Die europäischen Fiskalregeln stünden in ihrer aktuellen Form den dringend notwendigen öffentlichen Investitionen im Wege, schrieben der französische Präsident Emmanuel Macron und der italienische Ministerpräsident Mario Draghi in einem gemeinsamen Op-Ed im Dezember. Investitionen dieser Art würden langfristig zur Tragfähigkeit öffentlicher Verschuldung führen, argumentierten die beiden. In ihrer derzeitigen Ausgestaltung garantieren die europäischen Fiskalregeln keine nachhaltigen Staatsfinanzen – und verfehlen damit ihren ursprünglichen Zweck.
Diese Erkenntnis ist nicht neu. Bereits im Nachgang zur Staatsschuldenkrise 2010 hat sich gezeigt, dass die Fiskalregeln die europäischen Mitgliedsstaaten weder vor Wirtschaftskrisen schützen noch die langfristige Erholung fördern. Vor allem führen sie nicht dazu, dass sich die Schuldenstände der Mitgliedsstaaten signifikant reduzieren. Daher wird das Ziel der Schuldentragfähigkeit – also dass ein Staat in der Lage ist, seine Schulden zu bedienen und nicht bankrottgeht – inzwischen vielmehr an die Forderung nach einer Regelreform geknüpft als an die Regeln selbst – unter anderem im Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung.
In ihrer derzeitigen Ausgestaltung garantieren die europäischen Fiskalregeln keine nachhaltigen Staatsfinanzen – und verfehlen damit ihren ursprünglichen Zweck.
Dass sie ihr ursprüngliches Ziel verfehlen, liegt an den Regeln selbst. Der präventive Arm des Stabilitäts- und Wachstumspakts (SWP) begrenzt das jährliche, konjunkturell bereinigte Defizit. Die Idee dahinter ist, dass er jedem Mitgliedsstaat eine antizyklische Wirtschaftspolitik ermöglichen soll. In Zeiten des konjunkturellen Aufschwungs soll gespart werden, um eine Überhitzung der Wirtschaft – und damit Inflation – zu verhindern. In Zeiten des Abschwungs sollen die EU-Länder dagegen mehr Schulden machen können, um die Wirtschaft mittels staatlicher Nachfrage anzukurbeln und so ihr volles Potenzial auszureizen. Ob das Potenzial der Wirtschaft – das sogenannte Produktionspotenzial – aber bereits ausgereizt wird oder ob noch Luft nach oben ist, kann nicht beobachtet, sondern muss geschätzt werden. Wie groß das zulässige Defizit ist, um das sich die Mitgliedsstaaten verschulden dürfen, hängt davon ab, wie weit das tatsächliche Bruttoinlandsprodukt (BIP) von dieser Schätzung abweicht.
Die Schätzung des Produktionspotenzials beruht auf unterschiedlichen Komponenten, unter anderem dem Arbeitspotenzial. Die Schätzung dieser Inputfaktoren basiert wiederum darauf, wie sie sich in der Vergangenheit verhalten haben. Haben zum Beispiel Frauen in der Vergangenheit weniger gearbeitet als Männer, nimmt man an, dass das in Zukunft genauso sein wird. Nehmen jetzt mehr Frauen Arbeit auf, schrumpft die Lücke zwischen BIP und Produktionspotenzial: die Zeichen stehen auf Überauslastung, der Staat muss sparen.
Das bedeutet in der Konsequenz, dass die Fiskalregeln wirtschaftliche Trends prozyklisch verstärken: Waren die letzten Jahre gut, liegt das Potenzial hoch, da es auf der Basis vergangener Werte berechnet wurde; der Staat darf die Wirtschaft ankurbeln. Waren die letzten Jahre schlecht, ist das Potenzial niedrig und die Höhe des zulässigen Defizits sinkt. Die prozyklische Verstärkung führt dazu, dass sich Länder wie Spanien eine Arbeitslosenquote von 12,5% (2022) leisten müssen, da bei diesem Stand angeblich das Potenzial der Wirtschaft ausgeschöpft ist. Abgesehen von den psychosozialen Folgen für die Betroffenen bedeutet das, dass dem Staat Steuereinnahmen und der Wirtschaft die Nachfrage nach Konsumgütern wegbrechen – wer nicht arbeitet, gibt normalerweise auch weniger Geld aus. Gleichzeitig steigen die Ausgaben für Sozialleistungen. Die Folgen für die öffentlichen Finanzen sind verheerend.
Die prozyklische Verstärkung führt dazu, dass sich Länder wie Spanien eine Arbeitslosenquote von 12,5% leisten müssen, da bei diesem Stand angeblich das Potenzial der Wirtschaft ausgeschöpft ist.
Nachhaltiger für die Staatshaushalte wäre es, wenn die Mitgliedsstaaten die Nachfrage über ein Defizit ankurbeln und an ihre Vollauslastung bringen könnten. Ein solcher Zustand würde bedeuten, dass alle Arbeitssuchenden auch Arbeit finden und ausreichend produktiv sein können, um den eigenen Lebensunterhalt zu bestreiten. Gute Löhne und eine niedrige Arbeitslosenquote würden die Steuereinnahmen erhöhen und die Sozialausgaben senken. Im Ergebnis würde man auf diese Weise trotz Defizit tragfähige Staatsfinanzen erzielen und den gesamtgesellschaftlichen Wohlstand sichern.
Welche Auswirkungen die Finanzpolitik auf den Arbeitsmarkt haben kann, zeigt ein Blick in die USA: Im internationalen Vergleich der staatlichen Corona-Rettungspakete belegen die USA – nicht zuletzt dank Bidens 1,9-Billionen-Dollar-Plan – die Spitzenposition. Während andere Länder sich vor allem auf die Unterstützung von Unternehmen konzentriert haben, haben die USA mittels Transferleistungen an ihre Bürgerinnen und Bürger die Nachfrage gestärkt. Dieses Vorgehen zahlt sich bereits heute aus: die Arbeitslosenquote sinkt, die Löhne steigen.
Während andere Länder sich vor allem auf die Unterstützung von Unternehmen konzentriert haben, haben die USA mittels Transferleistungen an ihre Bürgerinnen und Bürger die Nachfrage gestärkt.
Auch im Rahmen des Stabilitäts- und Wachstumspakts muss eine Finanzpolitik möglich werden, die nicht die Ziele der Arbeitsmarktpolitik – gute Beschäftigung und gute Löhne für so viele Menschen wie möglich – konterkariert. Die Schätzung des wirtschaftlichen Potenzials muss angepasst werden: Anstatt das Arbeitspotenzial mit der Beschäftigung in der Vergangenheit gleichzusetzen, sollte geschätzt werden, wann das Potenzial des Arbeitsmarkts tatsächlich ausgereizt ist und Vollauslastung herrscht – wenn also alle arbeiten, die können und wollen. Eine solche Modifikation würde in Europa für größere finanzielle Spielräume sorgen.
Unsere Wirtschaft war in den letzten Jahren bei Weitem nicht ausgelastet, was zum Teil immer noch eine Folge der Schuldenkrise ist. Simulationen zeigen, dass diese Anpassung der Potenzialschätzung für Deutschland ein mögliches Defizit von insgesamt etwa 70 bis 90 Milliarden Euro zwischen 2023 und 2025 zulassen würde. Hinzu kommt, dass man dadurch der ursprünglichen Idee der Fiskalregeln und den Zielen der Europäischen Union, wie zum Beispiel der Vollbeschäftigung, sehr viel gerechter würde. Ein erster, aber wichtiger Schritt auf dem Weg zu nachhaltigen Staatsfinanzen in Europa.