Die "Griechenlandtragödie" im Rahmen der Eurokrise zeigt auch das Versagen der deutschen Politik. Die politische Einigung auf das dritte griechische Hilfsprogramm in letzter Minute darf nicht als Bestätigung der Austeritätspolitik gesehen werden. Zur Sicherung der langfristigen deutschen Interessen ist eine Rückbesinnung auf die Ziele der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion (EWWU) notwendig. Dies erfordert einen Politikwechsel.

Für viele Beobachter außerhalb der Europäischen Union ist es kaum verständlich, dass die wirtschaftlichen Probleme eines kleinen Landes, welches nur 1,2 Prozent der gemeinsamen Wirtschaftsleistung repräsentiert, die europäische Politik seit Monaten in Atem hält.

Im Kern geht es um die Frage, welche Interpretation der Wirtschafts- und Währungsunion sich durchsetzt. Bleibt es bei  der  Betonung der nationalen Verantwortung auch für die ökonomischen Sachverhalte, die sich in der EWWU der nationalen Kontrolle entzogen haben oder wird eine europäische Mitverantwortung und Solidarität akzeptiert, die über rückzahlbare Kredite hinausgeht.

Die EWWU ist das Kernstück, des bisherigen wirtschaftlichen und politischen Integrationsprozesses. Sie ist ein politisches Projekt zur Stärkung des Zusammenhaltes und zur Sicherung der europäischen Position im internationalen Wettbewerb. Die Lösung der Eurokrise ist der Gradmesser dafür, ob es den europäischen Staaten gelingt, sich gemeinsam  dem internationalen Wettbewerb zu stellen und die Möglichkeiten des Euro als der zweitgrößten internationale Reservewährung, zu nutzen.

 

Die EWWU hat drei wirtschaftliche und politische Gründungsmotive:

1) Die Erfahrungen der destabilisierenden Wechselkursschwankungen  während der 1970er Jahre. Der Wechselkurs des Dollars zur DM schwankte in diesen Jahren zwischen 1,68 bis 4,20. Die Einführung des europäischen Währungssystems 1979 auf Initiative von Helmut Schmidt und Giscard d’ Estaing beendete diese Währungsspekulationen. Die Äußerung des amerikanischen Finanzministers John Bowden Connally  „der Dollar ist unsere Währung, aber euer Problem“  wurde beantwortet, durch ein System fester, aber anpassungsfähiger Wechselkurse mit Beistandsverpflichtung.

2) In der Mitte der 1980er Jahre hat der damalige Kommissionspräsidenten Jaques Delors  die Binnenmarkt-Initiative vorgelegt. Deren sukzessive Umsetzung führte Europa aus einer mehrjährigen wirtschaftlichen und politischen Stagnation. In der Schaffung des Binnenmarktes ist bereits eine Währungsunion angelegt.  Durch eine gemeinsame Währung werden Wechselkursrisiken und höhere Transaktionskosten im Binnenmarkt beseitigt, grenzüberschreitende Zusammenarbeit erleichtert und  damit wirtschaftliche Entwicklung  und Beschäftigung gefördert. Delors hat die Schaffung des Binnenmarktes mit  Solidarität verbunden. Die Strukturfonds wurden mit der Einführung des Binnenmarktes stark erhöht. Im Rat wurde die Mehrheitsentscheidung auf wesentliche Elemente der europäischen Politik ausgeweitet und dafür die Mitentscheidung  des Europäischen Parlaments beschlossen. Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit durch mehr Markt und gemeinsame solidarische europäische Politik war die Richtung.

3) Die deutsche Wiedervereinigung gab Anfang der 1990er Jahre den politischen Rahmen, um die schon lange geforderte und diskutierte Währungsunion umzusetzen. Die Widerstände gegen die Wiedervereinigung in einem Teil der europäischen Öffentlichkeit konnten durch eine Vertiefung der europäischen Integration überwunden werden. Diese Lösung wurde von Kommissionspräsidenten Delors, Bundeskanzler Kohl und Präsident Mitterand vorgeschlagen und fand am Ende breite Unterstützung. Der Euro war die politische Antwort auf die weit verbreitete Befürchtung, dass ein wiedervereinigtes Deutschland die Nachkriegsordnung und die europäische Integration destabilisieren könnte. Die Aufgabe der nationalen Währung und die damit verbundene Souveränitätsübertragung auf die europäische Ebene sollten eine gemeinsame europäische Politik auch für die Zukunft sichern.

 

Verkürzte Interpretation des EU-Vertrages

Die politische Logik einer Stärkung des Marktes durch die Währungsunion bei gleichzeitiger Unterstützung der Verlierer des verstärkten Wettbewerbs, fand auch seinen Niederschlag in der letzten EU -Vertragsänderung. Artikel 3 des EU-Vertrages fasst die Ziele folgendermaßen zusammen:

"Errichtung eines Binnenmarktes mit einer wettbewerbsfähigen sozialen Marktwirtschaft die auf Vollbeschäftigung und sozialen Fortschritt abzielt. -> Förderung des wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhaltes und der Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten. -> Errichtung einer Wirtschafts- und Währungsunion mit dem Euro als  Währung."

Die rot-grüne Bundesregierung hatte bei den Verhandlungen des EU-Verfassungsvertrages, der als Vorlage für den Vertrag von Lissabon diente, einer Stärkung des Solidaritätsgedankens noch ausdrücklich zugestimmt. Außenminister Fischer hatte die Aufnahme der Förderung des territorialen Zusammenhaltes als zusätzliches Vertragsziel im EU-Verfassungsvertrag befürwortet.

In den Folgejahren wurde die deutsche Interpretation der EWWU allerdings zunehmend verkürzt auf die „No-bail-out-Klausel“ in Artikel 125 AEUV, die eine Haftung für Staatsschulden der Partnerländer ausschließt.

 

Die ersten zehn Jahre der EWWU waren ein Erfolg

Die ersten Jahre der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion mit der Einführung des Euro am 1. Januar 1999 sind sehr erfolgreich verlaufen. Zum Erstaunen deutscher Nationalökonomen gab es deutliche Fortschritte beim Zusammenhalt der Europäischen Union. Kapitalmarktzinsen zwischen den Mitgliedstaaten glichen sich an. Die weniger entwickelten Mitgliedstaaten im Süden Europas erlebten einen andauernden Wirtschaftsaufschwung mit überdurchschnittlichen Wachstumsraten. Die regionalen Unterschiede in Europa nahmen ab. Nationale Bankenstrukturen begannen sich zu öffnen. Ein europäischer Kapital- und Finanzmarkt als logische Ergänzung eines europäischen Binnenmarktes  begann sich schrittweise zu entwickeln.

Auch der Bundesrepublik gelang es, die wiedervereinigungsbedingte Wettbewerbsschwäche der Anfangsjahre zu überwinden. Dies erfolgte durch eine behutsame Reformpolitik, die den Aufbau Ost mit hohen staatlichen Transfers absicherte und sich nicht scheute, dafür auch die 3 Prozent Vorgabe des Stabilitäts- und Wachstumspakt für das  gesamtstaatliche Defizit zu überschreiten. Die Eurozone dehnte sich kontinuierlich von ursprünglich 11 auf 19 Mitgliedstaaten aus.

 

Die internationale Finanzkrise erfordert eine Weiterentwicklung der EWWU

Die internationale Wirtschafts- und Finanzkrise, die 2007 in den USA begann, wirkte sich sehr unterschiedlich auf die einzelnen Mitgliedstaaten der EU aus. Dieser  externe Schock hat das harmonische Bild erschüttert. Aus einer Finanzkrise in den USA, die durch unseriöse Immobilienfinanzierungen ausgelöst und über komplizierte Finanzprodukte internationalisiert wurde, entwickelte sich in Europa eine Banken- und Wirtschaftskrise, welche in der letzten Stufe zu einer Staatsschuldenkrise mutierte.

In den ersten Jahren der EWWU haben die Finanzmärkte durch ein fast einheitliches Zinsniveau entscheidend zum Zusammenhalt der Euro-Zone beigetragen. In der Finanzkrise waren dagegen überschießende und spekulative Kapitalbewegungen die Ursache für krisenhafte Zuspitzungen.  Noch 2008 gab es keine größeren Unterschiede im Zinsniveau von zehnjährigen griechischen und deutschen Staatsanleihen. 2010 musste für griechische Staatsanleihen bereits ein zehnfach höherer Zinssatz bezahlt werden, der 2011 bis auf das zwanzigfache der deutschen Zinsen stieg.

Die Wirtschafts- und Währungsunion mit freiem Kapitalverkehr machte Deutschland zum Krisengewinner. Verunsichert durch die Debatte über die Zukunft der Währungsunion suchten Anleger einen sicheren Hafen. Deutsche Ökonomen und Politiker die wieder begannen die Währungsunion in Frage zu stellen und den Ausschluss von Krisenländern forderten trugen zu dieser Verunsicherung bei. Das Geld floss von der Peripherie der EU ins Zentrum. Griechenland allein hatte eine Kapitalflucht von 80 Milliarden Euro.  Die Anleger waren sogar bereit, Bundesanleihen für negative Realzinsen zu kaufen und somit dem deutschen Finanzminister "Geld zu schenken".

Auch deutsche Unternehmen verbesserten durch günstigere Finanzierungsbedingungen ihre Wettbewerbsposition gegenüber europäischen Konkurrenten. Die krisenbedingte Schwächung des Euro führte darüber hinaus zu verbesserten Exportchancen außerhalb der Euro-Zone. In den peripheren Krisenländern hörte der Kapitalmarkt dagegen auf normal zu funktionieren. Die Europäische Zentralbank musste für die erforderliche Liquidität sorgen.

Die Antwort der Euro-Staaten auf die internationale Finanzkrise war eine asymmetrische Strategie. Als die Wirtschaft und die Banken zu Beginn der internationalen Finanzkrise in eine Abwärtsspirale gerieten, wurde dies als ein gemeinsames europäisches Problem angesehen. Die EU beschloss daher 2008 ein Anreizprogramm mit 200 Milliarden Euro, welches Mitgliedstaaten zu zusätzlichen Ausgaben und Steuersenkungen animierte. Auch die Einhaltung der Defizitgrenzen des Stabilitäts- und Wachstumspakt wurde vorübergehend ausgesetzt.

Als später einige vorwiegend kleinere Euro-Mitgliedstaaten in den Blick der internationalen Finanzmärkte gerieten und Refinanzierungsprobleme der Staatshaushalte bekamen, wurde festgelegt, dass die Verantwortung dafür national ist und durch Kürzungen der Staatshaushalte und Strukturreformen zu beantworten ist.  Es wurde zwar ein neuer Beistandsmechanismus (ESM) als internationale Finanzinstitution geschaffen, der allerdings nur zum Ziel hat rückzahlbare Kredite zu gewähren.  Die Entscheidung über Finanzhilfen erfolgt im Gouverneursrat des ESM durch die Finanzminister der 19 Euro-Staaten.

Der bisherige intergouvernemental organisierte Beistandsmechanismus erlaubt es nicht eine Vereinbarung zu erzielen, welche das gemeinsame Interesse der Euro-Zone im Blick hat. Das Wachstumspotential der Euro-Zone insgesamt zu stärken und die internationale Rolle des Euro als Anlagewährung auszubauen, stehen leider nicht auf der Tagesordnung der Verhandlungen. Jeder Finanzminister orientiert sich an seiner nationalen Diskussion und die EU-Institutionen können nicht mitstimmen um eine Gesamtsicht einzubringen.  Europa ist nicht mehr ein politisches Projekt, sondern bei der ausschließlichen nationalen Interessensvertretung angekommen.

 

Wie sollte es nun weiter gehen?

Auf den ersten Blick könnte die Einigung auf das dritte griechische Hilfsprogramm als Bestätigung für die bisherige Euro-Krisen-Politik gesehen werden. Kredite für Griechenland im Umfang von bis zu 86 Milliarden Euro wurden vereinbart, unter der Bedingung der Umsetzung eines strengen ökonomischen Anpassungs- und Austeritätsprogramms. Für einen Schuldenerlass gab es (noch) keine Zustimmung. Diese Einigung hat damit die Interpretation des deutschen Finanzministers erst einmal bestätigt, dass eine Staatsschuldenkrise, auch in der EWWU, eine rein nationale Verantwortung ist.

Die Konflikte zum dritten griechischen Hilfsprogramm und die mühsam erzielte Einigung zeigen allerdings, dass dieser Beistandsmechanismus für die Stabilität der Wirtschafts- und Währungsunion nicht ausreicht. Viele einschließlich des IWF zweifeln, ob Griechenland die bisherigen Kredite von 320 Milliarden Euro durch weitere Sparmaßnahmen, Privatisierungseinnahmen und Strukturreformen in Zukunft wirklich zurückzahlen kann. Außerdem gibt es zunehmend Kritik an den sozialen Folgen dieser Politik. Entspricht dies noch dem europäischen Gesellschaftsmodell und der sozialen Marktwirtschaft, welche die Grundlage des EU-Vertrages ist?

Es gibt einen systematischen Widerspruch zwischen einer Wirtschafts- und Währungsunion, die das Ziel hat nationale Grenzen für wichtige wirtschaftliche und gesellschaftliche Aktivitäten zu beseitigen und Europa als Ganzes zu bauen und der Festschreibung nationaler Verantwortung. Wenn Staaten ihre Eingriffsmöglichkeiten durch Souveränitätsübertragung auf die europäische Ebene verlieren, dann muss auch ihre Verantwortung angepasst werden.

Außer der EWWU existiert keine Wirtschafts- und Währungsunion, die nicht substantielle Transfers zwischen den einzelnen Teilen vorsieht. Ob durch zentralstaatliche Programme im Rahmen der Sozialpolitik, durch Infrastrukturmaßnahmen, ob durch Finanzausgleich oder durch einen Steuerverbund. In der EU sind die europäischen Strukturfonds, als einzig verfügbares Instrument gemeinschaftlicher Solidarität,  mit einem Umfang von 0,3 Prozent des BIP nicht ausreichend.

Wie bescheiden dieses europäische Solidaritätsinstrument ist, zeigt sich im Vergleich zu dem Beitrag den Staaten für die internationale Solidarität aufwenden. Für Entwicklungshilfe geben etwa Schweden 1,1 Prozent, Großbritannien 0,7 Prozent  und die Bundesrepublik immerhin noch 0,4 Prozent  des BIP aus.

 

Eine deutsch-französische Initiative zur Weiterentwicklung der EWWU

Für die Weiterentwicklung der EWWU ist es unvermeidlich zusätzliche Finanzinstrumente aufzubauen. Erste Vorschläge liegen durch den Bericht der fünf Präsidenten der EU-Institutionen zur Weiterentwicklung der EWWU auf dem Tisch. Auch der französische Präsident Francois Holland hat im Anschluss an die Einigung über das dritte griechische Hilfsprogramm Vorschläge vorgelegt.  Sie beinhalten eine Wirtschaftsregierung, eine parlamentarische Kontrolle und einen eigenen Haushalt der Euro-Zone.

Die Bundesregierung sollte bei den anstehenden Beratungen zur Weiterentwicklung der Wirtschafts- und Währungsunion ihre Position ändern und die Vorschläge von Francois Holland, als Basis für eine gemeinsame deutsch-französische Initiative aufgreifen. Auch bei der Umsetzung des dritten griechischen Hilfsprogramms und notwendigen Verhandlungen über die griechische Schuldentragfähigkeit sollte die Position des Hardliners aufgegeben werden. Für die deutsche Wirtschaft, welche einen strukturellen Leistungsbilanzüberschuss gegenüber den  europäischen Partnern aufweist, ist die europäische Unterstützung von wirtschaftlich schwächeren Ländern und Regionen von besonderem Interesse. Das exportorientierte deutsche Wirtschaftsmodell lässt sich nur in einer langfristig stabilisierten EWWU weiter führen. Dafür ist ein zusätzliches Finanzinstrument notwendig, welches in Schwierigkeit geratene Euro-Staaten nicht nur Kredite gewährt, sondern begrenzte, an wirtschaftspolitische Bedingungen gebundene, Finanztransfers ermöglicht.