In Brüssel wird derzeit auf Hochtouren an einer Reform der wirtschaftspolitischen Steuerung gearbeitet. Im November vergangenen Jahres hat die EU-Kommission erste Reformvorschläge skizziert, konkrete Gesetzesinitiativen sollen im ersten Halbjahr 2023 folgen. Was wie ein Thema für Insider klingt, hat es aber in sich. Es geht darum, die Stellschrauben für die Finanzpolitik der Mitgliedstaaten neu zu justieren.
Ein zentraler Aspekt ist dabei die Stärkung öffentlicher Investitionen. Je nachdem, wie die Details der Reform ausfallen, werden die Mitgliedstaaten in den nächsten Jahren mehr oder weniger Spielraum haben, um mit öffentlichen Investitionen die sozial-ökologische Transformation zu finanzieren. Hier gehen die Reformvorschläge nicht so weit, wie Gewerkschaften und andere zivilgesellschaftliche Organisationen es sich gewünscht hätten. Eine goldene Regel für öffentliche Investitionen, wonach Nettoinvestitionen durch Kreditaufnahme finanziert werden können, ist nicht Bestandteil des Reformvorschlags. Dennoch beinhalten die Vorschläge der Kommission wichtige Neuerungen im Bereich der Investitionspolitik. Ob diese ausreichen, um die immense Investitionslücke zu schließen, hängt von vielen Details ab. Unter anderem auch davon, ob die Vorschläge von weiteren, auch industriepolitischen Maßnahmen flankiert werden.
Eine erneute Währungskrise ist nicht ausgeschlossen.
Aus gewerkschaftlicher Perspektive ist im anstehenden Reformprozess ein weiterer Aspekt zentral: Im Kontext der COVID-19-Pandemie und der Energiekrise sind die Schuldenstände in vielen Mitgliedstaaten deutlich gestiegen. Das heißt, der Konsolidierungsdruck auf die Haushalte der Mitgliedstaaten wird in den nächsten Jahren deutlich zunehmen. Währenddessen hat die Europäische Zentralbank in den letzten Monaten eine historisch einmalige geldpolitische Straffung vollzogen und das Ende der Fahnenstange scheint noch lange nicht erreicht zu sein. Dabei haben sich die Refinanzierungskosten der Mitgliedstaaten schon jetzt deutlich erhöht. Hinzu kommt, dass die Inflationsraten im Euroraum insbesondere zwischen Ost- und Westeuropa zunehmend auseinanderdriften, was das Funktionieren der einheitlichen Geldpolitik erschweren könnte. Die Situation in der Währungsunion ist also mehr als angespannt und eine erneute Währungskrise ist nicht ausgeschlossen.
Viele erinnern sich noch genau an die letzte Eurozonenkrise und die darauffolgende Sparpolitik, die durch die sogenannten Troika aus EU-Kommission, Europäischer Zentralbank und dem IWF verordnet wurde. Für die Gewerkschaften ist klar: Nie mehr sollte eine technokratische Institution wie die Troika die Mitgliedstaaten unter Druck setzen, um Rentenkürzungen, Lohneinsparungen im öffentlichen Dienst und eine Schwächung der Tarifbindung umzusetzen. Eine Reform der EU Economic Governance muss deshalb so ausgestaltet werden, dass dieses Mal eine rigide Sparpolitik effektiv ausgeschlossen ist.
Die von der Troika verordnete Sparpolitik hatte fatale soziale Folgen.
Natürlich muss es in einer Währungsunion Regeln geben, die sicherstellen, dass die Mitgliedstaaten der Währungsunion eine tragfähige Haushaltspolitik verfolgen. Nach der Finanzkrise wurde der Bogen aber deutlich überspannt. Die von der Troika verordnete Sparpolitik hatte fatale soziale Folgen. Gleichzeitig wurde das Ziel der Haushaltskonsolidierung nicht erreicht, weil die Strukturreformen auch das wirtschaftliche Wachstum dämpften. Wissenschaftliche Studien belegen mittlerweile, dass das Euro-Regime – also die Institutionen und Regeln der Währungsunion – einen enormen makroökonomischen Anpassungsdruck ausgeübt hat, der zu Lasten der Beschäftigten ging. Das galt nicht nur für die sogenannten Programmländer, die Finanzhilfen aus dem Europäischen Stabilitätsmechanimus bekamen, sondern auch für viele Kernländer der Währungsunion.
Kann das von der EU-Kommission vorgeschlagene Regelwerk verhindern, dass es zu einer Austeritätspolitik 2.0 kommt und Strukturreformen forciert werden, die einseitig auf eine Stärkung der preislichen Wettbewerbsfähigkeit setzen, welche vor allem darauf abzielt, Löhne und soziale Rechte zu schwächen? Die Antwort darauf fällt gemischt aus. Fakt ist, dass die EU-Kommission eine leichte Abkehr von einer regelbasierten Fiskalpolitik vorschlägt. Das heißt: Politische Verhandlungen zwischen den Mitgliedstaaten und der EU-Kommission sollen ins Zentrum der wirtschaftspolitischen Koordinierung rücken. Der Schuldenabbaupfad soll nicht mehr „mechanisch“ auf der Basis makroökonomischer Eckwerte ermittelt, sondern in einem Aushandlungsprozess mit den Mitgliedstaaten vereinbart werden.
Würden die Reformen so umgesetzt, wie von der Kommission vorgeschlagen, käme das einem Freibrief für die EU-Kommission gleich.
Das bedeutet auch, dass der Ermessensspielraum der EU-Kommission in der EU-Fiskalpolitik deutlich steigt. Würden die Reformen so umgesetzt, wie von der Kommission vorgeschlagen, käme das einem Freibrief für die EU-Kommission gleich. Damit hätte sie die Befugnisse, den Mitgliedstaaten eine Haushaltspolitik nach ihrem eigenen Gusto zu verordnen. Denn die Kommission definiert die Parameter der Schuldentragfähigkeitsanalyse und formuliert im Wesentlichen die länderspezifischen Empfehlungen, welche die Mitgliedstaaten umsetzen müssen, um eine Verlängerung des Schuldenabbaus gestattet zu bekommen. Außerdem führt sie die Verhandlungen mit den Mitgliedstaaten über die Vier-Jahres-Pläne, in denen Ausgabenpfade, Strukturreformen und Investitionsvorhaben fixiert und nur in Ausnahmefällen verändert werden. Können sich die EU-Kommission und die Mitgliedstaaten nicht einigen, soll automatisch die von der EU-Kommission definierte Ausgabenobergrenze gelten.
Welche konkreten Politikinhalte daraus folgen, ist offen. Einerseits kann der Fokus auf politische Verhandlungen eine Chance darstellen. Eine solche Vorgehensweise könnte eine stärkere Differenzierung der fiskalpolitischen Vorgaben zur Folge haben. Länderspezifische Herausforderungen könnten beim Schuldenabbau stärker berücksichtigt werden. Richtig umgesetzt könnte so mit den Mitgliedstaaten ein behutsamer Schuldenabbau vereinbart werden, der mehr Spielraum zur Finanzierung öffentlicher Investitionen lässt und Wachstumsimpulse setzt. Damit könnten die Kommissionvorschläge ein Türöffner für eine flexiblere Anwendung der Regeln sein. Es ist genau dieses Szenario, dass das Bundesfinanzministerium offensichtlich fürchtet, wenn es unterstreicht, dass Fiskalregeln nicht zur Verhandlungssache werden dürfen.
Andererseits ist auch ein umgekehrtes Szenario denkbar: Man stelle sich vor, die makroökonomischen Bedingungen verschlechtern sich weiter zum Nachteil der hochverschuldeten Mitgliedstaaten. Die Finanzierungsbedingungen trüben sich ein und Spekulanten fangen an, auf den Staatsbankrott Italiens zu wetten. Die EU-Kommission stünde gewaltig unter Druck, die Mitgliedstaaten dazu zu bringen, ihre Sparanstrengungen zu erhöhen. Oder: Die politischen Mehrheitsverhältnisse innerhalb der EU-Kommission ändern sich und neoliberale Hardliner definieren die länderspezifischen Empfehlungen und säßen am Verhandlungstisch. Nichts kann die EU-Kommission daran hindern, wieder eine rigide Sparpolitik in den Mitgliedstaaten zu forcieren, und anders als vor zehn Jahren hat sie jetzt eine ganze Reihe an Sanktionsmöglichkeiten, um die Umsetzung ihrer Politikempfehlungen durchzusetzen. Sie kann den Mitgliedstaaten mit dem Entzug von Strukturfondsmitteln und Geldern aus der Aufbau- und Resilienzfazilität drohen und finanzielle Strafen verhängen. Jetzt sollen auch noch weitere Sanktionen dazukommen, die darauf abzielen, die Reputation des betreffenden Mitgliedstaates zu treffen.
Die Fiskalpolitik ist keine technische Angelegenheit, die man an Experten delegieren kann.
Das Problem der Reformagenda der EU-Kommission besteht aus Sicht der Gewerkschaften nicht darin, dass die EU-Fiskalpolitik stärker zur Verhandlungssache wird, sondern darin, dass sie in einer politischen Arena verhandelt wird, die sich jeglicher demokratischer Kontrolle entzieht. Mit anderen Worten: Es ist gut, wenn die zukünftige europäische Fiskalpolitik stärker von politischen Aushandlungsprozessen geprägt ist und weniger von einer mechanischen Regelanwendung. Die Fiskalpolitik ist keine technische Angelegenheit, die man an Experten delegieren kann. Wie Mark Dawson und Adina Marikut-Akbik unterstreichen, wendet die EU-Kommission in diesem Bereich bislang Methoden an, welche eher dem Selbstverständnis einer unabhängigen Regulierungsbehörde entsprechen, die über technische Sachverhalte zu befinden hat. Diese Steuerungsmechanismen passen nicht zu den hochpolitischen Inhalten, die im Rahmen der wirtschaftspolitischen Koordinierung verhandelt werden. Der technokratische Charakter der politischen Steuerung hat unter anderem auch dazu beigetragen, dass die EU-Vorgaben im Bereich der Fiskalpolitik in den Mitgliedstaaten häufig als „von Brüssel auferlegt“ wahrgenommen und nicht effektiv umgesetzt wurden.
Mehr politische Verhandlungen sind also der richtige Weg, diese müssen aber demokratisch eingebettet werden. Der Deutsche Gewerkschaftsbund fordert deshalb in einer aktuellen Stellungnahme, dass bei den anstehenden Reformen auch die politischen Steuerungsmechanismen der EU Economic Governance auf den Prüfstand kommen. Die anstehende Reform muss begleitet werden von einer umfassenden Demokratisierung.
Der DGB fordert unter anderem, dass erstens der Gesetzesvorschlag, den die EU-Kommission voraussichtlich in der ersten Jahreshälfte 2023 vorlegen wird, in einem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren unter Beteiligung des EU-Parlaments verabschiedet wird. Zweitens müssen im zukünftigen Gesetzestext Mindeststandards der parlamentarischen Einbindung bei der Erstellung der Vier-Jahres-Pläne definiert werden. Auch eine effektive Einbindung der Sozialpartner und anderer zivilgesellschaftlicher Organisationen muss sichergestellt werden. Drittens muss die Rolle des Europäischen Parlaments im Europäischen Semester für die Koordinierung der Wirtschaftspolitik aufgewertet werden. Unter Einbeziehung des Europäischen Parlaments sollten Prozesse installiert werden, die sicherstellen, dass die Reformempfehlungen der EU-Kommission nicht gegen grundlegende Politikziele der EU wie den Green Deal oder die Europäische Säule sozialer Rechte verstoßen. Viertens muss eine Änderung der Vier-Jahres-Pläne bei einem Regierungswechsel oder einer Veränderung der makroökonomischen Bedingungen problemlos möglich sein. Auch eine Erhöhung der Staatsausgaben muss bei einer entsprechenden steuerlichen Gegenfinanzierung unkompliziert möglich sein, ohne den gesamten Prozess neu aufrollen zu müssen. Und fünftens müssen die Details der Schuldentragfähigkeitsanalyse in einem transparenten und demokratischen Verfahren bestimmt werden.
Eine stärkere Demokratisierung und Politisierung der europäischen Fiskalpolitik würde auch gewerkschaftliche Machtressourcen stärken.
Im Ergebnis würde eine stärkere Demokratisierung und Politisierung der europäischen Fiskalpolitik auch gewerkschaftliche Machtressourcen stärken. Wenn Politikentscheidungen nicht auf der Basis vermeintlich objektiver Daten von Experten getroffen werden, sondern im politischen Raum darüber verhandelt und gestritten wird, können wir unsere etablierten Netzwerke und Einflusskanäle nutzen, um unseren politischen Forderungen Gehör zu verschaffen.
Gleichwohl ist klar, dass eine Demokratisierung nicht alle Probleme der Währungsunion lösen wird. Es bleibt das Problem, dass Mitgliedstaaten der Währungsunion dem Druck der Märkte im besonderen Maße ausgesetzt sind, weil es so etwas wie einen Kreditgeber der letzten Instanz nicht gibt. Dieses strukturelle Problem ließe sich nur lösen, wenn man Eurobonds einführt – eine Maßnahme, für die sich der DGB seit langem einsetzt. Und natürlich ist eine Demokratisierung keine Garantie für eine bessere soziale Balance bei den Politikempfehlungen der EU-Kommission. Aber die Stärkung der demokratischen Kontrolle kann zumindest dazu führen, dass technokratische Fehlentscheidungen in der Öffentlichkeit stärker in Frage gestellt und kritisiert werden. Die Kontrolle über die Staatsfinanzen gehört zum Königsrecht der Parlamente. Auf europäischer Ebene muss dieser Grundsatz endlich umgesetzt werden.