Europa und die Europäische Union zerfasern gerade in informelle Teilallianzen. Diese werden dabei von sehr unterschiedlichen, bisweilen konträren Ideen angetrieben und sind in unterschiedlichen Geschwindigkeiten unterwegs. Da sind die Sparfüchse der „Frugal Four“, eine nordisch-habsburgische Allianz gegen den „Stabilitäts- und Wachstumspakt“, den sie als Einstieg in die „Schuldenunion“ anklagen. Dann gibt es die Visegrád Four, die eine ganz andere, völkisch-nationalistische und christlich-abendländische EU anstreben, sich der Gelder aus Brüssel gerne bedienen und dann mauern gegen – vor allem muslimische – Migranten. Schließlich ist da der schuldenbeladene „Club Med“, der die ganze Last der Migration übers Mittelmeer zu tragen hat und sich nicht zu Unrecht diskriminiert und abgehängt fühlt. Ein Vektor der Zentrifugalkräfte ist die vermeintliche Übermacht Deutschlands und Frankreichs, die in Den Haag und Rom genauso kritisch beäugt wird wie in Budapest und Warschau.

Das „Weimarer Dreieck“ gehört nur entfernt zu diesen Clubs und dürfte auch nur Liebhabern bekannt sein. Vor exakt 30 Jahren von den Außenministern Frankreichs, Deutschlands und Polens in Weimar konstituiert, verbanden sich mit dieser Triangulation große Hoffnungen. Auf drei Säulen sollte das vereinte Europa einen solideren Stand haben als auf der deutsch-französischen Achse. Mehrfach wurde im vergangenen Jahrhundert auf hochrangigen Treffen ein gemeinsames Vorgehen im Inneren der EU wie nach außen verabredet. Bis dann der polnische Ministerpräsident Lech Kaczynski nach konkreten Ergebnissen fragte – und keine feststellen wollte. Das war zweifellos übertrieben und von der Antipathie gegen alles bestimmt, was aus Berlin gekommen war. Und es wurde zur Ouvertüre des späteren Ausscherens der polnischen Rechtsregierungen – im Bunde mit Viktor Orbáns Fidesz-Regime – aus der liberalen Werteordnung und führte zur sang- und klanglosen Beerdigung dieses Clubs der nunmehr Unwilligen.

Auf drei Säulen sollte das vereinte Europa einen solideren Stand haben als auf der deutsch-französischen Achse.

Das brandenburgische Schloss Genshagen ist zu einer Art Symbol des Dreiecks geworden. Oft wurde dort bedeutende intellektuelle Arbeit zur Ausfüllung der Dreiecksvision geleistet. Immer noch treffen sich dort Gutwillige, die dem mit 30 schon alt und müde gewordenen Kind neues Leben einhauchen wollen – allerdings oft auch ratlos bleiben. In Warschau stellt man sich unter Demokratie und europäischer Integration mittlerweile etwas ganz anderes vor als in Paris und Berlin. Ebenso wachsen zwischen Deutschland und Frankreich die Unterschiede eher, als dass die lange Freundschaft sich in konkrete Projekte in Fragen der Umwelt- und Klimapolitik, der Migration und der europäischen Sicherheit umgemünzt hätte.

Diese drei Politikfelder bestimmen die europäische Agenda heute jedoch mehr denn je. Der Klimawandel hat noch an Fahrt aufgenommen und macht nicht nur den Kohleausstieg dringlicher, sondern erfordert eine koordinierte europäische Umwelt-, Klima- und Nachhaltigkeitspolitik, die auch geopolitisch an Gewicht gewinnt. Die Migrationsfrage hat seit 2015 einen tiefen Keil in die EU geschlagen. Doch stehen – gerade auch im Zusammenhang mit der Klimakrise – noch größere Herausforderungen an, denen man mit nationalistischer Abschottung nicht begegnen kann. Das Afghanistan-Debakel hat das Fehlen eines europäischen Sicherheitskonzepts unter Beweis gestellt. Dessen Abwesenheit wird noch stärker zutage treten, wenn die Vereinigten Staaten sich aus Europa zurückziehen, wie Präsident Joe Biden sehr deutlich angekündigt hat. Doch war beim jüngsten Treffen der EU-Verteidigungsminister eine militärische Kooperation noch nicht einmal in Ansätzen erkennbar.

In Warschau stellt man sich unter Demokratie und europäischer Integration mittlerweile etwas ganz anderes vor als in Paris und Berlin.

Diese drei Agenden werden in den Ländern des Weimarer Dreiecks als nationalstaatliche Angelegenheiten verwaltet und wie Augäpfel nationaler Souveränität gehütet. Längst ist allerdings klar, dass sie im 27fachen Alleingang niemals kleinzuarbeiten sein werden. Speziell in Polen kommen massive Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit hinzu, die man in Paris, Brüssel und Berlin nicht einfach hinnehmen kann. Die Rhetorik des Weimarer Dreiecks klingt hohl. Gleichwohl sollte das Format überdacht und erneuert werden. Paradoxerweise scheint ausgerechnet die Klimapolitik der EU dazu der beste Hebel zu sein. Weltanschauliche Differenzen können hier mit einer inklusiven, aber sozusagen „technischen“ Roadmap am ehesten überwunden werden.

Das Pathos des Weimarer Dreiecks ist vergangen. Und doch könnte ein „Weimar plus“ Zukunft haben. Erstens als eine Tangente über die eingangs beschriebenen Zentrifugalkräfte, welche die sich bildenden Fragmente verklammert. Der Mehrwert wäre vielversprechend: Frankreich könnte Aspekte der Süd-Süd-Kooperation auch jenseits des Mittelmeers einbringen, Deutschland eine Brücke in die nordischen und baltischen Staaten schlagen und Polen Kooperationen in Richtung Balkan vorantreiben, der am meisten vernachlässigten Region Europas. Das Bindeglied könnte eine gemeinsame Energie- und Klimapolitik sein, die jeweilige Stärken ausbaut und Schwächen kompensiert.

Die Rhetorik des Weimarer Dreiecks klingt hohl. Gleichwohl sollte das Format überdacht und erneuert werden.

Dazu bedarf es weniger der Gipfeltreffen schwerfälliger Regierungen als vielmehr der bürgerschaftlichen Kooperation. Das ist die zweite denkbare Innovation für „Weimar 2.0“. In Deutschland und in Frankreich gibt es Experimente mit Bürgerräten – beratenden Gremien, die nicht etwa gegen die repräsentative Demokratie eingerichtet wurden, sondern zu deren Unterstützung durch eine nachhaltige Debatte der aktuellen Streitfragen und durch die Herstellung eines Konsenses über die politischen Lagergrenzen hinweg. In Frankreich hat ein entsprechender Klima-Konvent getagt. Bei uns hat man sich über die Rolle Deutschlands in der Welt Gedanken gemacht. Die Idee einer konsultativen Demokratie macht ihren Weg, und es gibt genügend Analogien in der polnischen Bürgergesellschaft. Nächster Treffpunkt könnte also Weimar 2022 sein – mit einem trilateralen Bürgerrat.