Die griechische Regierung zur Annahme des Unmöglichen gezwungen, eine Volksabstimmung abgebügelt, die deutsch-französische Partnerschaft beschädigt, europäische Kompromissdiplomatie durch Ultimaten ersetzt, den Euro zur Disposition gestellt, in weiten Teilen Europas anti-deutsche Ängste und Ressentiments mobilisiert und weitere 83 Milliarden für ein zum Scheitern verurteiltes „Rettungspaket“ versenkt: Erfolgreiche Politik sieht anders aus.
Das Schlimmste an der deutschen Politik ist nicht, dass sie hart und kompromisslos gegen die „reformunwilligen “ Griechen vorgeht, sondern dass sie falsch ist. Anstatt mit einer nachhaltigen Schuldenrestrukturierung und Unterstützung von Realinvestitionen Zeit und Akzeptanz für die schwierigen und zum Teil langwierigen Strukturreformen zu schaffen, wurde den Griechen erneut mehr vom Gleichen verordnet: Sparen bis zum Kollaps. Die Fortsetzung dieser erfolglosen Politik mit schwäbischer Gründlichkeit und preußischer Härte durchgesetzt zu haben, macht Wolfgang Schäuble in der Heimat populär und im Ausland zum ungeliebten deutschen Zuchtmeister. Diese Politik hat in Europa viel deutsches Vertrauen und Ansehen zerstört.
Tsipras sei Dank
Sicherlich, es hätte noch schlimmer kommen können. Man stelle sich vor, Alexis Tsipras hätte mit populistischer Geste das Brüsseler Ultimatum zurückgewiesen und der deutsche Finanzminister hätte seinen ‘Schrexit‘ bekommen. Griechenland wäre implodiert und möglicherweise unregierbar und der Euro als einheitliche Währung Geschichte. Finanzmarktspekulationen hätten sofort andere europäische Krisenländer ins Visier genommen und Deutschland wäre hauptverantwortlich für eine Umkehrung des europäischen Integrationsprozesses. Tsipras sei Dank, dass er lieber eine vollständige Demütigung hingenommen hat, als eine Katastrophe auszulösen.
Er hat mit dieser Einsicht Europa ein vielleicht letztes Zeitfenster zum Kurswechsel ermöglicht. Es gibt allerdings wenig Hoffnung, dass die Sieger von Brüssel den notwendigen Mut und die notwendige Beweglichkeit aufbringen werden, endlich die grundlegenden Konstruktionsfehler der Eurozone anzugehen. Umfangreiche regionale Infrastrukturpolitik, Ausgleichszahlungen für die Standortnachteile peripherer Mitgliedstaaten und gemeinschaftlich finanzierte Realinvestitionen sind ebenso erforderlich wie die Erkenntnis, dass Fehler der Vergangenheit nicht auf Dauer die Zukunft blockieren dürfen. Die griechische Bevölkerung hat in den letzten fünf Jahren große Opfer gebracht, um die schweren politischen und wirtschaftlichen Fehler der vergangenen Jahrzehnte auszugleichen. Die beispiellosen Einkommenskürzungen und Sparanstrengungen haben jedoch weder die Schuldenkrise gelöst noch das Investitionsklima verbessert, weil das Damoklesschwert des Staatsbankrotts und drohendem Ausstoß aus der Eurozone fortlaufend Kapitalflucht auslöst und jeden Privatinvestor abschreckt.
Dass die Griechen, trotz Bankenschließung und drohendem Wirtschaftschaos, dennoch überwältigend für Tsipras und gegen die Troika gestimmt haben, zeigt: Mehr Austerität geht unter demokratischen Verhältnissen nicht. Zukünftige Generationen können nicht auf Jahrzehnte in Haftung für eine korrupte Elite genommen werden, zumal Europa jahrelang gegenüber der griechischen Verantwortungslosigkeit beide Augen zugedrückt hat und eine gewisse Komplizenschaft nicht leugnen kann.
Wer die unabweisbare Notwendigkeit des Kurswechsels in der Griechenlandpoltik mit Verweis auf bestehende Verträge und Vertragsdiktate ignorieren will, betreibt Realitätsverweigerung. Das Griechenland als alternativlos aufgeherrschte Austeritätsprogramm ist wahrscheinlich seit Bestehen des IWF das erste, das selbst die „Mutter aller Austeritätsprogramme“ von Anfang an als aussichtslos einstuft.
Verlust des europolitischen Kompasses
Im Interesse Deutschlands und Europas muss man insbesondere in Berlin zum pragmatischen Realismus zurückkehren, der die Komplexität europäischer Wirklichkeit und nicht ein simplistisches Marktverständnis zum Ausgangspunkt politischen Handelns macht. Wie konnte es passieren, dass die deutsche Elite und die Mehrheit des deutschen Volkes in dieser Krise derart ihren europapolitischen Kompass verloren hat? Wo ist der sichere Instinkt eines Helmut Kohl geblieben, dass man mit „Bimbes“ Geschichte macht, aber keineswegs engen finanzpolitischen Bedenken erlaubt, den Lauf der Geschichte zu bestimmen? Der Kohlsche Weg zur Deutschen Einheit war mit zwei Billionen unvorstellbar teuer, doch eine politische Großtat. Ähnlich wie bei der deutschen Währungsunion kann auch heute die europäische Währungsunion ohne Transfers und Realinvestitionen in den Krisenländern nicht gelingen. Kein Vertrag, keine noch so harten Konditionen eines Hilfspakets, keine griechische Regierung kann daran etwas ändern.
Das Europa der Nachtsitzungen, der zahllosen Verhandlungen und ewigen Halblösungen, aber eben auch der fortschreitenden Integration ist gegründet auf einer Kompromisskultur zwischen Starken und Schwachen, Kleinen und Großen. Sie ist die Überwindung einer europäischen Geschichte konkurrierender imperialer Einflussspähren und Großmachtambitionen. Für niemanden war dieser Integrationsweg ein größerer Gewinn als für Deutschland. Nach zwei Weltkriegskatastrophen und den Nazi- und Kriegsverbrechen in ganz Europa war deutsche Dominanz trotz wirtschaftlicher Stärke unmöglich. Politische Zurückhaltung war in Bonn eine Frage der Staatsräson, um nach Auschwitz überhaupt in die europäische Zivilisation zurückkehren zu können. Diese aufgezwungene Bescheidenheit ist Europa, aber vor allen Dingen Deutschland gut bekommen. Ein Land zu groß um nicht ein Machtfaktor zu sein, aber als Hegemonialmacht zu klein, muss mit großer Staatskunst geführt werden, um Frieden, Freundschaft und Sicherheit für sich und seine Nachbarn zu ermöglichen.
Deutschland liegt in Europa
Von Adenauer bis Kohl konnten deutsche Kanzler nicht anders als das Richtige zu wollen. Bei beschränkter Souveränität, kaltem Krieg und wacher Erinnerung an Kragujevac, Lidice, Marzabotto, Oradour, Putten, Vinkt, Warschau und all der anderen Orte deutscher Kriegsverbrechen, konnten und wollten die Deutschen ihre Wirtschaftskraft nicht in einen hegemonialen politischen Führungsanspruch in Europa ummünzen.
Mit der Wiedervereinigung erlangte Deutschland seine volle staatliche Souveränität zurück und wurde das mit Abstand volkreichste und wirtschaftlich stärkste Land im Herzen Europas. Ab jetzt muss das Richtige aus voller eigener Verantwortung gewollt werden. Eine unweit schwerere Aufgabe, da ja nicht alles was für Europa gut ist, sich auch zwischen Rhein und Oder gleich auszahlt. Es bedarf der ständigen öffentlichen Begründung, warum vermeintliche aber auch tatsächliche nationale Interessen und Vorteile gegenüber dem größeren europäischen Friedensprojekt nachrangig sind.
Europa wird entweder demokratisch und solidarisch sein, oder es wird nicht sein. Europäische Integration über supranational institutionalisierte Marktmacht herbei konkurrieren zu wollen, ist eine Illusion technokratischer Träumer. Die Wirklichkeit passt nicht in das Korsett von Maastricht. An der demokratischen Vertiefung der wirtschaftlichen und politischen Union führt kein Weg vorbei, wenn man die einheitliche Währung behalten will.
Deutschland droht vom erfolgreichen Pfade der integrierenden Bescheidenheit und der pragmatischen Lösungen abzukommen. Aber dies ist nicht alternativlos und auch nicht unvermeidliches Beiprodukt größerer Macht, sondern ein Fehler. Für eine Kurskorrektur ist es nie zu spät. Das einseitige dritte Austeritätspaket mit einem schnellen und großzügigen Investitionsprogramm zu ergänzen wäre hierfür ein wichtiges Signal. Eine deutsch-griechische Kultur-, Bildungs- und Forschungsstiftung wäre ein weiterer Schritt, die vergifteten Emotionen zwischen den Völkern zu überwinden, bevor sie sich unheilvoll verfestigen.
Für einen Politikwechsel bedarf es neuer Ideen und, der Glaubwürdigkeit und des Vertrauens wegen, manchmal auch neuer Gesichter. Der griechische Finanzminister, wie sein deutscher Kollege mit großer Intelligenz und einer gewissen Arroganz gesegnet, ist auf dem Höhepunkt seiner Popularität zurückgetreten, um sich selbst treu zu bleiben, dem Vaterland zu dienen und einem Neuanfang zur Krisenbewältigung nicht im Wege zu stehen. Er hat sicherlich nicht alles richtig gemacht, aber das war beispielhaftes Verantwortungsbewusstsein.
21 Leserbriefe
Ich fürchte, das ist es. Europa hat noch nie einen Hegemon vertragen, und jetzt hat es einen - und es kann Jahrzehnte dauern, bis dieser Eindruck aufgeweicht werden kann. Damit ist das Projekt "Vereintes Europa" am Ende, denn Vertiefung der Integration unter deutscher Vorherrschaft wird europaweit als Aufforderung zur Unterwerfung verstanden. Schäuble, Merkel und - leider auch - Gabriel haben das europäische Projekt abgewürgt, das wird, fürchte ich, in 50 Jahren in den Geschichtsbüchern stehen. Europa ist erfolgreich gekillt - was ist der deutsche Plan B?
Das glaube ich nicht, die Katastrophe wird jetzt nur noch um 89 Milliarden vergrössert bei kleiner Verzögerung des Kolaps, zum Schaden der europäischen Steuerzahler und auf Kosten des verbliebenen griechischen Tafelsilber. Zur Erinnerung: Die meisten Schulden wurden von privaten Gläubigern zum Steuerzahler umgelenkt, daher sind keine Banken mehr am verhandeln, während Herr Josef Ackermann nun sein Pensionsgeld durch ein Pöstchen bei der zypriotischen Bank Cyprus geniessen kann, das er ohne den gelungenen Abverkauf der Zyprioten kaum erhalten hätte.
Das muss doch wirklich nicht sein. EUROPA ist im Weltmaßstab schon heute nicht schlecht und der
Olympische Geist des Sports, sollte im Sinne der nachwachsenden Generationen endlich auch in der EU Politik als Selbstverständnis Einzug halten.
Begeisterung für EUROPA scheint jedenfalls noch ein sehr armseliges EU-Entwicklungsgebiet zu sein.
Dazu hat diese Artikel mir einen weiteren wichtigen Denkanstoß gegeben. Danke, Herr Hoffer.
Wäre es nicht an der Zeit, diese "Stimmen der Vernunft" zu einer "Europäischen Koalition der Vernunft" zu bündeln?
Wer könnte dazu die Initiative ergreifen?
Solange wir solche Rechenkünstler wie einen Herrn Schäuble als Finanzminister haben, dem für den Moment eine schwarze Null wichtiger ist als unsere Infrastruktur, kann es wohl nichts werden. Herr v. Stetten kämpft für ÖPP. Klar doch, können doch damit die Besitzenden ihr weiß Gott wie erworbenes Kapital, gut verzinst vom deutschen Staat, für sich arbeiten lassen.
Warum erst danach all die vielen kritischen Berichte ? Warum haben die linken Intellektuellen und die Wohlmeinenden nichr vorher das "Handtuch" geschmissen und gesagt: "nicht mit uns". Wann endlich wird dieses aufgeblasene rechthaberische Deutschland einmal gedemütigt. Hier scheint das Fell dicker zu sein, denn selbst umfangreiche Spionageaffairen machen der deutschen Politik nichts aus. Tsipras hat für seine Leistung und die Demütigungen die er auch persönlich einstecken mußte einen NObelpreis verdient. Wenn der Spiegel nun auch noch eins oben drauf setzt in dem er versucht ,nach Boulevard-Presse -Manier , Varofakis zu "demontieren" ist es nur noch peinlich. Als Erinnerung: Die Reise des jungen Che mit dem Motorrad haben nichts mit seinen späteren politischen und sozialen Leistungen zu tun. Varofakis hat das einzig richtige getan: Einfach Abbrausen und diesem "Krawatten-Kapitalismus" gezeigt, dass es auch anders gehen könnte. Zum Glück klebt er nicht - wie deutsche Politiker - an seinem Stuhl, da er sein Geld auch noch mit ehrlicher intellektueller Arbeit verdienen kann und wird. Der Spiegelredakteur hätte sich diesen Besuch in Athen sparen können, da er doch nur die alten Muster und Vorurteile gegen diesen Mann bedienen wollte.
D.h. nicht, dass sich in den staatlichen Strukturen nichts verändern sollte, nur wie soll das bei den momentanen Gegebenheiten gelingen. Hilfe und eine europäische Transferunion sind daher zwingend und auch gerecht.
Jeder sollte sich fragen, wie er bzw. unsere Politiker reagieren würde, wenn ein anderer Staat oder die EU solche undemokratisch zustande gekommenen Forderungen/Erpressungen Deutschland gegenüber durchsetzen wollte.
sie stellen analystisch klar dar, warum die gewählte Politik falsch ist und können nicht verstehen warum die verantwortlichen Politiker dermaßen ideologisch verblendet sind, dieses nicht zu sehen.
Sehen Sie es mal so, das Ergebnis dieser Politik ist:
1. Die Reichen werden reicher und alle anderen Ärmer.
2. Die Einflußmöglichkeiten der Bevölkerungen (nennt man allgemein Demokratie) werden immer weiter beschnitten und teilweise komplett abgebaut, siehe Griechenland. Die Macht konzentriert sich - genau so wie das Vermögen - auf einige wenige.
Nachdem sie darüber mal nachgedacht haben, glauben Sie wirklich noch daran, dass die Verantwortlichen so unglaublich dämlich sind, das nicht zu sehen? Nein....das Ergebnis ist genau so gewollt und sämtliche Argumente, dass diese Politik doch nur zu Verelendung großer Teile (aber eben nicht aller) der Bevölkerung führen kann erzeugt laute Lacher und Gedanken wie...ja das wissen wir, es ist der Zweck dieser Politik.
Es wurde schon bekannt daß Tsipras ein MoU unterschrieben hat, wonach Griechenland alle profitabel Flughafen an Deutschland ausverkauft. Noch, daß die riesige Öl- und Gasvorkommen an deutschen Händen kommen sollen.
Und die komische Puppen der Europäischen Kommission spielen Theater: DG COMP.
Sehr geehrte Herren, es gibt keine Schulden. Nur der Appetit "deutschen" Großaktionäre um Griechenlands Resourcen zu plündern!
Ob diese Aktionäre die Amis sind...???
mfG
ak
Die Wikingerinsel hat bereits alles erlebt: Hyperinflationen, Finanzcrashs, Bankenpleiten. Jetzt steht mit dem Vollgeldsystem eine radikale Reform zur Debatte, die auch in der Schweiz Anhänger hat //www.tagesanzeiger.ch/wirtschaft/konjunktur/Island-liebaeugelt-mit-der-Geldrevolution/story/31573626
Island wird mit Vollgeld gut fahren, sagt mein Bauchgefühl. Diese Gedanken geben einige Antworten zu der Ursächlichegründen zu der Finanzkrise in Griechenland, und Spanien, aber auch zu der kronische Überschuldung der Bürger und Gemeinden, überall, inklusive Deutschland. In Südländer ungewöhnlich niedrige Zinsen wegen €, Umsatzgierige Kreditgeber willig an jeden für Konsum und auch Bau Kredit zu geben und nicht zu letzt die VW, Mercedes und Cos, mit eigene Banken um die Autoabsatz-Käufe zu finanzieren, usw sind einige wichtige Ursachen der Krise ..... Irland hatte m.E. andere Gründe. .... Bist du heute mutig und kreditwürdig, kannst zu Reich werden. Vollgeld wird natürlich alles verlangsamen. Das wie zu verstehen, müssen wir uns mit der Ideen von Irving Fischer beschäftigen. Wie kam von Fischer zu heute wo wir sind? Negative Zinsen in die Schweiz, weil jede sein Vermögen dorthin sicher parkieren will, .... die Grundidee der deutsche Bausparkassen Systems finde ich gut. Und kann auf alles übertragen werden. Bleiben wir daran.
Im Antwort schreibt mir ein Finanzprofi: "Man darf nicht vergessen, dass des einen Konsum des anderen Einkommen ist (auch wenn die beiden wegen der Globalisierung nicht immer im selben Land wohnen). Den Konsum abzulehnen, heisst (in unserem Wirtschaftssystem) „am eigenen Ast zu sägen“. Wie sollen die Isländer/Spanier/etc. denn ein Haus kaufen? Woher sollen die kleinen Handwerker leben, und wovon die Angestellten der Autoindustrie etc.? Die Alternative wäre Autarkie, aber die ist bestimmt nicht mehrheitsfähig..."
The economic questions are quite complicated, but we have to stay Close.
Kind regards
faust