Die Eurozone krankt am Exportweltmeister Deutschland in seiner Mitte. Der französische Präsident Emmanuel Macron hat unlängst Vorschläge unterbreitet, wie mit einem Eurozonen-Budget auf eine Harmonisierung im europäischen Wirtschaftsraum hingearbeitet werden könnte. Aber Deutschland bewegt sich nur in Trippelschritten auf Macron zu. Wenn das so weiter geht, besteht die Gefahr, dass unsere europäischen Nachbarn die Geduld verlieren und Deutschland bitten, den Club zu verlassen, so wie früher die Musterschüler eine Klasse überspringen mussten. Damit es nicht so weit kommt, muss sich nicht nur die Austeritätspolitik ändern, sondern in Deutschland müssten endlich die Löhne deutlich steigen. Den deutschen Sozialdemokraten bietet das die Chance, sich aus der babylonischen Gefangenschaft neoliberalen Denkens zu verabschieden und den Kampf für soziale Gerechtigkeit mit der Rettung Europas zu verknüpfen.
Viel zu lange wurde den deutschen Arbeitnehmern eingeredet, ihre Löhne seien zu hoch, um im internationalen Wettbewerb mithalten zu können. Tatsächlich ist das Wachstum der Binnennachfrage zu gering. Und deutsche Arbeitskräfte sind nicht zu teuer. Die Löhne sind über Jahre nicht entsprechend der Produktivität gestiegen.
Big Business in Deutschland ist wahrscheinlich die erste Kapitalistengruppe, die von den engagiertesten Gralshütern des Neoliberalismus, dem Internationalen Währungsfonds, mit Nachdruck ermahnt wird, doch endlich die Reallöhne zu steigern.
Vor sinkender Wettbewerbsfähigkeit bei steigenden Löhnen brauchen die deutschen Arbeitnehmer keine Angst zu haben. Gerade die Empfänger niedriger Löhne stehen nicht unter internationalem Wettbewerb, weil sie keine handelbaren Güter herstellen. Unter internationalen Wettbewerb stehen vor allem die Arbeitnehmer in den Exportindustrien: Hier boomen die Arbeitsmärkte, sind Fachkräfte inzwischen schon knapp.
Unsere Partner in der Eurozone haben in den letzten Jahrzehnten die Löhne um die Produktivitätssteigerung und zwei Prozent Inflation erhöht, wie dies die Europäische Zentralbank (EZB) vorschlägt – Deutschland oft nicht einmal um die Produktivitätssteigerung. Für unsere Partner in der Eurozone bedeutet dies dann Handelsbilanzdefizite. Ihren Regierungen bleibt nur die Möglichkeit, durch Staatsprogramme Arbeitslosigkeit abzumildern. Diese müssen über Schulden finanziert werden. Deutsche Arbeitsplätze sind also auch Folge der Bereitschaft unserer Partner, sich zu verschulden.
Die deutsche Austeritätspolitik hat das europäische Projekt massiv gefährdet. Sie hat in den betroffenen Staaten zu massiver Staatsverschuldung, dem Abbau von Arbeitsrechten und sozialen Sicherungssystemen, zu Jugendarbeitslosigkeit geführt, und nicht zuletzt eine populistische Destabilisierung der Politik befeuert. Deutschland hat mit dieser Politik den unverhandelbaren und essentiellen Prinzipien seiner Außenpolitik widersprochen: Erstens nie wieder international isoliert zu agieren und seine Politik unter allen Umständen mit friedlichen Mitteln zu betreiben („Never again, never alone“). Die bisherigen Andeutungen, von dieser Politik abzuweichen, kommen viel zu spät und sind viel zu zaghaft.
Nur mit Hilfe langjähriger Transfers aus den reicheren Bundesländern konnte sich etwa Bayern vom unterentwickelten Empfängerland zum produktiven Nettozahler entwickeln.
Deutschland hat die Länder des südlichen Europas instrumentalisiert und zu einer ausgebeuteten Peripherie gemacht, die der deutschen Exportindustrie zuarbeitet. Es entsteht eine gespaltene EU zwischen hochproduktivem Exportweltmeister und stagnierendem EU-Süden.
Kein konservativer Wirtschaftswissenschaftler bestreitet ernsthaft, dass permanente deutsche Exportüberschüsse zur Aufwertung, und damit zur Verteuerung deutscher Arbeitskräfte auf dem Weltarbeitsmarkt führen müssten. Stattdessen wird den deutschen Arbeitnehmern aber noch eingeredet, sie seien mit ihrer Lohnzurückhaltung den faulen Südländern moralisch überlegen. Kaiser Wilhelm lässt grüßen: am deutschen Wesen soll die Welt genesen.
Wie lange werden sich das die deutschen Arbeitnehmer und die europäischen Nachbarländer gefallen lassen?
Weil das deutsche Wachstumsmodell nicht nachhaltig ist, schlägt der französische Präsident heute der Bundesrepublik ein Modell gemeinsamen Wachstums vor, das die Integration in Europa vertieft. Er will eine milde Transferunion und ein gemeinsames Budget der Europäischen Union zur Finanzierung von Infrastrukturmaßnahmen und Entwicklungsmaßnahmen in den schwächeren Ländern, also letztlich eine Art Länderfinanzausgleich, wie in Deutschland. Erinnern wir uns: Nur mit Hilfe langjähriger Transfers aus den reicheren Bundesländern konnte sich etwa Bayern vom unterentwickelten Empfängerland zum produktiven Nettozahler entwickeln. Dabei spielte auch die Nachfrage aus den reicheren Bundesländern eine große Rolle: Die IG-Metall hat nie mit dem Hinweis auf Arbeitsplatzverlagerungen nach Bayern Lohnsteigerungen in Nordrhein-Westfalen begrenzt. Als erste verhandelten Baden-Württemberg oder Nordrhein-Westfalen, so dass die Bayern ihre Löhne schrittweise nachholend auf das Bundesniveau anheben konnten.
Wer Transfers zwischen den Euro-Ländern begrenzen will, muss die Lösung steigender Löhne in Deutschland durchsetzen. Big Business in Deutschland ist wahrscheinlich die erste Kapitalistengruppe, die von den engagiertesten Gralshütern des Neoliberalismus, dem Internationalen Währungsfonds, mit Nachdruck ermahnt wird, doch endlich die Reallöhne zu steigern, um zu vermeiden, dass die Weltwirtschaft noch mehr durcheinandergerät. Populismus in Europa und den USA ist die Folge der Unvernunft des deutschen wirtschaftswissenschaftlichen und politischen Establishments.
Exportüberschüsse sind keine preussische Tugend, sondern eine Untugend und zerstören die Kooperation in der Weltwirtschaft. Die Gründer des erfolgreichen Bretton-Woods-Währungssystems haben deshalb gefordert, dass Überschussländer bestraft werden müssen. Der britische Ökonom John Maynard Keynes schlug vor, dass Einnahmen aus Exportüberschüssen niedrig verzinst an Defizitländer weiterzureichen sind. Im Vergleich zu einem solchen Vorschlag sind Macrons Vorschläge für ein Euro-Budget äusserst moderat.
Dabei würde den deutschen Arbeitnehmern und Arbeitslosen nichts weggenommen. Die hohen Exportüberschüsse sind zu einem erheblichen Teil auf den Finanzmärkten angelegt worden, Geldspekulation, die mit realer Wertbildung nichts zu tun hat. Das Weltbruttosozialprodukt beträgt weniger als ein Zehntel der jährlichen Finanzmarktspekulationen.
Ein Eurozonen-Budget reicht nicht, um die Unterschiede in Europa adäquat auszugleichen. Wenn man sich die Unpopularität des Solidaritätszuschlages in Deutschland ansieht, ein Projekt, das auf den Zusammenhalt eines Landes setzen konnte, dann wird erkennbar, wie gering der politische Spielraum für eine Transferunion derzeit wirklich ist. Wenn die deutsche Politik den Plan eines Eurozonen-Budgets nicht ergänzt durch stark steigende deutsche Reallöhne, stark steigende Ausgaben für soziale Infrastruktur und den Ausbau des Sozialstaates, bleibt nur das Ende des Euro, oder ein Euro ohne den deutschen Elefanten in seiner Mitte.