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Brexit-Fatigue war ein wichtiger Treiber für den Wahlsieg von Boris Johnson im Dezember 2019 gewesen. Sein einprägsames Kampagnenmotto „Get Brexit Done“ beinhaltete das Versprechen, dem ewigen Hin und Her zwischen Regierung und Parlament, zwischen London und Brüssel, ein Ende zu bereiten und sich nach drei langen Jahren endlich auch wieder mit anderen Themen zu befassen. Einen „ofenfertigen Deal“ habe er, der dem Land den Weg in die lang ersehnte Souveränität ebnen werde. Die elf Monate Übergangsfrist nach dem Austritt Ende Januar 2020 würden problemlos ausreichen, um ein Abkommen mit der EU zu schließen. Nach der gefühlten Vorhölle des Brexits versprach der ewig optimistische Johnson seinen Landsleuten das Erwachen aus dem Larvendasein als schöner bunter Schmetterling. Auch in Brüssel, aber auch in Berlin, wäre man froh, wenn der Premierminister sein Versprechen schon eingelöst hätte – Brexit-Fatigue ist auch auf der anderen Seite des Kanals spürbar.

Doch knapp vier Monate vor dem Ablauf der Übergangsphase ist immer noch fraglich, ob wirklich ein Abkommen serviert wird oder ob der Chef denn überhaupt den Ofen schon angeworfen hat. Die Verhandlungen stocken und beide Seiten warten darauf, dass sich die andere bewegt. Hauptstreitpunkte sind Fischerei und fairer Wettbewerb, das sogenannte „Level playing field“, wobei hier vor allem die Frage im Mittelpunkt steht, welche Staatsbeihilfen auf der Insel gewährt werden sollen. Bisher sind weder Brüssel noch London bereit, von ihren Maximalforderungen abzurücken.  

Daher rücken langsam zwei Fragen in den Mittelpunkt: Was ist eigentlich noch bis November möglich in den Verhandlungen? Denn um einen Deal rechtskräftig werden zu lassen, müssen mindestens das britische und das Europäische Parlament zustimmen. Und welche bilateralen Verbindungen können jetzt zwischen Deutschland und dem Vereinigten Königreich geknüpft oder gestärkt werden, um 2021 nicht in ein tiefes Loch des Misstrauens zu fallen?

Bisher sind weder Brüssel noch London bereit, von ihren Maximalforderungen abzurücken. 

Was auch immer zwischen der EU und der britischen Regierung am Ende ausgehandelt werden wird, alle Fragen werden in der verbleibenden Zeit nicht geklärt werden können. Denn selbst wenn sich beide Seiten überraschenderweise bald substantiell bewegen, wird am Ende nur ein sehr schmales Abkommen stehen können, das Grundzüge und Prinzipien regelt. Die vielen kleinen Details, die nach dem Ende einer vierzigjährigen Geschichte des Zusammenwachsens neu geklärt werden müssen, werden weiterverhandelt werden. Dieser Prozess wird viel Zeit und Energie in Anspruch nehmen und auch immer wieder von politischen Störgeräuschen überlagert werden. Der Brexit und seine Folgefragen werden wie Mehltau auf den Beziehungen zwischen beiden Seiten liegen.

Noch schwieriger wird es, sollten die jetzigen Gespräche scheitern und der Brexit im „No-Deal“ enden. Das wäre eine schwere Belastung für all die Fragen, die dann noch geklärt werden müssen, von Grenzkontrollen und Medikamentenzulassungen bis zu Landeerlaubnissen auf Flughäfen. Gegenseitiges Vertrauen ist ohnehin dünn gesät nach den vielen Missverständnissen und Schuldzuweisungen der vergangenen Monate; ein Scheitern der Verhandlungen würde dies noch weiter unterminieren. Das birgt die Gefahr einer zusätzlichen Verschärfung der Spannungen. In vielen Mitgliedstaaten der EU dürfte sich Widerstand regen, und auch in London dürften die Hardliner an Zustimmung gewinnen.

„Get Brexit Done“ mag rechtlich einfach gewesen sein, faktisch werden die EU und das Vereinigte Königreich so oder so die kommenden Jahre in Verhandlungen verbringen. Damit werden die bilateralen Beziehungen wieder wichtiger, die in der Vergangenheit unter dem gemeinsamen Dach der EU gepflegt wurden.

Auch für Deutschland und die deutsch-britischen Beziehungen ist der Brexit eine schwere Hypothek, weil er ein hohes Potenzial gegenseitiger Verletzungen und Missverständnisse birgt. Darüber muss Politik hinweg nach vorne blicken. Die deutsche EU-Präsidentschaft im zweiten Halbjahr 2020 verstärkt in London zwar den Eindruck, dass am Ende Berlin die Kohlen aus dem Feuer holen wird. Dies wird aber nicht geschehen. Man muss sich daher in Berlin gegen enttäuschte Erwartungen am Jahresende wappnen. Dennoch können Impulse für eine positive Entwicklung aus der Brexit-Gemengelage gesetzt werden. Die deutsch-britischen Beziehungen sind tief verankert in der Gesellschaft. Über Politik, Wirtschaft, Fußball, Musik oder Kunst finden sich viele enge Verflechtungen zwischen beiden Ländern, und diese enge Bindung muss handlungsleitend für die kommenden Monate und Jahre werden.

Die deutsche EU-Präsidentschaft im zweiten Halbjahr 2020 verstärkt in London zwar den Eindruck, dass am Ende Berlin die Kohlen aus dem Feuer holen wird. Dies wird aber nicht geschehen.

Aber im Gegensatz zur deutsch-französischen Bindung, die sich in vielen gemeinsamen Institutionen und wortreichen Deklarationen äußert, müssen hier nicht erst langwierig neue Institutionen, Begegnungswerke oder Konferenzserien aus der Taufe gehoben werden. Stattdessen kann im Verhältnis zum Vereinigten Königreich der gemeinsame Pragmatismus und Hang zum Konkreten zum Ausdruck kommen. Schnell und unprätentiös Bindungen zu knüpfen, gelingt gerade mit dem heutigen Großbritannien besser, als erneut zu versuchen, es in einen institutionellen Rahmen einzufassen.

Natürlich wird Deutschlands innereuropäische Außenpolitik weiterhin durch das Verhältnis zu den 26 EU-Mitgliedstaaten, den assoziierten Ländern und den Beitrittskandidaten dominiert. Großbritannien fällt aus dieser Logik für absehbare Zeit heraus, ist aber zu groß, zu nah und viel zu eng mit Deutschland verbunden, als dass es in die klassische Kategorie von „Drittstaaten“ subsumiert werden könnte. Bei allem Schmerz über den Brexit wird es daher nun Zeit, die bilateralen Beziehungen zwischen Deutschland und dem Vereinigten Königreich auf neue Beine zu stellen. Der erste politische Ausgangspunkt könnte die Einrichtung einer Stelle eines Beauftragten für die Deutsch-Britischen Beziehungen sein, um so einen Knotenpunkt in einem zu verdichtenden Netz an Verbindungen zu schaffen.

Ein Neustart der Beziehungen sollte dabei explizit das Verhältnis zu ganz Großbritannien und nicht alleine zu England in den Blick nehmen. Gerade in Schottland, aber auch im Großraum London hat man einen ganz anderen Blick über den Kanal und ein großes Interesse an einem weltoffenen Land. Diese Europäerinnen und Europäer im Herzen brauchen die Möglichkeit, sich in Städtepartnerschaften, Begegnungen von Sportvereinen oder Kulturgruppen, Jugendaustauschen oder anderen Formen der Begegnung ihrer Verankerung in Europa zu versichern.

Deutschland und das Vereinigte Königreich stehen vor vielen gemeinsamen Herausforderungen und brauchen einander, auch wenn man nicht mehr gemeinsam Teil der EU ist.

Positiv für diesen Neustart ist, dass im Deutschen Bundestag gegenüber der Entscheidung Großbritanniens zwar nach wie vor großes Unverständnis herrscht, nicht wenige Abgeordnete sogar ein magisches Verschwinden des Brexits erhoffen, aber durchgängig kein Groll oder Appetit auf Konfrontation vorherrscht. Dies ist wichtig zu betonen, da die britische Presse nur zu gerne die alten Rivalitäten wiederaufleben lassen würde. Trotz Corona bildet aber gerade der parlamentarische Austausch eine wichtige Basis der bilateralen Beziehungen.

Hierzu zählen auch die Königswinter-Konferenz und Young Königswinter. Diese jährliche Zusammenkunft stellt tatsächlich ein weitgehend einmaliges Dialogformat dar. Zwar scheint es über die letzten zwei Jahrzehnte etwas in die Jahre gekommen zu sein. Aber dennoch zeigt es den besonderen Charakter der Beziehungen, wenn sich Abgeordnete, Journalistinnen und Journalisten, Wirtschaftsvertreter und Elder Statesmen and -women zwei Tage in einem ehrwürdigen College in Oxford oder einer rheinischen Kleinstadt zur Klausur einschließen. Dieses Format hat das Potential, zu einer Art Münchner Sicherheitskonferenz der deutsch-britischen Beziehungen zu werden. Dafür braucht es Unterstützung aus allen Bereichen unserer Gesellschaft, um gemeinsam mit Britinnen und Briten die Zukunft anzugehen.

Im Blick nach vorne bieten sich zahlreiche Themen an, die auch während der andauernden Zeit des Übergangs und schwieriger Handelsbeziehungen zur Kooperation genutzt werden können. Denn Deutschland und das Vereinigte Königreich stehen vor vielen gemeinsamen Herausforderungen und brauchen einander, auch wenn man nicht mehr gemeinsam Teil der EU ist. Der Umgang mit Corona und insbesondere die Forschung an Impfstoffen und Medikamenten erfordert Wissenschaftskooperation. Gesellschaftliche Fragen des Wohlfahrtstaates, resilienter Gesundheitssysteme, der Digitalisierung auch der Bildung, des Klimaschutzes oder neuer Formen der Mobilität bedürfen kreativer und innovativer Ansätze. Diese gemeinsam zu denken, pragmatisch anzugehen und voneinander zu lernen, ist für beide Seiten ein Gewinn. In Anlehnung an eine legendäre britische Serie könnte man sich dabei auf ein Versprechen einigen: „Don’t mention business!“ So vermeidet man die Untiefen rund um den Brexit und konzentriert sich stattdessen auf die vielen Brücken auf die Insel, die wir in Zukunft brauchen werden.