Drei Jahre ist es nun her, dass das Vereinigte Königreich mit der Unterzeichnung des Austrittsabkommens als erstes Mitgliedsland in der Geschichte der Europäischen Union den Staatenverbund wieder verlassen hat – und so den am 23. Juni 2016 mit dem EU-Mitgliedschaftsreferendum begonnenen Prozess schließlich beendete. Fast beendete. Denn die versprochene vollständige Herauslösung aus der Europäischen Union als Beginn eines wiedererstarkenden Vereinigten Königreiches fand so nie statt. Mit dem Nordirlandprotokoll als zentraler Vertragsklausel des Austrittsabkommens blieb Nordirland de facto Teil der Zollunion und damit ein wichtiges Brexit-Versprechen unerfüllt.

Eigentlich hätte es zwischen der Republik Irland, die Teil der Europäischen Union ist, und Nordirland, das nicht mehr Teil der EU ist, eine feste Grenze mit Zollkontrollen geben müssen. Auf diese Weise aber wäre der mühsam errungene und über lange Zeit hinweg fragile Frieden an der nordirischen Grenze gefährdet worden und es bestand die reale Gefahr eines Wiederaufflammens der Gewalt. Das wurde durch den missglückten Bombenanschlag im nordirischen Strabane im vergangenen Jahr noch einmal deutlich sichtbar.

Um eine Eskalation zu verhindern, war es Teil der Austritts-Vereinbarung, die Grenze im Meer zwischen der irischen Insel und dem Rest des Vereinigten Königreiches verlaufen zu lassen. Eine dauerhafte Lösung war diese Grenzziehung in der Irischen See aber nicht. Sie trennte Nordirland von Schottland, Wales und England durch Grenzkontrollen und störte die neue politische Gemeinschaft mit schwerwiegenden Folgen. Die unionistische, nordirische Partei DUP konnte das Nordirlandprotokoll erfolgreich als Vorwand nutzen, um eine Regierungsbildung in Belfast über Monate hinweg zu blockieren und verlieh der Stabilität des britischen Brexit-Konsenses damit eine immer kürzer werdende Halbwertszeit.

Mit dem sogenannten New Windsor Framework haben die britische Regierung und die EU-Kommission dieser Blockadehaltung nun möglicherweise die Grundlage entzogen. Es vereinfacht Ein- und Ausfuhren insbesondere zwischen Nordirland und Großbritannien etwa für Lebens- und Arzneimittel. Der Handel wird durch eine Vereinbarung zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich über den Austausch von Daten überwacht. Kontrollen wird es zukünftig deutlich weniger häufig geben. Änderungen von Mehrwert- und Verbrauchssteuern, die in Großbritannien vorgenommen werden, gelten nun auch für Nordirland.

Ob es sich also bei der „Stormont Brake“ um einen gelungenen Coup handelt oder ob man der DUP nicht vielmehr einen Grund gibt, gegen das Abkommen zu votieren, muss sich erst noch zeigen.

Außerdem bekommt die DUP mit der Stormont Brake ein Instrument an die Hand, um gegenüber EU-Regelungen ein Votum einlegen zu können. Damit kommt man der Forderung der Unionisten nach einer Auflösung des demokratischen Defizits entgegen – allerdings nur im Rahmen der bestehenden Machtstrukturen des Karfreitagsabkommens. Die realen Verhältnisse in Nordirland sprechen aber dagegen, dass die DUP hierfür jemals die erforderlichen Mehrheiten bekommen wird. Dafür fehlt ihr die Unterstützung aus der Business Community und der Zivilgesellschaft. Ob es sich also bei der Stormont Brake um einen gelungenen Coup handelt oder ob man der DUP nicht vielmehr einen Grund gibt, gegen das Abkommen zu votieren, muss sich erst noch zeigen. Sicher ist aber, dass die DUP angesichts ihrer sinkenden Umfragewerte schwerlich ein Abkommen ablehnen können wird, das den ihr innewohnenden unionistischen Kern quasi im Namen trägt. Das Windsor Framework ist nach dem Königssitz im Süden Englands benannt.

Die mittlerweile sieben Jahre andauernde Überforderung, zu einer Einigung im Streit um das Nordirland-Protokoll zu gelangen, hat aber nicht nur auf der irischen Insel Spuren hinterlassen. Der ständige Wechsel von Premierministern und Regierungen in London hat die eigentlich so widerstandsfähige Britische Demokratie ganz erheblichem Stress ausgesetzt – umso wahrnehmbarer ist deshalb in ganz Europa die Erleichterung über den jüngsten Verhandlungserfolg. Denn die ungelöste Nordirland-Frage bindet Ressourcen, die Europa auf den imperialistischen Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine verwenden sollte.

Das Windsor-Abkommen ist aber nicht nur ein Signal der Europäischen Geschlossenheit gegenüber Moskau.

Das Windsor-Abkommen ist aber nicht nur ein Signal der Europäischen Geschlossenheit gegenüber Moskau. Es darf von all jenen als Zeichen der Stärke und Geschlossenheit Europas verstanden werden, die sich im Zuge eines sich andeutenden globalen Regionalisierungstrends sowie der damit verbundenen drohenden Aufteilung der Weltgemeinschaft in Einflusssphären über eine schwache und zerstrittene europäische Staatengemeinschaft gefreut haben.

In Europa macht der Kompromiss auch deswegen schon Hoffnung, weil dem Abkommen wohl monatelange Verhandlungen vorausgegangen waren, ohne dass hiervon etwas nach außen drang. Das so aufgebaute Vertrauen zwischen der britischen Regierung und der Europäischen Kommission steht in deutlichem Kontrast zu all den schrillen Tönen, die in den letzten Jahren aus London und manchmal auch aus Brüssel zu hören waren. Das Momentum der Einigung zwischen Brüssel und London gilt es jetzt zu nutzen, um Fortschritte bei der zukünftigen Zusammenarbeit zu erzielen. Im Zuge des Brexits ist das Vereinigte Königreich beispielsweise aus dem Bildungsaustauschprogramm der Europäischen Union Erasmus+ ausgetreten. Die britische Regierung hat mit Turing ein weltweites Nachfolge-Austauschprogramm angekündigt, welches jedoch nur inländischen Studierenden zur Verfügung stehen soll. Die vorliegenden Vorschläge, den rechtlichen Rahmen des Programms an die Verordnung der EU zu Erasmus+ anzulehnen, um Studierenden auf beiden Seiten des Ärmelkanals wieder gegenseitigen Zugang zu den Universitäten zu erlauben, sollten so schnell wie möglich umgesetzt werden.

Der Brexit ist und bleibt eine große wirtschaftliche und politische Belastung für Großbritannien, aber auch seine Nachbarn und Partner.

Auch die bilaterale Wissenschaftskooperation blühte bis zum Brexit. Für das Jahr 2019 wies eine Statistik der deutschen Hochschulrektorenkonferenz 1 661 offizielle Kooperationen zwischen Deutschland und dem Vereinigten Königreich aus. Auf britischer Seite gilt der British Council seit vielen Jahren als wichtiger Mittler. Hinzu kommen unzählige private Initiativen in Bildung, Forschung, Sprachaustausch oder Journalismus. Auch die für die bilaterale Verständigung wichtigen deutschen politischen Stiftungen bilden ein unverzichtbares Fundament des Dialogs.

Das Fortbestehen all dieser Programme oder die Gründung neuer Institutionen ist nach dem Brexit aber nicht garantiert. Auch nach dem Ende der Freizügigkeit müssen wir die Arbeitsaufnahme für die genannten Mittlerorganisationen in unseren beiden Ländern vereinfachen. Sie sind unverzichtbar. Ungeachtet ihres rapiden Bedeutungsgewinns können soziale Medien und Online-Kommunikation die Public Diplomacy nicht ersetzen.

Trotz der Einigung auf das Windsor-Abkommen muss sich der Jubel in Grenzen halten. Faktisch ändert sich nämlich neben der Harmonisierung des britischen Binnenhandels wenig. Der Brexit ist und bleibt eine große wirtschaftliche und politische Belastung für Großbritannien, aber auch seine Nachbarn und Partner. Denn trotz all der Mühen um die Verhandlungen der vergangenen Monate wird man den Schaden, den der Brexit angerichtet hat, nicht ohne weiteres wiedergutmachen. Wenn es überhaupt möglich ist, dann nur mit einer grundlegenden Politikänderung. Vieles hängt also davon ab, wie die politischen Entscheidungsträger in London und Belfast mit dem Windsor Framework zukünftig umgehen, oder mit anderen Worten: Es kommt darauf an, was sie daraus machen – „Windsor is what they make of it“.