsystem absolut abhängig. Allein aus dem neuen Wiederaufbaufonds sind für Polen 23,1 Milliarden Euro und für Ungarn 6,2 Milliarden Euro vorgesehen.
Sowohl Polen als auch Ungarn sind dringend auf EU-Gelder angewiesen.
Wie geht es jetzt weiter? Natürlich ist es eine schwierige Situation für die EU. Insbesondere die südeuropäischen Länder sind darauf angewiesen, dass schnell Gelder fließen. Die Corona-Pandemie hat dramatische wirtschaftliche Schäden angerichtet, die wir auffangen müssen. Auch die Bundesrepublik muss ein Interesse daran haben, dass Länder wie Italien oder Spanien sich schnell erholen. Sie sind unsere Nachbarn, unsere Freunde. Und nicht zuletzt sind sie wichtige Mitglieder des Binnenmarktes, dem Hauptabsatzmarkt für unsere Produkte. Eine wirtschaftlich starke EU, die gut durch die Krise kommt, ist im zentralen Interesse Deutschlands.
Trotzdem dürfen wir jetzt nicht nachgeben. Selbst wenn Ungarn und Polen bei ihrem Veto bleiben sollten, gibt es viele alternative Wege, die Corona-Hilfen auf den Weg zu bringen. Zum Beispiel als Abkommen außerhalb der EU, zwischen den verbleibenden 25 Staaten oder durch ein ähnliches Finanzmodell wie bei SURE, dem europäischen Programm zur Finanzierung von Kurzarbeit. Selbst der EU-Haushalt, welcher normalerweise über sieben Jahre geht, würde bei einem Veto durch jährliche Nothaushalte ersetzt. Die EU-Kommission arbeitet derzeit an einem solchen Not-Szenario.
Das alles macht mir Hoffnung, dass Europa dieses Mal standhaft bleibt. Während die Staats- und Regierungschefs in der Vergangenheit oft im letzten Moment umgefallen sind, sieht es jetzt so aus, als ob das Europäische Parlament dies verhindern wird. Es hat klipp und klar gesagt, dass es keine Kompromisse beim Rechtstaatsmechanismus geben wird. Sogar die EVP, die Partei, zu der die ungarische Fidesz, aber auch die CDU und CSU gehören, stehen klar hinter dieser Entscheidung. Es gilt die Parole: keine faulen Kompromisse bei den Werten Europas.
Insbesondere die südeuropäischen Länder sind darauf angewiesen, dass schnell Gelder fließen.
Interessant ist auch, dass die Niederlande keinem Deal ohne Rechtsstaatsmechanismus zustimmen können, weil das niederländische Parlament im Sommer beschlossen hat, dass jegliches Hilfspaket an Rechtsstaatlichkeit geknüpft sein muss. Der niederländische Ministerpräsident Rutte kann ohne Rechtsstaatsmechanismus also gar nicht zustimmen.
Die Staats- und Regierungschefs sollten sich am Donnerstag der Tragweite ihres Handelns bewusst sein. Dieses Jahr war ein dramatisches für die Europäische Union. Gemeinsam als Europäerinnen und Europäer haben wir die schlimmsten sozialen und wirtschaftlichen Folgen abgemindert. Nationale Alleingänge und populistische Versuche, die Handlungsfähigkeit der EU zu schwächen und die Menschen zu spalten, waren nicht erfolgreich. Es hat sich gezeigt, dass wir in Krisenzeiten Solidarität und Gemeinschaft, aber auch starke Institutionen und staatlich abgesicherte Infrastruktur benötigen.
Erstmals haben die EU-Mitgliedsstaaten zusammen mit den EU-Institutionen eine gemeinsame Beschaffung medizinischer Ausrüstung und erst kürzlich eine EU-Impfstoffstrategie auf den Weg gebracht. Wir müssen diesen Impuls nutzen, um unsere Institutionen zu stärken, noch enger und koordinierter zusammenzuarbeiten und die europäische Integration voranzutreiben. Dazu gehört auch, das Prinzip der Einstimmigkeit stärker zu hinterfragen.
Wir können es uns nicht leisten, Entscheidungsprozesse zu verschleppen oder schlechte Kompromisse zu machen. Wir dürfen uns nicht erpressen und uns dieses Momentum von zwei ultrarechten Regierungen kaputtmachen lassen. Eine starke EU ist auf die Stärke des Rechts gebaut und muss dieses Recht auch mutig durchsetzen.