Seit 2016 treibt mich eine Frage um: Welche ist wohl die letzte europäische Stadt, die ich als EU-Bürger besuchen werde? Jetzt habe ich die Antwort: Es ist Bonn. Gerade komme ich aus der Stadt Beethovens wieder, in der nicht nur die Deutsche Post, sondern auch große Teile des Öffentlichen Dienstes in Deutschland beheimatet sind.

Seit die Regierung nach Berlin zurückkehrte, ist Bonn ein beschaulicher, ein ruhiger Ort. Die Universität ist allgegenwärtig und ihre Mitarbeiter sowie Studierenden machen fast 15 Prozent der Bevölkerung aus. Im größten Theater der Stadt wird gerade Georges Feydeaus Komödie Ein Floh im Ohr aufgeführt, das Opernhaus zeigt eine Version von Beethovens Fidelio, das von der Notlage politischer Gefangener in der Türkei handelt, und im Programmkino läuft Jessica Haussners Little Joe. Das Essen war gut, das Bier ausgezeichnet und die Gespräche – zu meinem Glück in perfektem Englisch – anregend.

Und genau das ist es, was wir Britinnen und Briten hinter uns lassen: die Möglichkeit, einen einstündigen Flug zu nehmen und mit minimalem Aufwand mit einem der stabilsten und erfolgreichsten Wirtschaftsräume der nördlichen Hemisphäre Handel zu betreiben und mit den 500 Millionen am besten ausgebildeten Menschen der Welt in Austausch zu treten.

Die offene Flanke der EU in ihrer Rolle zwischen nationaler und supranationaler Souveränität wurde zu einer Spielwiese für unternehmerische Interessen.

Nur, weil eine Minderheit der englischen Wählerschaft – die weder von Feydeau gehört haben noch Fidelio je sehen werden – aus Europa austreten möchten. Mein nächster Besuch in der EU wird also am Schalter „andere Nationalitäten“ beginnen. Angesichts des erdrückenden Wahlsiegs der Konservativen bei den britischen Unterhauswahlen im Dezember kann ich sicher sein, dass ich in meinem Leben keine Rückkehr des Vereinigten Königreichs zu den europäischen Institutionen erleben werde.

Die Politikprofessoren und Vertreter eines Think-Tanks wollten von mir wissen, warum die Labour-Partei so stark verloren hat. Die unbequeme Antwort lautet, dass wir versucht haben, etwas zu verteidigen, dem sie angehören: die Mitgliedschaft unseres Landes in einer stabilen multilateralen Institution, die Ideale, die hinter einer grenzüberschreitenden europäischen Kultur stehen und das Erbe der Aufklärung – kurzum: eine auf Rationalität und Respekt vor dem Fachwissen basierende, regelgestützte Ordnung.

Ich habe mich auch gefragt, wie ich mich fühlen werde, wenn wir die Europäische Union (EU) verlassen. Ich war nie ein Fan ihrer Institutionen: Die offene Flanke der EU in ihrer Rolle zwischen nationaler und supranationaler Souveränität wurde zu einer Spielwiese für unternehmerische Interessen. Die von der Bürokratie geprägte Mentalität, die ich als Journalist in Brüssel während der Eurokrise bei der Kommission und den nachgeordneten Behörden kennengelernt habe, ließ mich oft denken, dass ich es lieber mit einem souveränen Staat unter demokratischerer Kontrolle zu tun hätte als mit einem Staatenverbund aus 28 Ländern.

Wir haben de facto eine Regierungskoalition aus Rechten und Rechtsextremen, mit einer Mehrheit im Parlament für die nächsten fünf Jahre und mit käuflichen Medien, die sie nicht zur Rechenschaft ziehen werden.

Während der schlimmsten Phase der Eurokrise und der aus ihr resultierenden, erzwungenen Austeritätspolitik sah es ganz so aus, als würde die EU selbst ihre europäischen Ideale zerstören. Aber jetzt verlässt das Vereinigte Königreich am 31. Januar die EU, und die zukünftige Ausrichtung des Landes ist ziemlich klar vorhersehbar: Wir haben de facto eine Regierungskoalition aus Rechten und Rechtsextremen mit einer Mehrheit im Parlament für die nächsten fünf Jahre und mit käuflichen Medien, die sie nicht zur Rechenschaft ziehen werden. Noch dazu wird die Rechtsstaatlichkeit enormem Druck ausgesetzt sein. Angesichts des riesigen Mandats für einen schottischen Nationalismus ist es wahrscheinlich, dass das Vereinigte Königreich zersplittert. Die wechselseitigen Schuldzuweisungen werden kein Ende finden.

Der ‚Brexit' allein wird den freudlosen Menschen, die am 12. Dezember 2019 die Tories gewählt haben, wenig Freude bereiten. Sie werden also mehr brauchen – mehr Rassismus, mehr Fremdenfeindlichkeit, mehr Schuldzuweisungen an Brüssel, das sich weigert, den anmaßenden Forderungen des Tory-Chefs und Premierministers Boris Johnson zu entsprechen.

Doch während die Brexit-Verhandlungen gerade erst beginnen und die Brexit-Krise gegen Ende 2020 ihren Höhepunkt erreichen dürfte, ist es an der Zeit, Bilanz zu ziehen – eine Bilanz der Emotionen und der Politik seit dem schicksalhaften Referendum von David Cameron im Jahr 2016.

Meine über allem stehende Emotion ist Bedauern. Nicht wegen des Austritts aus dem Institutionengefüge der EU, sondern wegen der verpassten Gelegenheit, die die jetzt endende Mitgliedschaft Großbritanniens in der EU darstellt.

In keiner Phase des europäischen Projekts nach dem Beitritt Großbritanniens im Jahr 1973 wurde eine ernsthafte „große Strategie“ für die EU entwickelt.

Für die Menschen, die in 50 Jahren auf diese Ereignisse zurückblicken werden, wird das Problem ziemlich klar sein: In keiner Phase des europäischen Projekts nach dem Beitritt Großbritanniens im Jahr 1973 wurde eine ernsthafte „große Strategie“ für die EU entwickelt. Es gab zwar ein Wirtschaftsmodell – zuerst den Keynesianismus und dann die soziale Marktwirtschaft–, aber viel mehr auch nicht. Stattdessen wurden in gedankenloser Eile so viele osteuropäische Länder wie nur möglich aufgenommen. Und es gab die Euro-Zone, über die ich mir angesichts ihrer fiskalischen Zerbrechlichkeit kein finales Urteil erlauben möchte.

Aber weder die nationalen Eliten noch die transnationale Bürokratie haben jemals eine übergreifende Strategie konzipiert, die das Adjektiv „groß“ verdient hätte. Groß in dem Sinne, wie es der MIT-Professor Barry Posen definiert hat: „eine nationalstaatliche Theorie darüber, wie man Sicherheit für sich selbst produziert“. Stattdessen bauten die Eliten Europas eine gemeinsame Währung, einen gemeinsamen Markt und einige grenzüberschreitende Institutionen auf, von denen sich angesichts der globalen Wirtschaftskrise keine als robust erwiesen hat.

Die europäischen Eliten waren nie bereit, eine gemeinsame Wirtschaft für Europa zu schaffen, geschweige denn eine politische Ordnung. Stattdessen haben sie es jetzt geschafft, bei der ersten großen Strukturkrise eine Wirtschaftsnation mit einem Bruttoinlandsprodukt von 2,6 Billionen Dollar pro Jahr aus ihren Reihen zu verabschieden, und zugleich eine Kanonenkugel auf das Deck des globalen Finanzsystems abgefeuert. Denn sobald das Freihandelsabkommen ausgehandelt ist und die internen Kämpfe der Tory-Partei beruhigt sind, könnte Großbritannien sehr leicht zu einer unberechenbaren Abrissbirne im globalen System werden.

Eine neue britische Elite wird sich um den spekulativen Finanzmarkt und den transatlantischen Handel herum bilden. Und die nächste Generation von privilegierten jungen Menschen wird mehr auf Washington und Singapur schauen als auf Städte wie Madrid, Paris und Berlin.

Das unmittelbare Gefühl des Verlusts wiegt nicht beim Binnenmarkt oder der Freizügigkeit am schwersten, sondern bei der Möglichkeit eines koordinierten Vorgehens gegen den Klimawandel.

In dieser neuen Kolumne für Social Europe werde ich die Auswirkungen dessen untersuchen, was die Tories als „Global Britain“ bezeichnet haben. Ich werde also darüber schreiben, wie sich ihre neuen Prioritäten auf Europa und auf das geostrategische Kräfteverhältnis zwischen Russland, China und den Vereinigten Staaten auswirken werden.

Für den Moment beantworte ich die oben gestellte Frage: Wie fühle ich mich? Denn Gefühle sind wichtig und besitzen die Kraft, ganze Kontinente zu verändern, wenn sie denn massenhaft reproduziert werden.

Das unmittelbare Gefühl des Verlusts wiegt nicht beim Binnenmarkt oder der Freizügigkeit am schwersten, sondern bei der Möglichkeit eines koordinierten Vorgehens gegen den Klimawandel. Labours Vorschlag eines Green New Deal war wirklich radikal. Diejenigen von uns, die für ihn gekämpft haben, wussten, dass wir ihn gegen die Voreingenommenheit vieler Gewerkschaften vertreten haben. Im Gegensatz zum Labour-Papier ist der im Dezember 2019 veröffentlichte Entwurf der Europäischen Kommission zum Klimaschutz schwach. Er sieht den Markt und den privaten Sektor als Mittel, um bis 2050 eine Netto-Null-Kohlenstoffbilanz zu erreichen. Daher hat die EU-Kommission keine Antworten auf das, was wir tun, wenn der Markt und der private Sektor versagen – was unvermeidlich ist.

Wenn unsere Lektion darin besteht, uns von der transnationalen europäischen Kultur zu entkoppeln, wird das fatale Folgen haben.

Man muss nur den Blick nach Deutschland richten, um zu erkennen, wie fortschrittlich die britische Sozialdemokratie in der Klimafrage ist, verglichen mit einer Partei wie der SPD, die weiterhin die Interessen der Kohle- und Automobilindustrie verteidigt.

Aber das strategische Verlustgefühl, das ich empfinde, ist ein kulturelles. Im Moment fühlt sich die sozialliberale Schicht jedes europäischen Landes bedroht. Plötzlich sollen wir uns dafür entschuldigen, dass wir die Kultur der Aufklärung verteidigen, wie sie in den Universitäten von Städten wie Bonn entstanden ist. Das Wahlfiasko der Labour-Partei im Dezember hat uns jedoch auch gezeigt, wie hoch die Kosten dafür sind, sich nicht auf die zunehmend nativistischen und fremdenfeindlichen Tendenzen in der Wählerschaft einzulassen.

Wenn unsere Lektion allerdings darin besteht, uns von der transnationalen europäischen Kultur zu entkoppeln, wird das fatale Folgen haben. Als ich in den 1970er Jahren meine erste Reise außerhalb Großbritanniens (nach Alicante!) machte, existierte diese transnationale Kultur kaum. Ihre Entstehung bis heute, über Interrail, Erasmus, die UEFA Champions League, Billigflüge, elektronische Tanzmusik, Porno, Mode und, ja, auch den Eurovision Song Contest, ist wahrscheinlich das größte und am wenigsten verstandene kulturelle Ereignis in meinem Leben. Es gibt nicht einmal ein angemessenes Wort dafür. Aber Tatsache ist, dass die 21-Jährigen in Bonn mit ihrem perfekten Englisch, die jungen Journalisten, die ich im italienischen Ferrara auf dem jährlichem Journalismus-Festival kennengelernt habe, und die hippen Bohemiens von Vilnius und Dublin die gleichen Bücher lesen, die gleiche Art von Filmen sehen, den gleichen Mix aus europäischen und asiatischen Speisen essen und sich zunehmend gleich kleiden.

In dem Monat, in dem meine Europabürgerschaft endet, ist es also nicht der Pass, um den ich mir Sorgen mache. Es sind die Werte, die der Pass repräsentieren sollte.

Auch wenn es 400 Jahre gedauert hat und den Umweg über Kolonialismus, Nationalismus, Faschismus, Stalinismus und zwei Weltkriege genommen hat: Das ist das ultimative kulturelle Erbe der Aufklärung. Der berühmteste Sohn der Stadt Bonn vertonte die Worte „Alle Menschen werden Brüder“ nicht aus einer Laune heraus.

Doch nun sind die Werte der Aufklärung überall bedroht: von der amerikanischen Alt-Right-Bewegung, deren zwei große Feinde die professionellen Medien und die seriöse Forschung sind, vom evangelikalen Christentum und von der Massen-Volksreligion des Fatalismus, die junge Menschen lehrt, dass nur der Zufall (eine Talentshow, Lotterie oder Instagram-Prominenz) ein gangbarer Weg zu Reichtum und Glück ist. Und natürlich von der anti-humanistischen Linken selbst, unter dem Banner der Postmoderne.

In dem Monat, in dem meine Europabürgerschaft endet, ist es also nicht der Pass, um den ich mir Sorgen mache. Es sind die Werte, die der Pass repräsentieren sollte. Brexit könnte sich als nur ein Moment im Zerfall einer multilateralen Ordnung erweisen. Wenn das der Fall ist, können wir das Überleben – so lange wir die Wissenschaft, Rationalität, Klimagerechtigkeit und die Rechtsstaatlichkeit verteidigen.

Doch damit das gelingt, müssen wir einige Themen unterordnen, die der politischen Linken sehr am Herzen liegen. Und genau das könnte sich als schwieriger erweisen, als wir erwartet haben.

Dieser Artikel ist eine gemeinsame Veröffentlichung von Social Europe und dem IPG-Journal.

Aus dem Englischen von Marius Mühlhausen.