„Spät kommt Ihr – doch Ihr kommt!“  – Na endlich, könnte man sagen. Nach Monaten – ach was! – nach Jahren präsentierte die Eurogruppe vergangene Woche einen Bericht über ihre Verhandlungen zur Reform der Eurozone. Um es vorweg zu nehmen: die Ergebnisse der Verständigung zwischen den Mitgliedstaaten der Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) sind kleinteilig und kleinlaut.

Sie fallen besonders bescheiden aus, führt man sich vor Augen, welch umfassende Konzepte im Vorfeld diskutiert worden sind. Seit 2012 sind unzählige Roadmaps, Blueprints, Szenarien- und Reflexionspapiere zur Veränderung der Maastrichter Eurozonen-Architektur vorgelegt worden. Der Abgrund, in den die Gemeinschaft mit der Eurokrise geschaut hat, führte zu ambitionierten Konsensrezepten der europäischen Institutionen (Vier-Präsidenten-Bericht, Fünf-Präsidenten-Bericht), zu eindringlichen Mahnungen zur Konsensfindung (Emmanuel Macron) und zur Vorlage konkreter Reformpakete (Jean-Claude Juncker).

Im ersten Anlauf war man sich zwischen Europas Hauptstädten nicht einig über Richtung und Reichweite der Reformen, doch immerhin konnten der dauerhafte Rettungsfonds des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) installiert und die Bankenunion auf den Weg gebracht werden. Alles Strittige jedoch wurde ein ums andere Mal vertagt. Dann kamen die Europawahlen 2014 und machten eine Einigung zwischen Regierungen unterschiedlicher Parteifamilien unmöglich. Die von der Europäischen Kommission 2015 wiederbelebte Reformdebatte zündete bei den Treffen der Mitgliedstaaten in Rat und Europäischem Rat nicht: Als neues Narrativ galt nun, dass die Eurokrise angesichts des anziehenden Wachstums überwunden sei. Die EU benötigte jetzt ihre ganze Energie für neue Problemfelder, wie den Brexit und den Streit um einen abgestimmten Umgang mit zunehmender Migration nach Europa. Im kommenden Jahr stehen die nächsten Europawahlen an und man kann bereits beobachten, wie sich die Parteifamilien in gegenseitiger Abgrenzung üben – zulasten eines grenzüberschreitenden Kompromisses.

„Der weite Weg, Graf Isolan, entschuldigt Euer Säumen.“ – Bis zur letzten Möglichkeit hat man gewartet, um eine Einigung zwischen den Verteidigern einer Stabilitäts- und den Verfechtern einer Fiskalunion zu erreichen. Spätestens ab März 2019 ist Europawahlkampf. Wahrscheinlich sind neue Mehrheitsverhältnisse im Europäischen Parlament, die Bildung einer Kommission könnte kompliziert und langwierig werden. Mit großen Entscheidungen ist vor 2020 somit nicht zu rechnen.

Meister im Vertagen war die deutsche Regierung. Hierzulande hat man sich in das Märchen der Staatsschuldenkrise geflüchtet, wonach die Probleme der Eurozone dem Politikversagen in einzelnen Ländern, nicht aber systemischen Mängeln anzulasten seien.

Strategisch schlau war es nicht, die grundsätzliche Auseinandersetzung um die künftige Ausrichtung der Eurozone auf den letzten Drücker lösen zu wollen. In der Eurogruppe sind die Finanzminister Frankreichs und der Niederlande stellvertretend für sich hinter ihren jeweiligen Positionen gruppierende Staaten hart aneinander geraten. Heute rächen sich die zahlreichen verpassten Gelegenheiten, zu denen die Vertreter der Mitgliedstaaten über die lange vorliegenden Konzepte für die künftige WWU-Architektur hätten streiten können.

Meister im Vertagen war im Übrigen die deutsche Regierung. Hierzulande hat man sich in das Märchen der Staatsschuldenkrise geflüchtet, wonach die Probleme der Eurozone dem Politikversagen in einzelnen Ländern, nicht aber systemischen Mängeln der WWU anzulasten seien. Die Regelbindung des Stabilitätspaktes zu erhöhen, ansonsten aber den Status quo beizubehalten und umfassende Reformen auf die lange Bank zu schieben, ist über die Jahre zum Standard deutscher Europapolitik mutiert. Erst zuletzt ließen der Koalitionsvertrag, die Erklärung von Meseberg und der Vorstoß von Finanzminister Olaf Scholz zu einer europäischen Arbeitslosenrückversicherung ein Interesse am umfassenden Umbau der Eurozone erkennen.

Der deutsche Weg zur Erkenntnis, dass ein „Weiter so“ nicht funktioniert, ist sehr lang, vielleicht zu lang gewesen. Denn auf dem Weg sind die Rechtspopulisten mit ihrer allzu einfachen Antwort, der Euro an sich sei das Problem, immer stärker geworden. Sie sitzen in Italien in der Regierung der drittgrößten Volkswirtschaft der WWU und reiben sich vermutlich die Hände, wie einfach es für sie ist, das seit Jahren reformunfähige Euro-Establishment zu provozieren und sich zugleich als spendable Gönner für die eigene Bevölkerung zu inszenieren. Auf der Strecke geblieben ist auch die Durchsetzungsstärke der Kanzlerin: Sie wäre bis vor kurzem noch locker imstande gewesen, zusammen mit dem französischen Präsidenten einen in seiner politischen Dimension ungeheuer großen Pakt für Europa zu schnüren, der die Kritiker hätte verstummen lassen.

Mit dem eurokritischen Ralph Brinkhaus an der Fraktionsspitze der Union und nach dem Verlust des Parteivorsitzes ist es dafür vermutlich zu spät. Zeitgleich fragt sich die SPD-Basis, worin eigentlich der Sinngehalt der Großen Koalition besteht, wenn das  zu ihrer Begründung so wichtige Europathema nun doch nicht zentraler Hänger der Regierungsarbeit wurde. Und nicht zuletzt hat die Formulierung von Antworten aus Berlin auf die unmissverständlichen und beständig erneuerten Avancen aus Paris so lange gedauert, dass mittlerweile auch der Zauber um Macron verflogen, er selbst vom Gestalter zum Getriebenen geworden ist.

Alle Beteiligten wissen: Die Währungsunion ist weder für eine neue Krise gewappnet noch würde ihre Auflösung irgendetwas zum Besseren wenden.

„Wenn wir alle so gar bedenklich wollten sein!“ – Den Staats- und Regierungschefs wird von den Finanz- und Wirtschaftsministern eine Reform des ESM vorgeschlagen, der künftig auch vorsorgliche Kreditlinien vergeben können soll. Er soll in Zukunft als Backstop für die Abwicklung von Finanzinstituten im Rahmen der Bankenunion herhalten. Das allerdings ist nichts Neues, sondern gehörte von Anbeginn zu den Planungen für eine gemeinsame Aufsicht und Kontrolle des Bankensektors. Dagegen wurde die ebenfalls hierzu zählende gemeinsame Einlagensicherung mangels Einigung in eine Arbeitsgruppe verschoben. Zum wichtigsten Anliegen einer Stabilisierungsfunktion gegen asymmetrische Schocks war der Streit so groß, dass nur ein schmallippiges „technical discussions continue“ am Ende von 16-stündigen Beratungen der Eurogruppe stand.

Das Trödeln und Vertagen macht auch nicht halt vor Themen, die alle Staaten der EU angehen: Der Finanzministerrat möchte in Ermangelung einer konsensualen Position zum Vorhaben einer europäischen Digitalsteuer lieber auf die OECD setzen und die Arbeit an einer EU-Position ebenfalls in eine Arbeitsgruppe auslagern. Und die seit Jahren blockierte Finanztransaktionssteuer soll nach Plänen des österreichischen Ratsvorsitzes nun als reine Aktiensteuer kommen – ohne Besteuerung von Derivaten und Devisen in Puncto Finanzmarktregulierung ebenso ein Witz wie hinsichtlich der zu erzielenden Finanzeinnahmen.

„Ich fürchte, wir gehn nicht von hier, wie wir kamen.“ – Deutschland hat zu lange blockiert, gemauert und abgewartet und so dazu beigetragen, die Kontroverse um ein neues Design der Eurozone zu verschleppen. Das Gelegenheitsfenster der Reformbereitschaft zu Krisenbeginn ist fast wieder geschlossen, die Gestaltungsfreiheit der hierfür wichtigen politischen Akteure schwindet zusehends. Sechs Jahre nach Diskussion der ersten Reformpläne ist das vorliegende Ergebnis der Finanzminister viel zu minimalistisch. Alle Beteiligten wissen: Die Währungsunion ist weder für eine neue Krise gewappnet noch würde ihre Auflösung irgendetwas zum Besseren wenden.

Denn als Stabilitätsunion ohne Korrekturen an ihrer Maastrichter Architektur ist die Eurozone zum dauerhaften Krisenmodus oder zum Scheitern verurteilt. Ihr Umbau zu einer Fiskalunion erfordert drei unabdingbare Instrumente: Erstens einen europäischen Stabilisator zur Bekämpfung asymmetrischer Schocks – zum Beispiel eine europäische Arbeitslosenrückversicherung. Zweitens Garantien der geteilten Risikoübernahme im Krisenfall – in Form der vollständig umgesetzten Bankenunion und einer Gemeinschaftsanleihe. Drittens die frühzeitige Verhinderung makroökonomischer Ungleichentwicklungen durch einen neuen Makrodialog als Europäische Wirtschaftsregierung. Die Mitgliedstaaten sind zum Erfolg umfassender Reformschritte verdammt. Doch ohne die europäische Politikgestaltung unmissverständlich, umfassend und konsequent in den Mittelpunkt zu rücken, stirbt der politische Anspruch nach weitem Weg einen schnellen Tod.