Für ein „soziales Europa“ spricht sich eigentlich jeder aus, gerade im Europawahlkampf, der nun angelaufen ist. Aber was ist darunter zu verstehen?

Deutschland hat in dieser Frage eine eindeutige politische Grundstrategie, wie aus den Antworten der Wahlprüfsteine der Arbeiterwohlfahrt hervorgeht. Diese Strategie richtet sich nach der Maxime, dass ein soziales Europa erwirtschaftet werden muss. Anders gesagt: Man muss es sich leisten können. Doch tatsächlich ist von einer entgegengesetzten Prämisse auszugehen: Eine hohe Wirtschaftsleistung kann nur in einem Europa aufrechterhalten werden, das Vertrauen, soziale Sicherheit und Aufstiegschancen für alle bietet.

Wer behauptet, das komme von alleine, der irrt. Die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen müssen durch eine Sozialpolitik geschaffen und gestaltet werden, die mehr als nur eine marktflankierende Sozialpolitik ist. Das heißt Marktkorrektur und Umverteilung - nicht mehr und nicht weniger.

Diese Erkenntnis ist keineswegs neu oder originell, sie findet sich pointiert in den Schriften von Leibfried, Streeck und vielen anderen. Ein Fakt ist zudem, dass die Staaten der EU politikfeldübergreifend längst einen Teil ihrer Souveränität an die europäische Ebene abgegeben haben. Wem es also ernst ist mit einer Stärkung der sozialen Dimension, der wird auch nach supranationalen Lösungen für soziale Probleme suchen müssen.

 

"Mission verfehlt!"

An Erkenntnissen, Diagnosen und Fakten herrscht kein akuter Mangel. Die anstehende Halbzeit der Strategie Europa 2020, der sich alle Staaten verpflichtet haben, macht dies deutlich. Sie zeigt zugleich, wie groß die Probleme sind. Die Strategie selbst soll hier nicht im Detail erörtert werden. Mit ihr wollte man, vereinfacht formuliert, den bisherigen Pfad verlassen und eine neue Art Wachstum erzeugen.

Dieses neue Wachstum sollte Chancen und Möglichkeiten für möglichst alle entstehen lassen und gerade nicht auf Kosten der Schwächsten erfolgen. In ihrer konkreten Ausgestaltung ist die Strategie jedoch weniger ein großer Wurf als vielmehr Ausdruck eines vorsichtigen und pragmatischen Integrationsmodus, der ohne harte Mechanismen und Sanktionen auskommt. Statt auf Regulierung setzt er auf weiche Koordinierung, kleine Schritte und zunehmende Konvergenz. Die Strategie 2020 ist ein ausgeklügelter Prozess der wirtschaftspolitischen Steuerung und Koordinierung, bei dem die Mittel zur Zielerreichung den Mitgliedsländern überlassen bleiben.

Dieser Ansatz greift offensichtlich zu kurz. In einer ersten Bilanz, die im März veröffentlicht wurde, schreibt die Europäische Kommission: „Ungleichgewichte in den öffentlichen Finanzen, Immobilienblasen, zunehmende soziale Ungleichheit, Mängel hinsichtlich Unternehmertum und Innovation, dysfunktionale Finanzsysteme, Schwächen in der allgemeinen und beruflichen Bildung, leistungsschwache öffentliche Verwaltungen – all diese Probleme konnten in der Vergangenheit beobachtet werden, wurden jedoch nicht behoben und haben deshalb, als die volle Krise zuschlug, zum Zusammenbruch von Teilen unserer Volkswirtschaften beigetragen.“ Man könnte das auch kürzer sagen: „Mission verfehlt!“.

 

Was ist arm?

Diese Bilanz lässt sich mit besorgniserregenden Daten hinterlegen. Sie sind insbesondere dort problematisch, wo sie die Lebenslagen der Menschen selbst berühren. Ein Ziel der Strategie lautete: „Verringerung der Anzahl der Menschen, die von Armut und sozialer Ausgrenzung bedroht sind, um mindestens 20 Millionen.“ Zur Bemessung hat die EU drei Indikatoren identifiziert. Gezählt werden:

  1. Alle Haushalte mit sehr niedriger Erwerbsbeteiligung. Das sind Haushalte, in denen die Erwachsenen übers Jahr gerechnet kaum am Erwerbsleben beteiligt waren.
  2. Von Armut bedrohte Personen. Hier verbirgt sich der klassische Indikator für relative Armut, es handelt sich also um Personen mit einem verfügbaren Äquivalenzeinkommen unterhalb der Armutsgefährdungsschwelle, die bei 60 Prozent des nationalen verfügbaren Medianäquivalenzeinkommens (nach Sozialtransfers) liegt.
  3. Alle Personen, die unter erheblicher materieller Deprivation leiden, sich also fundamentale Dinge des täglichen Lebens nicht mehr leisten können.

Diese drei Indikatoren werden zu einem Indikator kumuliert. Als Ausgangswert für die Strategie 2020 zählte Eurostat 2008 auf diese Weise 116 Mio. Personen, die von Armut oder sozialer Ausgrenzung gefährdet sind. Ob die ursprünglich geplante Senkung auf 96 Mio. ehrgeizig war, spielt keine Rolle mehr. Denn die Armutszahlen steigen: Die Werte von 2012 liegen bereits bei über 124 Millionen.

Auch die einzelnen Indikatoren liefern ein eindeutiges Bild. Es lohnt, den dritten Indikator zur materiellen Deprivation genauer anzuschauen. Wie oben angedeutet werden damit Personen gezählt, die auf vier der folgenden grundlegenden Dinge verzichten müssen:

  1. Miete und Versorgungsleistungen,
  2. angemessene Beheizung der Wohnung,
  3. unerwartete Ausgaben, wie z.B. unerlässliche Reparaturen von Haushaltsgegenständen
  4. jeden zweiten Tag eine Mahlzeit mit Fleisch, Fisch oder gleichwertiger Proteinzufuhr,
  5. einen einwöchigen Urlaub an einem anderen Ort,
  6. ein Auto,
  7. eine Waschmaschine,
  8. einen Farbfernseher oder
  9. ein Telefon.

Die Anzahl derjenigen, die sich mindestens vier der aufgezählten Dinge nicht mehr leisten können, ist in Italien, Griechenland und Spanien dramatisch gestiegen. In Italien sind von 2008 bis 2012 rund 4,5 Mio. Menschen hinzugekommen, die nach der oben genannten. Definition unter erheblicher materieller Deprivation leiden. Das entspricht mittlerweile 14,5 Prozent der italienischen Bevölkerung. Dies sind letztlich Belege für sehr stark veränderte Lebensumstände oder anders gesagt: Für soziales Abrutschen.

Hinzu kommt: Die Daten belegen ein regionales Auseinanderdriften zwischen den Staaten („Nord-Süd-Gefälle“). Die zunehmende, mehrfache Spaltung zwischen arm und reich birgt enorme Probleme. Zuversicht und Vertrauen gehen immer mehr verloren. Wer einmal unten angelangt ist, hat nur noch wenig Chancen, sich selbst aus der Situation zu befreien– das ist auch in Deutschland so.

Weil steigende Ungleichheit stets zu abnehmendem Vertrauen und zu weniger Sicherheit und Wohlstand führt, geht es hier um eine Kernfrage. Nur wenn es gelingt, die zunehmende Spaltung aufzuhalten, ist ein intelligentes Wachstum im Sinne der Ziele der Strategie 2020 realistisch.

 

Ist die "Europäische Krise" wirklich schuld?

Ist die so genannte „europäische Krise“ schuld daran, dass der Stand der Zielerreichung so dramatisch schlecht ist? Zum Teil sicher. Die Rahmenbedingungen sind ungünstig. Aber genau dann ist die Politik gefragt, mutig zu handeln und ihr Primat gegenüber der Ökonomie geltend zu machen. Letztlich ist vieles, was gerne als „Krise“ bezeichnet wird, in erster Linie ein Hinweis auf massive Strukturprobleme, die sich eben auch in einem Fehlen einer europäischen Sozialpolitik, die diesen Namen verdient, manifestieren. Die weitere Ausweitung von Markt und Wettbewerb wird die Probleme nicht beseitigen, sondern verschärfen.

Die Politik ist gefragt, mutig zu handeln und ihr Primat gegenüber der Ökonomie geltend zu machen.

Mit viel Optimismus und allen Unkenrufen zum Trotz lässt sich die Europawahl als Gelegenheitsfenster für ein Umsteuern nutzen. Eine vertiefte Halbzeitbilanz der Europa 2020 Strategie, die mehr ist als die hier nur kursorisch angeschnittenen Daten, bietet genügend Material und Informationen, um die wichtigsten Fragen neu zu stellen und entsprechende Antworten zu geben. Sozialpolitik muss eine eigenständige Größe im Zielsystem der EU sein.

Dabei geht es nicht darum, in der gesamten EU die gleichen Standards einzuführen und damit eine Senkung sozialer Standards in den starken Volkswirtschaften Europas zu verantworten. Hier müssen Lösungen gefunden werden, die an die Lebensbedingungen der jeweiligen Länder und Regionen angepasst sind. Es geht jedoch sehr wohl darum, neue Arrangements für eine supranational verankerte Sozialpolitik zu finden, die letztlich Umverteilung zwischen Staaten und Regionen sowie innerhalb der Volkswirtschaften organisiert.

 

Was jetzt diskutiert werden muss

Über solche Arrangements muss offen diskutiert werden, denn ein echter Schritt in Richtung eines sozialen Europas ist in jedem Fall damit verbunden, dass Staaten weitere Kompetenzen an die EU abgeben. Es ist eine offene und ehrliche Debatte zu führen, wie ein solcher Prozess zu gestalten ist und wie sich das soziale Europa so mit dem Subsidiaritätsprinzip vereinbaren lässt.. Eine solche Debatte ist in jedem Fall besser als ein „Weiter so“ im Sinne einer Organisation von Konvergenz über demokratisch schwach legitimierte und weitgehend intransparente Koordinierungsprozesse zwischen nationalen Exekutiven.

Ein Austausch von Argumenten und Positionen würde alle Beteiligten dazu bringen, die Vorstellungen, die sich hinter dem allgemein gängigen Begriff „soziales Europa“, verbergen, offenzulegen oder überhaupt erst zu entwickeln. Und sie würde die politischen Akteure zwingen, die institutionellen Arrangements im Bereich der Sozialpolitik ebenso zu überdenken wie die Maßstäbe der Sozialpolitik. Dass darin möglicherweise eine Chance besteht, auch die Zivilgesellschaft in Europa zu stärken, sei nur am Rande ebenfalls erwähnt.

Zu diesen Forderungen gehören eine effektive Finanzmarktkontrolle und die rasche Umsetzung der Finanztransaktionssteuer.

Die Debatte ließe sich entlang klarer politischer Forderungen führen, zu denen bereits konzeptionelle Vorarbeiten verfügbar sind. Zu diesen Forderungen gehören eine effektive Finanzmarktkontrolle und die rasche Umsetzung der Finanztransaktionssteuer. Die Einführung einer Europäischen Arbeitslosenversicherung ist ebenfalls zu nennen.

Zu den Forderungen, entlang derer zu diskutieren ist, gehört zudem die Organisation von Umverteilung zwischen armen und reichen Staaten, verbunden mit effektiver Armutsbekämpfung und Maßnahmen zur Verbesserung der Qualität der Arbeit. Hier ist die Frage zu stellen, inwieweit der Europäische Sozialfonds ausreicht.

Es geht zudem um soziale Mindeststandards sowie Mindestlöhne, die in beiden Fällen an die Gegebenheiten der Länder angepasst sein müssen. Politischer Gestaltungswille im Sinne eines Sozialen Europa heißt, diese Forderungen im Sinne politischer Steuerung anzugehen. Das muss in der Debatte klar artikuliert werden.

Deutschland kommt eine wichtige Rolle zu. Denn wenn Berlin Verantwortung für die Union zeigen will, dann ist die Bundesrepublik in der Pflicht, sozialpolitische Impulse zu setzen. Dass die Bundesregierung dazu in der Lage ist, hat sie im Zuge ihrer Bemühungen zur Stabilisierung des Euros eindrucksvoll bewiesen. Ähnliche Anstrengungen und ähnlicher Mut sind nun im Bereich des Sozialen gefragt.

Bei diesem Beitrag handelt es sich um einen überarbeiteten Vortrag, den der Verfasser auf der Podiumsveranstaltung „Die soziale Krise der EU – wer trägt die Kosten?“ am 12. März in Berlin gehalten hat.