Wie wäre es, wenn jeder junge Mensch in Europa einen kostenfreien Interrailpass zum 18. Geburtstag bekommen würde? Was als fixe Idee vor zwei Jahren bei einem Abendessen mit Robert Menasse in Wien begann, hat längst den Weg in die Köpfe und Herzen von immer mehr Menschen in ganz Europa gefunden. #FreeInterrail hat das Potential, Europa nachhaltig zu verändern und vor seinen aktuellen Herausforderungen zu retten.
Im Jahr 2016 befindet sich die EU im Dauerkrisenmodus. Ist die eine Herausforderung abgearbeitet oder zumindest gelindert, kommt gleich die nächste um die Ecke. Auf fast-Grexit folgten Zerwürfnisse beim Umgang mit Flüchtlingen, der de facto Zusammenbruch von Schengen. Danach erschütterte Brexit den Kontinent. Was kommt als nächstes? Europa scheint ihn nicht zu finden, den Ausstieg aus dem Krisenkarussell. Das hat insbesondere zweierlei Opfer: zum einen die junge Generation. Sie ist Krisenverlierer Nummer eins. Hohe Jugendarbeitslosenzahlen in vielen europäischen Staaten hinterlassen eine junge Generation, deren einzige Zukunftsperspektive die Perspektivlosigkeit zu sein scheint. Viele Junge fühlen sich von Brüssel entkoppelt, sogar vollkommen vergessen. Zum anderen bleiben die großen, langfristig-orientierten Ideen für Europas Zukunft auf der Strecke. Wo soll es auf Dauer mit der EU hingehen? Um welche Werte geht es uns? Wie kann dem Traum der Europäischen Einigung neues Leben eingehaucht werden? Diese Fragen werden kaum noch besprochen. Es geht um Lösungen spezifischer Probleme, der große Wurf bleibt aus. Tatsächlich ist aber dieser Ansatz des Sich-Verzettelns in vielen einzelnen Scharmützeln die größte Bedrohung für die EU. Was es jetzt braucht, ist ein EU-Programm, das beweist, dass die Institutionen in Brüssel und den Hauptstädten das große Ziel nicht aus den Augen verloren haben, das beweist, dass die EU alle Bürgerinnen und Bürger erreichen und ihre Leben positiv verbessern kann.
Die Idee von #FreeInterrail ist einfach: Ein Gutschein für einen 1-Monats-Interrailpass, den man bis zum 24. Lebensjahr einlösen kann, verschafft nicht nur einer ganzen Generation Mobilität, sondern eröffnet auch die Möglichkeit, gleich eine ganze Reihe von endemischen Problemen der EU anzupacken wie die Renationalisierung, den Vertrauensverlust in die EU und das Abdriften der jungen Generation. Im Kern geht es um die Essenz dessen, was die EU einzigartig und durch und durch großartig macht: die Menschen in all ihrer Vielfalt und Diversität.
Seitdem das Autorenteam Herr & Speer die Idee erstmals im Sommer 2015 vorstellte, haben sich EU-Kommissare wie Frans Timmermanns und Kristalina Georgieva damit beschäftigt und die deutschen jungen europäischen Föderalisten haben den Vorschlag in ihr offizielles Programm aufgenommen. Im Februar 2016 bildete sich im Europäischen Parlament eine Allianz aus Parlamentarierinnen und Parlamentariern der S/D, Grünen und Liberalen, die sich für ein Pilotprojekt dazu starkmachten. Erst vor kurzem erwähnte der Vorsitzende der EVP Manfred Weber die Idee in einer öffentlichen Stellungnahme. Wenige Tage später reagierte Italiens Premier Matteo Renzi und outete sich ebenfalls als Fan des Vorschlags.
Worin aber liegen die Vorteile der Idee und wie könnte sie umgesetzt werden?
Zunächst einmal liegt der Charme darin, dass der Vorschlag einfach und zugänglich ist. Besonders darin unterscheidet sich das Programm von allen anderen EU-Programmen und Initiativen, die es zwar gut meinen, oft aber unter hohen Zugangshürden und fehlender Universalität leiden. Erasmus+ ist hier bestes Beispiel. Das Austauschprogramm ist zweifelsohne einer der erfolgreichsten Identitätsstifter der EU-Geschichte und hat viel zu Verständigung, Austausch und Verständnis untereinander beigetragen. Tatsächlich aber erreicht Eramus+ nach wie vor nur wenige. Etwas über drei Millionen Erasmus-Teilnehmerinnen und -Teilnehmer in knapp 30 Jahren stehen 190 Millionen U30-Jährigen in der EU gegenüber. Wer teilnehmen will, muss Bewerbungen ausfüllen, Zeugnisse vorlegen und viel Zeit einsetzen. Gerade da steigen schon viele junge Leute aus. Das Resultat: Es gehen diejenigen ins Ausland, die sowieso schon mit der Familie unterwegs sind und Europa bereits kennen und zumeist schätzen. All die anderen jungen Menschen, die nicht studieren, nicht aus informierten Elternhäusern kommen und keine Fremdsprachen sprechen, bewerben sich nicht und reisen auch nicht. Dadurch verstärken die existierenden EU Programme die Spaltung der Generation teilweise noch. Es wird Zeit, diese Spaltung zu überwinden. #FreeInterrail würde dies tun, sozio-ökonomische Unterschiede zwischen Individuen und Ländern ausgleichen und ein Mindestmaß an Mobilität allen zugänglich machen.
Der zweite große Vorteil ist, dass die Mobilitätssteigerung durch ein solches Programm zu vermehrtem Austausch und mehr persönlichen Begegnungen der EU-Bürgerinnen und -Bürger untereinander führen würde. Vorurteile und Stereotype würden abgebaut werden oder, bei den vielen jungen Reisenden, sich gar nicht erst entwickeln können. Das Motto der EU „Einheit in Vielfalt“ ist bisher bloße Theorie für viele Menschen in der EU. Durch die persönlichen Erfahrungen in anderen EU-Ländern würden junge Menschen von Anfang an diese Vielfalt auch praktisch erleben und ein Leben lang davon profitieren. Nur wenn Europäerinnen und Europäer Europa persönlich kennen und erfahren haben, kann eine Europäische Einigung und Integration gelingen. Kurz ausgedrückt: Wer reist und Freunde im Ausland gewinnt, zündet keine Flüchtlingsunterkünfte mehr an oder wählt rechtsnational.
Zum Dritten haben die EU Institutionen und ganz besonders die Kommission die Möglichkeit, mit der Idee ein Zeichen zu setzen, das gerade für die Jungen so wichtig ist: Wir denken an Euch und unterstützen Euch! Für viele junge Menschen ist Brüssel weit weg und hat wenig mit dem eigenen Leben zu tun. Wer aber an seinem Geburtstag einen Brief der Europäischen Kommission in seinem Briefkasten findet, in dem ein Gutschein für einen Interrailpass beiliegt, hält einen praktischen Beweis der eigenen Zugehörigkeit zur EU in Händen. Lassen Sie uns einfach mal ausmalen, welche Effekte diese Geste hätte. Die symbolische Wirkung, die von einer solchen Aktion ausgehen würde, kann nicht überschätzt werden. Wer heute an EU-Programmen teilnehmen will, muss selbst aktiv werden und sich durch Anträge, Programme und Kataloge durcharbeiten. Nun käme die Möglichkeit zu einem nach Hause. Damit bleibt Mobilität nicht bloß Luxusgut, sondern wird Grundrecht aller Bürgerinnen und Bürger der EU. Ein Recht, das praktisch und persönlich anwendbar ist und das eigene Leben auf Jahrzehnte bereichern kann.
Die Umsetzung wäre bezahlbar
Die gesamte Infrastruktur existiert. Im Interrailverbund, organisiert von Eurrail in den Niederlanden, gibt es bereits Verträge mit der Bahn und zum Teil auch Bus- und Schifffahrtsgesellschaften auf dem ganzen Kontinent. Die Züge fahren so oder so. Und die Bahn ist der umweltfreundlichste Verkehrsträger obendrein. Es müsste also kein Aufbau von Infrastruktur erfolgen, lediglich die Pässe müssten erworben werden. Die Kosten hierfür hängen stark von der Nachfrage und einem wahrscheinlichen Mengenrabatt ab. Sollte alle 18-Jährigen das Angebot annehmen und es keinen Rabatt geben, käme man bei 5,5 Millionen EU-Bürgerinnen und -Bürgern, die jedes Jahr 18 Jahre alt werden, und einem Stückpreis von circa 460 Euro auf 2,6 Milliarden Euro pro Jahr. Das bewegt sich in etwa in der Größenordnung des Erasmus-Budgets pro Jahr. Der Effekt wäre aber ungleich größer.
Klar ist auch, kostenfreier Zugang zu Mobilität für junge Menschen kann nicht alle Probleme lösen und es bleiben weitere Fragen offen. Der Interrailpass alleine bringt einen noch nicht durch den Kontinent. Man muss auch wirklich wollen und losziehen und unterwegs natürlich für Unterbringung und Verpflegung aufkommen. Hier wäre es möglich, um das Kernprogramm von #FreeInterrail herum den Aufbau eines europaweiten Couch-Surfing Netzwerks junger Interrailreisender anzustoßen. So könnten ehemalige Reisende jüngere bei sich aufnehmen, sich gegenseitig weiterhelfen und persönlich kennenlernen. Dass #FreeInterrail für alle jungen Menschen zur Verfügung steht, würde auch bedeuten, dass junge Menschen zusammen reisen können, was auch diejenigen ermutigen würde, die bisher von Haus aus wenig reisen. Zusammen reist es sich immer besser. In Schulen könnten Schülerinnen und Schüler europaweit auf die Interrailreise vorbereitet werden, die Aufnahme davon in die Lehrpläne würde zusätzlich das Bewusstsein für Europa und die eigene Rolle darin stärken. Zusätzlich erscheint es empfehlenswert, über Webseiten, Broschüren und ganz besonders durch Beilagen im Geburtstagsbrief auf empfohlene Reiserouten aufmerksam zu machen. Zusätzlich könnten die existierenden EU Informationsbüros und Europe-Direct Zentren für junge Interrailreisende als Kontakt- und Informationsstellen fungieren. Auch eine Verknüpfung mit dem Programm des Europäischen Freiwilligendienstes oder anderen Bildungsinitiativen ist denkbar.
„Wo warst Du damals auf Interrail reisen?“, könnte zukünftig eine geläufige Frage lauten. Der Integrationsschub würde den Grundstein für eine durch und durch europäisierte Gesellschaft legen. Damit wäre Europa der erste Kontinent der Welt, der seine Bürgerinnen und Bürger nicht nur theoretisch, sondern praktisch über nationale, soziale und finanzielle Grenzen hinweg eint.
5 Leserbriefe
Ich war mit 17 Jahren mit dem Deutsch-Französischen Jugendwerk in Frankreich. Seitdem bin ich Frankreich- und Europafan.