Das Jahr 2022 ist eine einzige Zumutung. Und ein Ende ist nicht in Sicht. Im Gegenteil. Die Zumutungen werden noch zunehmen. Wirtschaftlich und finanziell, privat wie auch staatlich. Fröstelnd im heimischen Wohnzimmer und im Betrieb oder Büro. Und als Zumutung dürften wir auch den europäischen Blick auf uns selbst empfinden. Wir Deutsche werden uns in den kommenden Monaten mit kritischen Nachfragen und je nach Verlauf des Winters und des wirtschaftlichen Abschwungs auch mit handfesten Vorwürfen unserer Nachbarn auseinandersetzen müssen. Darauf sollten wir uns einstellen. Das sind wir nicht gewöhnt, es wird uns schwerfallen. Doch unsere künftige Rolle in der EU und darüber hinaus wird maßgeblich davon abhängen, wie wir mit diesen energiepolitisch befeuerten Vorwürfen umgehen. Davon, welche Schlüsse wir aus dieser Situation der Schwäche und der Verwundbarkeit für die Zukunft ziehen.  

Deutschland und Frankreich haben in den Augen ihrer Nachbarn in den vergangenen Jahren durchaus die übliche Führungsrolle eingenommen und energiepolitische Weichen gestellt. Berlin setzte auf das günstige russische Gas, Paris auf den eigenen Atompark und die Aussicht auf lukrative Exporte. Beides scheitert 2022 krachend.

Die starke Abhängigkeit von russischem Erdgas ist zwar kein rein deutsches Problem, sondern eher ein mittelosteuropäisches. Aber Deutschland steht im Fokus. Wir hatten in absoluten Mengen den höchsten Verbrauch an russischem Gas, von uns geht wegen der schieren Größe unserer Wirtschaft das größte Risiko aus – und wir wissen üblicherweise Vieles besser als die anderen, auch das gehört zur Wahrheit dazu.

Deutschlands künftige Rolle in der EU und darüber hinaus wird maßgeblich davon abhängen, wie wir mit den energiepolitisch befeuerten Vorwürfen unserer Nachbarn umgehen.

Im Stich lassen werden sie uns wohl nicht. Auch Deutschland ist schlicht too big to fail. Schmiert die deutsche Volkswirtschaft als Schwergewicht in Europa ab, dann gerät der gesamte Kontinent in Schieflage. Die Folgen dieser wirtschaftlichen Verwerfungen mag man sich in den europäischen Hauptstädten angesichts der ohnehin schon angespannten Lage lieber nicht ausmalen. Maßnahmen zur Unterstützung Deutschlands sind daher angeraten, populär im Volke macht sie das noch nicht. Und die Untergangs-Apologeten auf der Rechten scharren bereits mit den Füßen, um nationalistische Ressentiments zu schüren.

Die Deutschen müssen sich nun keineswegs ins Büßergewand kleiden. Es löst die aktuelle Misere nicht, endlos über die Schuldfrage zu sinnieren. Dass das Bekenntnis zum russischen Gas aus heutiger Sicht falsch war, ist weitestgehend Konsens. Es gab keineswegs nur geschäftliche Gründe dafür, auch politisch glaubte man sich auf dem richtigen Weg. Nur weil man es heute besser weiß, gehört nicht jede frühere Entscheidung ins Reich des Schurkenhaften. Etwas Demut allerdings kann nicht schaden. Etwas Interesse für die Stimmung bei den Nachbarn auch nicht.

Das Zeitalter der Erneuerbaren Energien und des Wasserstoffs verändert Machtbeziehungen.

Entsprechend empfiehlt sich ein offener Blick über die Landesgrenzen. Und dieser wird nicht nur bei der Bewältigung der großen Krise helfen, die im Winter auf Europa zukommen könnte. Der Blick über den nationalen Gartenzaun ist wichtig, auch und gerade für die Zukunft. Das Zeitalter der Erneuerbaren Energien und des Wasserstoffs verändert Machtbeziehungen. Die Peripherie, sie dürfte ins Zentrum aufsteigen in dieser neuen Ära, allein wegen ihrer geografischen Lage. Denn Europa wird auf Jahrzehnte abhängig bleiben von Energieimporten, sei es Strom aus Erneuerbaren oder Grüner Wasserstoff. Und diese werden zum guten Teil über die Ränder anlanden und von dort ins Zentrum weitergeleitet. Im Zentrum, da sitzen wir.  

In den vergangenen Jahren stockte auch wegen des deutsch-französischen Desinteresses der Ausbau der innereuropäischen Infrastruktur. Ein Beispiel ist die zuletzt viel diskutierte Midcat-Pipeline über die Pyrenäen. Die Spanier drängen seit langem darauf. Berlin und Paris zeigten sich nicht interessiert. Berlin brauchte sie nicht, Paris fürchtete wohl die Konkurrenz aus dem Süden. Jetzt fehlt sie schmerzlich, ist die iberische Halbinsel doch wesentlich besser als der Rest Europas aufgestellt bei LNG-Terminals und auch Erneuerbaren. Berlin immerhin ist eingeschwenkt; Paris sträubt sich noch immer. Olaf Scholz wirbt für die Pipeline, stellt finanzielle Unterstützung in Aussicht. Es ist nur richtig, dass wir hier Finanzierung anbieten, zumal die Pipeline wasserstofftauglich sein soll. Wir werden am meisten davon haben.  

Zu Zeiten der Eurokrise haben Teile der Bundesregierung und auch die mediale Öffentlichkeit gern mangelndes Verantwortungsgefühl kritisiert. Das klingt so manchem Südeuropäer bis heute in den Ohren.

Als im Juli der Gas-Notfallplan für den Winter verhandelt wurde, wiesen die Spanier mit spitzer Zunge darauf hin, dass sie es nicht waren, die in den letzten Jahren energiepolitisch über ihre Verhältnisse gelebt haben. Diese Retourkutsche zielt auf Deutschland – und sie ist verständlich. Zu Zeiten der Eurokrise haben Teile der Bundesregierung und auch die mediale Öffentlichkeit gern mangelndes Verantwortungsgefühl kritisiert. Das klingt so manchem Südeuropäer bis heute in den Ohren. Das Echo schallt direkt zurück nach Berlin.   

Beim Notfallplan hat die EU-Kommission versucht, das Heft des Handelns selbst in die Hand zu nehmen. Dem haben die nationalen Regierungen eine Absage erteilt. Energiepolitik, das ist noch immer Sache der Mitgliedstaaten und daran wollten sie vorerst nicht rütteln lassen. Das ist verständlich; umso wichtiger ist es, sich über die schwierigen Aushandlungen bewusst zu werden, die unmittelbar vor uns liegen. Das Beispiel zeigt aber auch noch etwas anderes. Europapolitik, das ist eine Chiffre für Kompromisse. Auch die Deutschen werden sie eingehen müssen. Und die Regierenden werden sie dem Volk besser erklären müssen. Wir zahlen, wir sparen für alle anderen? So sehen wir uns gern, es trifft aber nicht zu. Die anderen zahlen und sparen derzeit auch für uns.    

In Kommentarspalten und sozialen Medien wird wutschnaubend gefragt, wie wir weiterhin Gas in die Nachbarländer weiterleiten können. Zum einen ist das Gas in aller Regel nicht unseres. Spanischer Rioja, bezahlt in dänischen Kronen und transportiert im litauischen Lkw, wird auf der deutschen Autobahn auch nicht zu Riesling oder Äppler. Und Gas wird nicht deutsch, nur weil es durch Pipelines auf deutschem Boden fließt. Zudem ist bei dieser Form der Entrüstung Vorsicht angebracht. Sie könnte Nachahmer finden und die Angeschmierten wären die Deutschen. Die Autorin dieses Textes wohnt in Belgien. Wer weiß, vielleicht bleibt es hier ja warm, wenn kein „belgisches“ Gas mehr nach Deutschland fließt?   

Wir entscheiden mit den aktuellen Weichenstellungen über den Wohlstand und die Lebensqualität in Europa.

Das Brett, das wir in den nächsten Jahren zu bohren haben, ist dick wie eine hundertjährige Eiche. Die Zeitenwende, die Olaf Scholz ausgerufen hat, war energiepolitisch ohnehin angeraten. Nun muss sie beschleunigt und unter harten Bedingungen durchgesetzt werden. Es geht derzeit nicht nur darum, die kommenden zwei, drei Jahre ohne größere Blessuren zu überstehen. Wir entscheiden mit den aktuellen Weichenstellungen über den Wohlstand und die Lebensqualität in Europa in den kommenden Jahrzehnten. Der Hitze- und Dürresommer führt uns gnadenlos die Versäumnisse der letzten Jahrzehnte vor Augen. Gleiches gilt im Übrigen für Wladimir Putin. Das immer wieder aufflackernde Fabulieren über die Inbetriebnahme von Nord Stream 2 wirkt irrlichternd. De facto bedeutet das, stärker auf die Solidarität und Verlässlichkeit Putins zu setzen als auf die der eigenen Nachbarn in der europäischen Schicksalsgemeinschaft. Ernsthaft? Die Nerven muss man erst einmal haben.

Um auch in Zukunft und der aktuellen schweren Krise zum Trotz innovativ, wettbewerbsfähig und wohlständig zu bleiben, braucht es eine europäische Energieunion. Die aktuellen Notfallpläne könnten den Grundstein dafür legen. Die EU muss ihre wirtschaftliche und geopolitische Macht stärker ausspielen, über die sie als soziale Marktwirtschaft mit 450 Millionen Verbraucherinnen und Verbrauchern verfügt. Zudem müssen die europäischen Rädchen wesentlich besser ineinandergreifen – die berühmten Synergieeffekte, die es zu nutzen gilt. Wir müssen gemeinsam neue Industriezweige und eine moderne Energieinfrastruktur innerhalb Europas und in die Nachbarregionen aufbauen, wollen wir mit China und den USA mithalten. Die Kooperationen bei der Batterieherstellung oder beim Grünen Wasserstoff können nur der Anfang sein. Fürwahr, ein Land auf der Suche nach einer neuen Führungsrolle dürfte hier schnell fündig werden. Eine etwas demütigere, etwas offenere und politisch wie finanziell sehr engagierte Führungsmacht, das kann Europa gut gebrauchen. Das sollten wir uns durchaus zumuten.