In keinem anderen europäischen Land hat der Begriff „europäische Souveränität“, den der französische Staatspräsident Emmanuel Macron am 26. September 2017 in seiner Rede an der Pariser Sorbonne verwandt hat, einen derart starken und anhaltenden Widerhall gefunden wie in Deutschland. Im Bundestagswahlkampf war der Begriff, oft auch in der Variante einer „souveränen Europäischen Union“, immer wieder zu hören und zu lesen. Im Koalitionsvertrag der Ampelparteien findet er sich mehrfach und ebenso in der ersten Regierungserklärung von Bundeskanzler Olaf Scholz im Bundestag.

Manches spricht dafür, dass die begeisterte Zustimmung zu Macrons Formel auf einem Missverständnis, ja auf deutschem Wunschdenken beruht. In Deutschland wird „europäische Souveränität“ gern in Verbindung gebracht mit der Weiterentwicklung des Staatenverbunds der EU zu einer europäischen Föderation, ja zu einem europäischen Bundesstaat, zu dem sich der Koalitionsvertrag der Ampel auf Drängen der Europapolitiker aller drei Parteien ausdrücklich bekennt. Doch nichts liegt Macron ferner als eine Übertragung von französischen Hoheitsrechten auf einen europäischen Überstaat. Und schon gar nicht denkt er an eine effektive Europäisierung so symbolträchtiger Großmachtattribute wie des Ständigen Sitzes im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen oder der atomaren Abschreckungswaffe Frankreichs.

Macron meint mit „europäischer Souveränität“ vorrangig mehr Unabhängigkeit von den USA und der NATO, was sich keineswegs mit den außen- und sicherheitspolitischen Prioritäten der Bundesrepublik Deutschland deckt, wohl aber mit einer auf Charles de Gaulle, den Gründer der Fünften Republik, zurückgehenden Interpretation von französischer Staatsräson. Und wenn sich der französische Präsident für eine verstärkte gemeinsame Kreditaufnahme der EU, also für eine Schuldenunion, einsetzt, widerspricht das allem, was man über die Ziele der Bundesregierung und vor allem des Bundesfinanzministers Christian Lindner weiß.

Es gibt durchaus breite Felder der Übereinstimmung zwischen Paris und Berlin, und das nicht zuletzt in dem von Macron zu Recht immer wieder hervorgehobenen Sektor einer gemeinsamen europäischen Rüstungs- und Verteidigungspolitik. Des irreführenden Begriffs „europäische Souveränität“ bedarf es aber nicht, wenn diese Form von intergouvernementalem „Mehr Europa“ gemeint ist.

Es gibt durchaus breite Felder der Übereinstimmung zwischen Paris und Berlin.

Gegen den Begriff „europäische Souveränität“ sprechen aber auch noch ganz andere, grundsätzliche Überlegungen. In Demokratien kann es keine Souveränität jenseits der Volkssouveränität geben. Die Volkssouveränität findet ihren Ausdruck in Parlamenten, die aus allgemeinen, freien, geheimen, direkten und gleichen Wahlen hervorgehen, also dem Prinzip „one person, one vote“ entsprechen müssen. Ein solches Parlament gibt es jedoch nur auf nationaler, aber nicht auf europäischer Ebene. Bei den Wahlen zum Europäischen Parlament werden aus guten Gründen die kleineren auf Kosten der größeren Mitgliedstaaten privilegiert. So wiegt, um nur das krasseste Beispiel zu nennen, eine maltesische Stimme zehnmal so viel wie eine deutsche. Einem aus dem gleichen Wahlrecht hervorgegangenen Europäischen Parlament müssten an die 6 000 Abgeordnete angehören, damit auch Staaten wie Malta oder Luxemburg dort vertreten sein können. Ein solches Parlament wäre nicht arbeitsfähig.

Das demokratische Legitimationsdefizit, das sich aus der ungleichen Wahl ergibt, ist hinnehmbar, solange das Straßburger Parlament nicht dieselben Rechte für sich in Anspruch nimmt wie die Parlamente der Mitgliedstaaten. Es übt wichtige Kontroll- und Mitwirkungsrechte aus, aber es wäre ein Irrtum zu meinen, dass das demokratische Legitimationsdefizit der EU durch ihre Vollparlamentarisierung behoben werden könnte. Vor allem einige deutsche Europaabgeordnete geben sich da einer Illusion hin.

Dass dem so ist, lässt sich historisch erklären. Die Deutschen haben ihren ersten Nationalstaat, das Deutsche Reich von 1871, innerhalb eines Dreivierteljahrhunderts, durch exzessiven Nationalismus zerstört. Die beiden Nachfolgestaaten des Deutschen Reiches waren keine Nationalstaaten. Während die DDR sich eine internationalistische, „sozialistische“ Identität verordnete, entwickelte sich in der „alten“ Bundesrepublik im Verlauf der Jahrzehnte ein „postnationales“, auf Europa ausgerichtetes Bewusstsein, das viele Intellektuelle, namentlich solche links der Mitte, für eine Signatur der Epoche hielten. Das war ein Irrtum.

Der Anspruch der EU, eine Wertegemeinschaft zu sein, wird radikal in Frage gestellt durch „illiberale Demokratien“ wie Ungarn und Polen.

Außerhalb der Bundesrepublik konnte sich kaum ein anderes Mitgliedsland der Europäischen Gemeinschaft vorstellen, die eigene Nation hinter sich zu lassen und irgendwann in „Europa“ aufzugehen. Vielmehr hielt man bewusst an der eigenen nationalen Identität und am eigenen Nationalstaat fest und erinnerte die Deutschen gelegentlich daran, dass sie vor 1945 schon einmal als Okkupanten die nationale Identität der Völker in den besetzten Ländern in Frage gestellt hatten.

Das wiedervereinigte Deutschland ist, anders als die „alte“ Bundesrepublik und die untergegangene DDR, wieder ein Nationalstaat, aber einer der neuen, postklassischen Art: Es übt einige seiner Hoheitsrechte gemeinsam mit anderen Mitgliedern der EU aus und hat andere Rechte auf gemeinsame Einrichtungen wie die EZB übertragen. Die postnationale Rhetorik deutscher Provenienz ist so gesehen ein Fall von falschem Bewusstsein. Es geht einher mit einer falschen Einschätzung der Zukunft der Gemeinschaft.

Der Anspruch der EU, eine Wertegemeinschaft zu sein, wird radikal in Frage gestellt durch „illiberale Demokratien“ wie Ungarn und Polen, die normativen „essentials“ wie der Unabhängigkeit der Justiz, einem Kernelement des Rechtsstaats, den Kampf angesagt haben. Der Anspruch der EU, nach außen mit einer Stimme zu sprechen, kann nicht eingelöst werden, wenn einzelne Mitglieder wie abermals Ungarn mit einem geschworenen Gegner der EU wie Putins Russland gemeinsame Sache machen. „Mehr Europa“ wird sich im Rahmen der EU der 27 also kaum verwirklichen lassen.

Aus dem gleichen Grund ist es einstweilen illusorisch, auf Vertragsänderungen zu setzen, wie sie etwa erforderlich wären, damit im Europäischen Rat bei außen- und sicherheitspolitischen Fragen mit qualifizierter Mehrheit abgestimmt werden könnte. Da die Weltlage „mehr Europa“ aber gerade auf diesem Gebiet dringlich macht, ist es notwendig, die Gemeinsamkeit derjenigen Staaten zu verstärken, die im Wesentlichen „an einem Strang ziehen“. Das gilt global, muss aber auch innerhalb der EU seinen Ausdruck finden. Das Streben nach einer „ever closer cooperation“ ist nach Lage der Dinge realistischer als das nach der „ever closer union“.

Die europapolitischen Debatten des Bundestags tragen dazu bei, dass europäische Themen auch in der deutschen Öffentlichkeit mehr Beachtung finden.

Wichtig ist bei alledem die Mitwirkung der nationalen Parlamente. Nichts hat das Gefühl, es in Brüssel mit einer verselbstständigten Exekutivgewalt zu tun zu haben, so gefördert wie die Neigung der Regierungen, „Europa“ als Exekutivdomäne zu betrachten. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Lissabon-Vertrag von 2009, das die Integrationsverantwortung der nationalen Parlamente betont, hat in dieser Hinsicht eine Besserung bewirkt. Die europapolitischen Debatten des Bundestags tragen dazu bei, dass europäische Themen auch in der deutschen Öffentlichkeit mehr Beachtung finden. Ein anderer Beitrag zu „mehr Europa“ wäre eine intensive, kontinuierliche Kooperation der Europaausschüsse der Parlamente der EU-Mitgliedstaaten und eine Synchronisierung ihrer Arbeit.

Ohne eine gründliche Reform der Entscheidungsprozesse ist eine Erweiterung der Europäischen Union nicht vorstellbar. Das gilt für die Staaten des westlichen Balkans wie für die neuen Beitrittskandidaten Ukraine und Moldau. Der Zusammenhalt der Gemeinschaft würde aufs Äußerste strapaziert, sollte sich der Kreis der „illiberalen Demokratien“ vergrößern und Staaten aufgenommen werden, die sich weniger der politischen Kultur des Westens als der von Putins Russland verbunden fühlen. Macron hat deshalb völlig recht, wenn er als Vorform der Mitgliedschaft eine Europäische Politische Gemeinschaft vorschlägt, der auch Staaten angehören können, bei denen es zweifelhaft ist, ob sie jemals die Voraussetzungen einer Vollmitgliedschaft in der EU erfüllen werden.

Vermutlich wünschen sich viele derer, die von einer „europäischen Souveränität“ oder einer „souveränen Europäischen Union“ sprechen, letztlich nur eine EU, die handlungsfähiger ist als die von heute. Dann wäre es freilich besser, ebendiesen Begriff zu verwenden, der bescheidener und ehrlicher ist als der missverständliche, ambitiöse, falsche Assoziationen weckende Begriff der „europäischen Souveränität“, der für seinen Urheber Macron nur die Bedeutung einer Metapher hat.

Dass die Europäer sich bemühen, ihr weltpolitisches Gewicht durch engere Zusammenarbeit zu vergrößern, ist nicht nur notwendig, weil Russland und China den Anlass dazu geben. Sie müssen es auch tun, weil die Zukunft ihres mächtigsten Verbündeten höchst ungewiss ist. Da sie einen für sie bedrohlichen Ausgang der amerikanischen Präsidentschaftswahlen 2024 nicht ausschließen können, müssen die westlichen Demokratien innerhalb und außerhalb Europas schon jetzt darüber nachdenken, was sich für sie und ihre Allianzen, obenan die NATO, aus dem „worst case“ ergeben würde.