Die Bundestagswahlen wurden in ganz Europa als Ereignis diskutiert, dessen Ergebnis nicht nur die künftige Richtung deutscher Politik bestimmen würde, sondern auch die Zukunft des Kontinents insgesamt. Durch die Verflechtung der europäischen Sozial-, Wirtschafts- und Finanzpolitiken in den etablierten und neugeschaffenen europäischen Institutionen, und wegen Deutschlands starkre Rolle bei der Durchsetzung dieser Institutionen, wurde ein starker Effekt der bundesdeutschen Wahlen auf den Rest der EU erwartet.
In der Europäischen Union insgesamt aber insbesondere in den krisengeschüttelten Ländern der europäischen Peripherie wurde Merkels konservativ-liberale Regierung als Inkarnation einer rücksichtslosen und kurzsichtigen Austeritätspolitik wahrgenommen.
In der Europäischen Union insgesamt aber insbesondere in den krisengeschüttelten Ländern der europäischen Peripherie wurde Merkels konservativ-liberale Regierung als Inkarnation einer rücksichtslosen und kurzsichtigen Austeritätspolitik wahrgenommen. Diese Regierung war dadurch ein Schlüsselfaktor für die Verlängerung und Verschärfung der Wirtschaftskrise in der Eurozone. Das Resultat ist eine lange und zerstörerische Rezession, die Jahre oder sogar Jahrzehnte des ökonomischen Fortschritts zerstört hat, und von der sich einige europäische Länder erst jetzt langsam erholen. Europa leidet an gigantischen Arbeitslosenquoten, von denen junge Menschen besonders betroffen sind. Die Jugendarbeitslosigkeit steht in der Europäischen Union bei 23 Prozent. In Spanien übertrifft sie 50 Prozent, ebenso in Griechenland und Kroatien. Deutsche und europäische Politik hat eine verlorene Generation in Europa herbeigeführt.
Die Jugendarbeitslosigkeit steht in der EU bei 23 Prozent. In Spanien übertrifft sie 50 Prozent, ebenso in Griechenland und Kroatien. Deutsche und europäische Politik hat eine verlorene Generation in Europa herbeigeführt.
Bekanntlich haben die Bundestagswahlen nicht zu einem Erdrutschsieg der Opposition aus Sozialdemokraten, Grünen oder Linken geführt. Im Gegenteil: Merkels regierende Christdemokraten erzielten einen deutlichen Wählerzuwachs. Dieser Erfolg ging auf Kosten ihres Juniorpartners FDP, die aus dem Bundestag ausschied. Merkel muss nun nach neuen Partnern Ausschau halten und hat jüngst Koalitionsverhandlungen mit der SPD über die Bildung einer neuen Regierung eingeleitet. Die Hoffnungen auf einen Wandel der alten Politik hängen jetzt an der Frage, wie sich die SPD in den Verhandlungen schlägt.
Für ein strategisches Umdenken und eine Revision der aktuellen Politik
Wir sind der Auffassung, dass die neue Bundesregierung mit Nachdruck für weitreichende Revisionen der fehlerhaften aktuellen europäischen Wirtschafts- und Sozialpolitik eintreten muss, um Europa zurück auf einen Pfad zu nachhaltigem Wachstum und Beschäftigung zu bringen. Kernbestandteile einer solchen Revision sollten sein: direkte Maßnahmen gegen Jugendarbeitslosigkeit wie zum Beispiel die Implementierung und volle Finanzierung einer europäischen Jugendgarantie, effektivere arbeitsmarktorientierte Mobilitätsprogramme oder neue Beschäftigungsmöglichkeiten im öffentlichen Sektor für junge Angestellte. Doch das dürfte nicht ausreichen.
Eine starke Mehrheit im größten Mitgliedstaat der Europäischen Union, die konträre Ansichten über die europäische Integration in sich vereint, kann sehr sinnvoll und legitim sein, wenn es darum geht, das Bankensystem substantiell zu reformieren, die sich anhäufenden Bilanzungleichgewichte in der Eurozone anzugehen und einen Wachstums- und Beschäftigungspakt zu finanzieren, der seinen Namen tatsächlich verdient. Wir halten dies für die kurz- und mittelfristig entscheidendsten Politikfelder.
Die Unterregulierung des Finanzsektors endlich beenden!
Die Unterregulierung des Finanzsektors hat die Wirtschaftskrise mit ausgelöst. Die Mechanismen zur Kontrolle von Spekulation und ungebremsten Kapitalflüssen waren schlicht unzureichend. Eine Reihe von Bankenrettungen führte dazu, dass private Schulden in öffentliche Schulden umgewandelt wurden, ohne dass der Finanzsektor in diesem Prozess restrukturiert worden wäre.
Kernbestandteile einer Revision: direkte Maßnahmen gegen Jugendarbeitslosigkeit wie eine europäische Jugendgarantie, effektivere arbeitsmarktorientierte Mobilitätsprogramme oder neue Beschäftigungsmöglichkeiten im öffentlichen Sektor.
Eine europäische Bankenunion muss deswegen sicherstellen, dass es zu weniger Spekulation kommt, und dass strengere Kapitalerfordernisse wie nach Basel III, den neuen internationalen Regulierungsrichtlinien der G-20, implementiert werden. Das Kundengeschäft muss vom Investmentbanking getrennt werden. Zudem muss ein europäischer Abwicklungsmechanismus geschaffen werden, sodass die öffentliche Hand nicht mehr die Verpflichtung übernehmen muss, toxische Schulden aus dem Finanzsektor zu übernehmen.
Die endgültige Entscheidung über Sanktionen oder Restrukturierungen von systemrelevanten Banken muss in einer zentralen europäischen Agentur liegen, vorzugsweise einer neu etablierten Aufsichtsbehörde innerhalb der europäischen Zentralbank. Nationale Aufsichtsbehörden sollten für die kleinen und mittleren Banken, für Genossenschaftsbanken und Sparkassen verantwortlich sein.
Der wichtigste Aspekt der Bankenunion ist jedoch ein System der europaweiten Einlagesicherung, um die Schieflage von Banken aufgrund nationaler „Bank Runs“ zu verhindern. Dies sollte hauptsächlich durch den Bankensektor selbst finanziert werden. Letztendlich jedoch kann nur der Staat die Glaubwürdigkeit eines solchen Systems garantieren. Die aktuellen Koalitionsverhandlungen werden eine Schlüsselrolle für die deutsche Position gegenüber der europäischen Bankenunion spielen. Und ohne eine gründliche Restrukturierung des Finanzsektors läuft Europa Gefahr, dem Beispiel Japans aus den 1990er Jahren in die Stagnation zu folgen.
Bilanzungleichgewichte ausgleichen, Rezession beenden
In den ersten zehn Jahren des Euros haben in die Peripherie umgeleitete deutsche Überschüsse deutlich zur exzessiven Aufblähung und zum anschließenden Zusammenbruch etwa auf dem Wohnungsmarkt beigetragen. Diese Finanzflüsse führten also zu einer übersteigerten privaten Verschuldung, die angegangen werden muss, wenn nachhaltiges Wachstum in die Peripherie zurückkehren soll.
Viele junge Europäer sind der Rezession und schwächer werdenden Sozialleistungen zusätzlich zu den ohnehin prekären Arbeitsbedingungen und reduzierten Einkommen ausgesetzt.
Bis jetzt bestand die deutsche Wirtschaftspolitik in dieser Krise aus einer einseitigen Anpassung der existierenden Ungleichgewichte. Die Schuldnerländer mussten fast die gesamte Last alleine zu tragen. Die aktuelle Politik der Austerität und der Kürzungen im öffentlichen Sektor inmitten einer Phase des Schuldenabbaus und der daraus folgenden Konsumschwäche des Privatsektors hatte furchtbare Folgen für das Wachstum in der Peripherie. Gekoppelt an strukturelle Anpassungen, den Euphemismus für Lohnkürzungen, hat dies die Kürzung von Einkommen im Angesicht riesiger Schuldenberge bedeutet.
Viele junge Europäer sind dieser Situation der ökonomischen Rezession und schwächer werdenden Sozialleistungen zusätzlich zu den ohnehin prekären Arbeitsbedingungen und reduzierten Einkommen ausgesetzt. Bildung hat in diesem Kontext aufgehört, soziale Mobilität zu garantieren: Die Arbeitslosenrate spanischer junger Erwachsener mit Hochschulbildung ist die gleiche wie die älterer Spanier die nur über eine Grundausbildung verfügen. Dies hat nicht zuletzt dazu geführt, dass gut ausgebildete Menschen das Land verlassen.
Bildung hat in diesem Kontext aufgehört, soziale Mobilität zu garantieren...
Die Wahl, vor der wir stehen, ist also, ob die Ungleichgewichte im Herzen der Eurozone nun ausgeglichener angegangen werden was eine Erhöhung der internen Nachfrage im Zentrum der Eurozone voraussetzt. Aus Sorge um die Exportindustrie hat Deutschland bisher nur zögerlich auf solche Vorschläge geantwortet. Dies ist jedoch ein irreführendes Argument, das die neue Regierung überwinden muss, wenn eine ausgeglichenere Politik das Ziel sein soll.
Für einen Wachstums- und Beschäftigungspakt
Es war ein Fehler, allen Mitgliedern der Eurozone gleichzeitig dieselben Rezepte der fiskalischen Konsolidierung zu verschreiben. Die Folge waren riesige Mengen an verschwendeter Produktionsleistung und die höchste Arbeitslosenquote seit der Einführung der gemeinsamen Währung. Denn irgendjemand muss inmitten dieser Phase der Neuausrichtung und des privaten Schuldenabbaus auch investieren und konsumieren.
Ein Wachstums- und Beschäftigungspakt ist von zentraler Bedeutung für einen Politikwechsel. Dies darf jedoch nicht nur ein Buchhaltungstrick oder leere Rhetorik bleiben. Der vom DGB vorgeschlagene Marshallplan für Europa zeigt hier in die richtige Richtung.
Ein Wachstums- und Beschäftigungspakt ist von zentraler Bedeutung für einen Politikwechsel. Dies darf jedoch nicht nur ein Buchhaltungstrick oder leere Rhetorik bleiben.
Ein europaweiter Stimulus angetrieben durch deutsche Ausgaben wäre die beste Option für die europäische Peripherie. Leider ist dies politisch nicht die realistischste Option, denn sie würde einen Bruch mit dem gegenwärtigen Fokus auf Preisstabilität und fiskalische Zurückhaltung bedeuten und ist unvereinbar mit dem Ordoliberalismus, der die deutsche Wirtschaftspolitik bislang charakterisiert. Vor diesem Hintergrund bleibt wenig Grund für Optimismus in Bezug auf einen kurzfristigen und grundsätzlichen Richtungswechsel in der neuen Koalition.
Massenarbeitslosigkeit oder Armutsgehälter? Das ist nicht die Frage!
Die Krise hat gezeigt, dass der soziale Konsens im Nachkriegseuropa am Ende ist. Wirtschaftliche Sicherheit, die einst durch den Wohlfahrtsstaat und Vollbeschäftigung garantiert wurde, stellt längst keine Sicherheit mehr dar. In vielen europäischen Ländern sieht sich der Wohlfahrtsstaat vielmehr massiven Angriffen ausgesetzt – in einem Moment, in dem lediglich Massenarbeitslosigkeit oder Armutsgehälter als Optionen möglich scheinen. Die aktuelle Obsession mit Wettbewerbsfähigkeit bedeutet letztlich eine totale Kommodifizierung der Ressource Arbeit, die jede Art soziales Europa unmöglich macht.
Deutschlands aktuelles merkantilistisches Modell ist weder für den deutschen Arbeitsmarkt noch für deutsche Nachbarn sinnvoll. Denn Deutschlands Nachbarn sind jetzt verpflichtet intern abzuwerten, indem sie Gewerkschaften schwächen und den Arbeitsmarkt flexibilisieren, ohne dabei die Möglichkeit zu haben, in langfristige Produktivitätszuwächse zu investieren.
Der für Deutschland vorgeschlagene Mindestlohn würde dem Niedrigeinkommenssektor in Deutschland sofort helfen und würde sicher auch in Europa auf mittelfristige Sicht positive Wirkung entfalten. Was gut für die prekär Beschäftigten in Deutschland ist, ist auch gut für die prekär Beschäftigten in den Nachbarländern. Wir brauchen eine Spirale von lohngetriebener Nachfrage in ganz Europa.
Junge Menschen in ganz Europa leiden an Arbeitslosigkeit und an Perspektivlosigkeit und fordern eine klare und rasche Veränderung der aktuellen europäischen Politik und ein Ende der Austerität.
Als größte Volkswirtschaft in Europa hat die deutsche Politik bedeutsame Konsequenzen für den Rest der Europäischen Union und insbesondere für die Eurozone. Berlin kann seine politische und ökonomische Macht nun für eine nachhaltige und soziale Entwicklung einsetzen, die die Situation der jungen Leute in Europa verbessert. Junge Menschen in ganz Europa leiden an Arbeitslosigkeit und an Perspektivlosigkeit und fordern eine klare und rasche Veränderung der aktuellen europäischen Politik und ein Ende der Austerität. Nur wenn die künftige Bundesregierung diesen Wandel sicherstellen kann, ist eine Große Koalition gerechtfertigt.