Seit den Europawahlen überbieten sich in Brüssel die Spekulationen. Im Wahlkampf war häufig die Rede von einer möglichen Koalition zwischen den Rechtsaußenparteien der Fraktion Europäische Konservative und Reformer (EKR), angeführt von der italienischen Ministerpräsidentin Giorgia Meloni, und der rechtsextremen Fraktion Identität und Demokratie (ID) mit Marine Le Pen und der französischen Partei Rassemblement National (RN) an der Spitze. Doch nach der Wahl folgte nun eine überraschende Wendung: Die Rechtsaußenparteien könnten sich stattdessen in weitere Fraktionen aufspalten.

Derzeit bemüht sich die AfD, eine neue Fraktion unter dem Namen „Die Souveränisten“ zu bilden, da sie im Mai 2024, kurz vor der Europawahl aus der ID-Fraktion ausgeschlossen wurde. Nach dem berüchtigten Treffen in Potsdam – auf dem AfD-Mitglieder gemeinsam mit bekannten Neonazis hochproblematische „Remigrations“-Strategien erörtert und damit die von langer Hand angelegte Radikalisierung der AfD noch weiter vorangetrieben hatten – tat sich in den letzten Monaten ein Graben zwischen dem RN als führender Partei der ID-Fraktion und der AfD auf. Der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte, war im Mai 2024 die Relativierung von SS-Verbrechen des AfD-Spitzenkandidaten Maximilian Krah, der bereits wegen eines Skandals um Spionage für China unter Druck gestanden hatte.

Der Ausschluss der AfD aus der ID-Fraktion war zudem für Marine Le Pen eine gute Gelegenheit, der französischen Wählerschaft zu signalisieren: Wir gehören nicht länger zu diesen Extremisten, wir haben uns verändert! Was den Ton angeht, mag das stimmen, doch das Parteiprogramm setzt weiterhin auf Fremdenfeindlichkeit und wettert gegen eine pluralistische Demokratie. Diese Strategie scheint leider aufzugehen, aus der ersten Runde der Parlamentswahlen in Frankreich ging der RN als stärkste Kraft hervor.

Die Geschichte der Souveränisten zeugt von einer Neuordnung, die wenige Wochen nach der Europawahl nun voll im Gange ist.

Die Geschichte der Souveränisten zeugt von einer Neuordnung, die wenige Wochen nach der Europawahl nun voll im Gange ist. Die meisten nationalen Parteien, Kandidatinnen und Kandidaten waren mit einer klaren Aussage angetreten, welcher Fraktion sie im EU-Parlament angehören wollten – wie etwa Sozialdemokraten, Konservative oder Grüne. Es gibt jedoch auch eine beträchtliche Minderheit fraktionsloser Europa-Abgeordneter, die sich vorab keiner bestimmten Fraktion zuordnen wollten. Und selbst wenige Tage vor dem Ende der inoffiziellen Frist haben sich über elf Prozent der gewählten EU-Abgeordneten noch immer keiner Fraktion angeschlossen.

Mit dem Fraktionsstatus gehen zahlreiche Privilegien einher, etwa mit der Vergabe von wichtigen Positionen (in den Ausschüssen) und mit mehr Mitteln als für fraktionslose Parlamentarier, sowie mit einem Anrecht, Zuschüsse für politische Stiftungen zu erhalten. Um eine Fraktion zu bilden, müssen sich mindestens 23 Abgeordnete aus wenigstens einem Viertel der EU-Mitgliedstaaten (derzeit sieben) zusammenschließen. Die Zeit drängt: Bis zum 4. Juli mussten die neuen Fraktionen eigentlich gebildet sein, um bei der Verteilung der prestigeträchtigen Parlamentsposten berücksichtigt zu werden. Es bleibt abzuwarten, ob sich die neuen rechten Parteien nach der Wahl in Frankreich am 7. Juli auf neue Fraktionen einigen werden, um sich an diesem Verhandlungsprozess zu beteiligen.

Die Idee, eine eigene Fraktion zu gründen, bestand bereits vor dem Ausschluss der AfD aus der ID-Fraktion. Je mehr sich Le Pen von der AfD distanzierte, desto stärker wuchs deren Wunsch, sich mit anderen Kleinparteien unter deutscher Führung zu verbünden und als eigene Fraktion unabhängig zu machen. Kurz nach der Europawahl begann die AfD, die nötigen Abgeordneten aus verschiedenen Ländern zusammenzusuchen. Seit Beginn der Sondierungsgespräche schwankt das Engagement weiterer Mitglieder zwischen Spekulationen und konkreten Gesprächen. Jedoch bleibt unklar, welche Zusagen tatsächlich konkret gemacht wurden. Zu den potenziellen Kandidaten zählen Wasraschdane („Wiedergeburt“) aus Bulgarien, die neue Partei Se acabó la fiesta („Die Party ist vorbei“) aus Spanien, Mi Hazánk Mozgalom („Unsere Heimat“) aus Ungarn, die Republika-Bewegung aus Slowenien, „S.O.S. Rumänien“ und NIKI („Sieg“) aus Griechenland. Auch eine französische EU-Abgeordnete der Partei Reconquête („Rückeroberung“) könnte der Fraktion beitreten. Die polnische Konfederacja gehört ebenfalls zur Zielgruppe der AfD, hat sich aber noch nicht entschieden.

Der ungarische Premierminister Viktor Orbán verkündete selbst die Gründung einer neuen Fraktion.

Die ungarische Regierungspartei Fidesz mit ihren zehn Abgeordneten wird den Souveränisten allerdings nicht beitreten. Am 30. Juni verkündete der ungarische Premierminister Viktor Orbán nämlich selbst die Gründung einer neuen Fraktion, gemeinsam mit dem früheren tschechischen Premierminister Andrej Babis und dem Chef der rechtsextremen Freiheitlichen Partei Österreichs, Herbert Kickl. Diese „Patrioten für Europa“ brauchen aber noch Abgeordnete aus mindestens vier weiteren Mitgliedsländern.

Die AfD hatte bereits für den 27. Juni einen Konferenzraum in Brüssel gemietet, um die Konstituierung ihrer neuen Fraktion zu verkünden – das Treffen fand jedoch nie statt. Offenbar ist die Zahl der Interessierten an einer solchen rassistischen Allianz geringer, als der AfD lieb ist. Über die Gründe kann man nur spekulieren: Manche der möglichen Partner wurden erst vor wenigen Tagen kontaktiert (wie Se acabó la fiesta), während andere wie die Konfederacja sich noch die Option offenhalten, der ID-Fraktion beizutreten. Es gibt jedoch auch Vorbehalte innerhalb der AfD. Auch wenn sich die Partei immer weiter radikalisiert, sind manche ihrer potenziellen Fraktionspartner noch extremer, und das Risiko einer offenen Holocaust-Leugnung oder ähnlicher Skandale mag selbst der AfD zu groß erscheinen.

Das politische Programm der neuen Fraktion bleibt – zumindest offiziell – ebenfalls im Dunkeln. Man sollte jedoch keine allzu großen Überraschungen erwarten. Die Botschaft liegt vermutlich bereits im Namen: Die Souveränisten setzen auf Souveränität. In den letzten Jahren hatten die rechtsextremen, migrationskritischen Anhänger dieses Begriffs erklärt, eine Nation solle frei entscheiden können, wer ins Land einreisen und dort bleiben dürfe oder ausreisen müsse. Seitdem hat sich die Bedeutung des Begriffs ausgeweitet, sodass er inzwischen für sämtliche infame Lieblingsprojekte der extremen Rechten genutzt wird, um ein ganzes Spektrum antipluralistischer Maßnahmen zu rechtfertigen, die sich praktisch gegen jede und jeden richten könnten.

Das erkennt man am besten an der souveränistischen Sofia-Erklärung der rechtsextremen bulgarischen Partei Wasraschdane, die im April 2024 veröffentlicht wurde. Demnach werde die europäische Zivilisation „durch die Aggression globalistischer Ideologien bedroht“ und das Selbstbestimmungsrecht der Nationen werde „durch die Diktatur einer Bürokratie ersetzt“. Dieser Erklärung zufolge müsse die EU-Bürokratie gestoppt und von internationalen Konzerninteressen befreit werden, zudem brauche es Friedensverhandlungen im „europäischen Krieg gegen Russland“. In dieses bekannte Lied stimmt auch die AfD seit Jahren ein.

Jede Spaltung bedeutet allerdings weniger Macht.

Die vor der Europawahl weitverbreitete Überzeugung, trotz des Zuwachses an Wählerstimmen werde es zu inneren Spaltungen des Rechtsaußen-Lagers kommen, hat sich (bis jetzt) bestätigt. Es scheint, dass die Spaltung entlang bestimmter Konfliktlinien (Russland, Ukraine) und des Ausmaßes des Extremismus (hauptsächlich im Ton, nicht in der Substanz) in Bezug auf Themen wie Einwanderung oder die Verherrlichung der faschistischen Vergangenheit anhält. Zu diesen Differenzen hinzu kommen auch noch interne, durch nationale Interessen befeuerte Machtkämpfe. Jede Spaltung bedeutet allerdings weniger Macht.

Die Startschwierigkeiten der Souveränisten sind ein gutes Beispiel. Sollte es ihnen nicht gelingen, eine Fraktion zu bilden und den entsprechenden Status zu erhalten, wäre dies ein schwerer Schlag für die AfD und alle, die sich unter ihrem Schirm versammeln wollten, um mehr politischen Einfluss, Geld und analytische Unterstützung zu erlangen. Das soll nicht heißen, dass für die Kräfte der Mitte alles zum Besten steht. Selbst wenn sie gespalten sind, werden die rechtsextremen Gruppen bei einigen Gesetzesvorschlägen (Anti-Green Deal) gemeinsam abstimmen. Bei anderen (Ukraine) werden sie dies jedoch nicht tun.

Die sozialdemokratischen Abgeordneten sollten die Lage genau beobachten, um die Differenzen zwischen den verschiedenen rechtsextremen Fraktionen richtig zu deuten. Denn das Risiko, dass die Europäische Volkspartei bei einigen Gesetzesvorschlägen mit weit rechtsstehenden Parteien zusammenarbeitet, bei anderen jedoch nicht, muss aufmerksam beobachtet werden, um sicherzustellen, dass die Progressive Allianz der Sozialdemokraten und ihre Verbündeten die bereits erzielten Fortschritte verteidigen können. Zudem gibt es nicht nur Differenzen zwischen den verschiedenen Rechtsaußen-Fraktionen, sondern auch innerhalb derselben. In der letzten Legislatur war die Abstimmungsdisziplin in der EKR- und der ID-Fraktion am geringsten. Diese Schwäche sollten progressive Kräfte ausnutzen, um Mehrheiten zu bilden und diejenigen abzuwehren, die sie unterminieren wollen.

Kluge Beobachter haben angemerkt, dass die Bedrohung von rechts einheitsstiftend für die Europawahl wirkte und die Menschen an die Wahlurnen trieb. Nach der Wahl lautet nun die kontraintuitive Botschaft, sich stärker auf uns selbst als auf die Rechten zu konzentrieren. Natürlich sollte man die Dinge – und auch diese Parteien – beim Namen nennen: rechtsaußen, rechtsextrem, xenophob und rassistisch. Trotzdem ist es in einer Zeit, in der sich zahlreiche Menschen in Europa unsicher fühlen und einen Niedergang befürchten, wichtiger denn je, fortschrittliche Alternativen und eine Zukunftsvision zu bieten. Ein Kontext, der anfällig ist für die immer gleiche nostalgische, reaktionäre Melodie „Lasst uns in eine glorreiche Vergangenheit zurückkehren“. Viele mögen versucht sein, diesem alten, nostalgischen Lied zu folgen, doch dahinter verbergen sich antipluralistische und autoritäre Tendenzen. Lasst uns stattdessen gemeinsam eine demokratische und fortschrittliche Gegenwart und Zukunft aufbauen!