Mit seinem Überfall auf die Ukraine hat Wladimir Putin endgültig die Friedensordnung aufgekündigt, die mit der Charta von Paris für ein neues Europa am Ende des „Kalten Krieges“ begründet wurde: Ihre auf Kooperation angelegten Institutionen liegen brach, ihre liberalen Werte werden von den russischen Invasoren fast im Wortsinn mit Füßen getreten. Eine Rückkehr zu den Prinzipien der Charta scheint spätestens seit dem 24. Februar 2022 auf absehbare Zeit unmöglich.

Am Ende des gegenwärtigen Krieges kann daher nicht allein die Wiederherstellung von Sicherheit und Souveränität für die Ukraine stehen. So wichtig die anhalten Debatten über die notwendige militärische und politische Unterstützung Kiews zweifelsohne sind, so wenig werden sie, für sich genommen, den Umwälzungen der „Zeitenwende“ gerecht: Ein militärisch-diplomatischer Erfolg der Ukraine kann nur nachhaltig sein, wenn er in eine gesamteuropäische Friedensordnung mündet, die Sicherheit und Stabilität im kontinentalen Maßstab dauerhaft zu gewährleisten vermag.

Am Ausgangspunkt einer Debatte über die dafür notwendigen normativen und institutionellen Grundlagen stehen zwei diametral entgegengesetzte Positionen. Einerseits argumentierte Bundeskanzler Scholz noch in seiner Regierungserklärung zur „Zeitenwende“, dass dauerhafte „Sicherheit in Europa nicht ohne Russland möglich“ sein würde. Tatsächlich dürfte weiterhin kein Szenario für den Ausgang des Krieges realistisch sein, das die Nuklearmacht Russland derart geschwächt zurücklässt, sodass sie ihre Fähigkeit verliert, die Stabilität und Ordnung in ihrer Nachbarschaft empfindlich zu stören. Andererseits heißt es neuerdings auch bei der SPD, dass „die Sicherheit Europas vor Russland organisiert werden“ müsse. Gerade wegen dieser fortbestehenden Gefahr russischer Aggression erwarten speziell die Staaten in Mittel- und Osteuropa zu Recht verlässlichen Schutz vor den post-imperialen Ambitionen Moskaus.

Der Erfolg des Europäischen Mächtekonzerts beruhte auf der Bereitschaft der Sieger, ihr Sicherheitsbedürfnis zu befriedigen, ohne den Antagonismus der Kriegsgegnerschaft zu perpetuieren.

Während die beiden Ansatzpunkte – Sicherheit vor Russland beziehungsweise Stabilität mit Russland – zunächst kaum vereinbar scheinen, zeigt ein Blick auf das Modell des Europäischen Mächtekonzerts, dass sie durchaus eine fruchtbare Verbindung eingehen können. Nach dem Ende der Napoleonischen Kriege, zwischen dem Wiener Kongress 1814/15 und dem Ausbruch des Krimkriegs 1853, erlebte Europa eine einzigartige Friedensperiode, in welcher die Großmächte Russland, Großbritannien, Frankreich, Österreich und Preußen es vermieden, gegeneinander Krieg zu führen. Tatsächlich verschränkte das Konzertsystem die Ansätze kollektiver Verteidigung und kollektiver Sicherheit auf eine Weise, die einem neuen Krieg durch Abschreckung und Anreize erfolgreich entgegenwirkte.

Das Moment der Abschreckung lieferte der 1814 geschlossene Vertrag von Chaumont, in dem sich die vier Alliierten zu einer langfristigen Verteidigungsallianz gegen Frankreich verpflichteten. Vier Jahre später wurde Frankreich auf dem Kongress von Aachen dann ein Angebot gemacht: Wenn es die grundlegenden Normen und Werte der auf dem Wiener Kongress geschaffenen Ordnung respektierte, könne es fortan als gleichberechtigtes Mitglied an den Konsultationen der Großmächte im Kongresssystem teilhaben.

Dahinter stand die Einsicht, dass es vorteilhafter sei, eine wirksame Verpflichtung aller Großmächte auf wenige Grundprinzipien zu erreichen, als eine ambitioniertere Agenda zu verfolgen, die jedoch von einzelnen „Veto-Spielern“ nicht mitgetragen und potenziell bekämpft wird. In diesem Sinne gründet der Erfolg des Konzertsystems auf der Bereitschaft der Sieger, ihr Sicherheitsbedürfnis zu befriedigen, ohne den Antagonismus der Kriegsgegnerschaft zu perpetuieren. Stattdessen investierten sie bewusst in eine Verständigung, mit der auch die unterlegene Macht langfristig in das System eingebunden wurde.

Heute zeigt sich, dass eine oberflächliche Verständigung auf nur vermeintlich geteilte Werte als Grundlage einer belastbaren Sicherheitsarchitektur nicht ausreicht.

Ob im Vertrauen auf seine unipolare Stärke oder in der Hoffnung auf ein Ende, wenn nicht der Geschichte, so doch der ideologischen Großkonflikte, hat der Westen einen solchen Interessenausgleich am Ende des Kalten Krieges versäumt. Heute zeigt sich am, aus Putins Sicht, wiedererstarkten, nationalistischen Russland, dass oberflächliche Verständigung auf nur vermeintlich geteilte Werte als Grundlage einer belastbaren Sicherheitsarchitektur nicht ausreichend ist und für alle Seiten zu unbefriedigenden Ergebnissen führt. Aus osteuropäischer Perspektive haben weder die Werte der Charta von Paris noch die Partnerschafts- und Assoziierungsabkommen der westlichen Institutionen wirksame Abschreckung gegen einen russischen Angriff geboten.

Vom Kreml aus betrachtet, haben die begrenzten Versuche institutioneller Einbindung, etwa im Rahmen der OSZE oder des NATO-Russland-Rates, keinen hinreichenden Anreiz für den Erhalt der bestehenden Ordnung bieten können. Und aus westlicher Perspektive muss der Versuch, Stabilität auf Grundlage einer inklusiven, wertebasierten Ordnung zu gewährleisten, als gescheitert angesehen werden.

Aus westlicher Perspektive muss der Versuch, Stabilität auf Grundlage einer inklusiven, wertebasierten Ordnung zu gewährleisten, als gescheitert angesehen werden.

Hier setzt die Idee einer Neuauflage des Konzertsystems als stabilisierendes Element einer europäischen Nachkriegsordnung an.  Sie könnte dem problematischen Ausgleich zwischen legitimen Sicherheitsinteressen einerseits und machtpolitisch unterfütterten Gestaltungsansprüchen andererseits durch eine effektive Kombination von Abschreckung und Anreizen  eine neue Grundlage geben..

Das Moment der Abschreckung würde in einem solchen System durch westliche Sicherheitsgarantien für die Ukraine und weitere interessierte Staaten im post-sowjetischen Raum bedient. Die naheliegendste Form wäre eine weitere Ausdehnung der NATO nach Osten. Doch vorerst scheinen deren Mitglieder – und wohl auch die Ukraine selbst – von diesem Ziel abgerückt zu sein. Einstweilen wird in Washington erwogen, die Sicherheit der Ukraine durch langfristige militärische Unterstützung sowie eine EU-Mitgliedschaft zu gewährleisten. Damit wären die USA zumindest formell außen vor, was ein deutliches Zeichen europäischer Eigenverantwortung und zugleich mit dem – jedenfalls auf dem Papier – über den Artikel V des NATO-Vertrages noch hinausgehenden Beistandsversprechen des Art. 47(7) EUV verbunden wäre.

Dies zu akzeptieren könnte Moskau durch den Anreiz gleichberechtigter Teilhabe in einem neuen europäischen Konzertsystem der Großmächte erleichtert werden. Die damit verbundene Gestaltungsmacht bei der Ausformung und Aufrechterhaltung der europäischen Sicherheitsarchitektur würde es Russland mit friedlichen Mitteln erlauben, eigene Ordnungsvorstellungen effektiv zu verfolgen und gegenläufige Ambitionen des Westens wirksam zu begrenzen. Damit würde eine lang gehegte Forderung Moskaus erfüllt und ein genuines Eigeninteresse Russlands am Erhalt der Ordnung begründet.

Die Teilhabe Russlands an einem erneuten Mächtekonzert wäre an Bedingungen zu knüpfen.

Solch weitreichende Teilhabe wäre freilich – wie damals gegenüber Frankreich – an Bedingungen zu knüpfen. Dazu müssten mindestens die Akzeptanz der fundamentalen Regeln des Völkergewohnheitsrechts, speziell des umfassenden Gewaltverbots im Sinne der Charta der Vereinten Nationen, sowie die Garantie territorialer Integrität, staatlicher Souveränität und Selbstbestimmung zählen – auch bei der Bündniswahl. So entstünde eine wirksame Verbindung zwischen der Garantie der Sicherheitsinteressen der mittel- und osteuropäischen Staaten einerseits und der Akzeptanz eines echten (Mit-)Gestaltungsanspruchs Russlands andererseits.

Mit der ursprünglich aus Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Russland und den USA bestehenden Jugoslawien-Kontaktgruppe existiert ein institutioneller Präzedenzfall, in dem der Konzert-Ansatz bereits zum Einsatz kam. Obwohl das Format regional begrenzt und durchaus problembehaftet war, fand es am Ende breite Akzeptanz in der Staatengemeinschaft, da es trotz Blockierung und Handlungsunfähigkeit der bestehenden, multilateralen Institutionen zu Lösungen gelangte. Dieser erfolgreiche Ansatz informeller Koordination der Großmächte ließe sich, womöglich mit ähnlicher Mitgliedschaft, aus dem konkreten regionalen Kontext lösen und für die Bearbeitung gesamteuropäischer Sicherheitsfragen nutzbar machen.

Eine solche Neuordnung der europäischen Sicherheitsarchitektur auf Grundlage eines modernen Konzertsystems wäre keinesfalls ideal und dürfte insbesondere bei kleineren Staaten, die gleichberechtigte Mitbestimmung erwarten, auf Vorbehalte stoßen. Aus westlicher Sicht würde sie zudem einen normativen Rückschritt hinter die nach dem „Kalten Krieg“ vermeintlich erzielten Erfolge bedeuten. Während eine Stärkung des Nichteinmischungsgrundsatzes westlich orientierte Staaten wie die Ukraine vor Einflussnahme aus Moskau schützen könnte, würde sie gleichzeitig die Bevölkerung von Autokratien wie Belarus ihrem Diktator weitgehend ohne internationalen Schutz ausliefern. Insoweit wäre zu erwarten, dass ein modernes Konzertsystem die Sicherheit der Mehrzahl der Staaten nur zu Lasten der Freiheit einiger Bevölkerungen gewährleisten kann. Gleichwohl scheint es denkbar, dass angesichts des Leids, welches die Rückkehr des Krieges nach Europa bringt, eine Rückkehr zu weniger ambitionierten, aber allgemein akzeptierten Standards im Ergebnis ein höheres Schutzniveau bewirkt, als ein Festhalten an idealistischen Prinzipien, die praktisch kaum durchsetzbar sind. Die Abwägung ist keinesfalls banal, umso dringlicher ist jetzt die Diskussion darüber.