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Die italienische Regierung hat sich entschieden, auf 39 Milliarden Euro Unterstützung aus dem ESM zu verzichten. Diese Entscheidung ist der Gipfel des Konflikts um Corona-Bonds, der seit Wochen öffentlich ausgetragen wurde. Die meisten Eurostaaten wollen diese Bonds; eine kleine Gruppe von Staaten, angeführt von den Niederlanden und leider auch Deutschland, will sie nicht. Die deutsche Position bringt – zumindest was die sozialdemokratische Seite der Regierung angeht – praktische Gründe vor. Sie verweist darauf, dass bestehende Instrumente wie der ESM schneller helfen können als Corona-Bonds, die erst noch ins Leben gerufen werden müssten. Die Ablehnung der Niederländer dagegen ist dogmatisch und ideologisch. Die Fronten sind verhärtet.

Trotz dieser schwierigen Lage hatten sich die europäischen Finanzminister auf ein historisches Rettungspaket einigen können: Insgesamt 500 Milliarden Euro sollen mobilisiert werden, aufgeteilt auf ein Programm für Kurzarbeit, Kredite für Unternehmen über die Europäische Investitionsbank und Kredite für Staaten über den Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM). Dazu kommt ein Notfallprogramm der EZB über 750 Milliarden Euro. Dieser Kompromiss ist ein wahrer gemeinsamer Kraftakt, der sofort und – ganz wichtig – nahezu bedingungslos hilft. Insbesondere die gemeinsame Entscheidung, über den ESM Kredite ohne Bedingungen zu vergeben, kommt Ländern wie Italien entgegen. Ich habe diese Lösung deshalb sehr begrüßt.

Nun wird deutlich, dass dies aber nicht reicht. Die Alleingänge bei den Grenzschließungen, die Export-Stopps von Mundschutzmasken und das zu lange Zögern, auch jenseits der eigenen Landesgrenze Unterstützung zu leisten: Das sind die Eindrücke, die nachhaltig in den Köpfen der Menschen wirken. Hetzer wie Salvini nutzen dies genüsslich aus. Sie erzählen die Geschichte von einem unsolidarischen Europa, das dem krisengebeutelten Italien nun auch noch die Troika in Form des ESM auf den Hals hetzen will. Erinnerungen an die Finanzkrisen 2008/09 und 2011/12 werden instrumentalisiert.

Es ist ein gefährliches Spiel. Die Formel lautet: Gibt es Corona-Bonds, ist Europa jetzt endlich solidarisch. Gibt es sie nicht, ist Europa unsolidarisch. Wir brauchen aber jetzt in dieser dramatischen Lage keine Symboldebatten.

Als damals Länder wie Portugal, Italien, Irland, Griechenland und Spanien hart getroffen waren, wurde in Europa die Debatte darüber geführt, ob man Ländern, die so schlecht mit ihren Finanzen umgingen, überhaupt helfen solle. Die Lösung bestand aus Hilfe einerseits und teilweise drakonischen Bedingungen andererseits. Die von der Troika geforderten Einschnitte im Renten-, Sozial-, und auch Gesundheitssystem sind nicht vergessen. Nun wird die Hilfe durch den ESM mit der Troika gleichgesetzt. Im Gegenzug wird die Bedeutung von Corona-Bonds moralisch auf die Spitze getrieben. Es ist ein gefährliches Spiel. Die Formel lautet: Gibt es Corona-Bonds, ist Europa jetzt endlich solidarisch. Gibt es sie nicht, ist Europa unsolidarisch. Wir brauchen aber jetzt in dieser dramatischen Lage keine Symboldebatten um ein bestimmtes Finanzinstrument. Wir brauchen die Solidarität der Tat, die den Menschen in Not direkt hilft. 

Ich selbst habe schon vor zehn Jahren für Eurobonds geworben. Corona-Bonds sind im Gegensatz zu Euro-Bonds beschränkt auf einen begrenzten Zeitraum und explizit zur Corona-Krisenbekämpfung gedacht. Beide Instrumente halte ich für richtig. Euro-Bonds ermöglichen einen gemeinsamen Schutz der Eurostaaten gegen Spekulanten auf den Finanzmärkten. Sie komplettieren den Währungsraum des Euro, der heute unvollendet ist. Sie garantieren allen Staaten Finanzierungsmöglichkeiten zu gleichermaßen planbaren Bedingungen.

Und wenn Euro-Bonds grundsätzlich richtig sind, dann sind Corona-Bonds in der aktuellen Lage notwendig. Wir erleben gerade eine Gesundheitskrise, die zu einer Wirtschaftskrise führt. Dass es ausgerechnet Italien und auch Spanien am schwersten erwischt, Länder, die sich noch von der letzten Krise erholen, ist besonders tragisch. In einer solchen Situation brauchen unsere Partner Unterstützung. Dies ist kein bloßer Akt der Nächstenliebe, sondern wirtschaftliche Vernunft. Die europäischen Staaten, insbesondere die der Euro-Zone, sind untrennbar miteinander verbunden. Kippt ein Land wie Italien, ein G7-Staat, dann sind die wirtschaftlichen Konsequenzen, auch für Deutschland, verheerend.  

In der gemeinsamen europäischen Politik darf es nicht nur um Wettbewerbsfähigkeit gehen.

Trotzdem wird es aufgrund der unversöhnlichen Konfliktlinie in Europa kurzfristig keine Corona- oder Euro-Bonds geben. Mit dieser Situation müssen wir umgehen. Es bedarf unmittelbarer Antworten, um den südeuropäischen Staaten zu helfen, und deswegen ist das europäische Rettungspaket ein wichtiger Schritt. Es bedarf jetzt eines mutigen und großangelegten Dialogs mit den Italienern, um die Wichtigkeit und Wirkung dieser Maßnahmen zu erklären und deutlich zu machen: Wir stehen an Eurer Seite! Die vielen zivilgesellschaftlichen Solidaritäts-Initiativen, beispielsweise von Lars Castellucci, tragen dazu bei. Wir müssen deutlich machen, dass wir die Krise als Europäer gemeinsam bewältigen.

Und besser früher als später müssen wir darüber reden, wie wir die EU besser machen. Wir haben selbst in der tiefsten Krise wieder einmal erlebt, dass die Antworten zuallererst national gedacht wurden. Das muss sich ändern. Wir brauchen einen echten europäischen Katastrophenschutz, der den Menschen hilft, wenn sie Hilfe brauchen und ihr Land am Limit ist. Und ganz grundsätzlich müssen wir endlich die Debatte über die Zukunft der EU führen. Wir müssen die Wirtschafts- und Währungsunion vervollständigen, indem die EU mehr Kompetenzen und finanzielle Kapazitäten bekommt, um Investitionen, Arbeits- und Bildungsförderung zu betreiben. In der gemeinsamen europäischen Politik darf es nicht nur um Wettbewerbsfähigkeit gehen.

Es bedarf einer besser abgestimmten Steuer- und Sozialpolitik: Dazu gehört eine bessere Koordinierung der Steuerpolitik, um einen Wettlauf nach unten und das Ausnutzen von Steuerschlupflöchern, insbesondere durch Großkonzerne der Tech-Branche, zu verhindern. Eine europäische Sozialunion muss darüber hinaus auch Mindeststandards für Arbeitnehmerrechte, existenzsichernde Mindestlöhne und ein Grundsicherungssystem in allen EU-Mitgliedstaaten sicherstellen. So kann volkswirtschaftlichen Entwicklungen und konjunkturellen Schocks gemeinschaftlich und besser entgegengewirkt werden. Nicht zuletzt erfordern diese Änderungen auch einen größeren gemeinsamen europäischen Haushalt.

Weder Corona-Bonds noch ESM-Kredite sind ausreichende Antworten auf die Corona-Pandemie. Noch sichern sie die Zukunft Europas im Jahr des endgültigen Brexits. Mittel- bis langfristig benötigen wir eine EU mit einer größeren finanziellen Handlungsfähigkeit, einer krisenfesten Wirtschafts- und Währungsunion und einer abgestimmten Sozialpolitik. Eine gemeinsame europäische Antwort ist also mehr als eine finanz- und wirtschaftspolitische Maßnahme. Um die Corona-Krise dauerhaft zu überwinden, müssen wir jetzt den Grundstein legen, um die Europäische Union endlich zu einer Solidargemeinschaft zu machen. Eine wirkliche Solidargemeinschaft, die in Zukunft besser eingreifen kann, wenn Staaten unverschuldet in Krisen geraten.