Europa gilt nach wie vor als einzigartiges Erfolgsmodell. Wie attraktiv wir nach außen sind, ist uns in den zurückliegenden Wochen im Kontext der Ukraine wieder einmal vor Augen geführt worden. Die seit Jahren andauernde ökonomische Krise in Europa hat sich jedoch längst zu einer sozialen Krise entwickelt. Deshalb gilt es jetzt, auch innerhalb des Gemeinschaftsraumes unsere Hausaufgaben zu machen. Die Solidarität in der EU scheint bisweilen bis aufs Mark erschüttert, das Gerechtigkeitsempfinden ist zutiefst gestört.

Wenn man die soziale Krise in Europa verstehen will, dann sind persönliche Begegnungen oft noch viel eindrücklicher als nackte Zahlen. Einen dieser Momente erlebte ich kürzlich bei einer meiner Reisen nach Griechenland. In Thessaloniki begegnete ich einer jungen Frau, deren Geschichte mich tief berührt hat. Diese junge Frau, eine Diplom-Ingenieurin, Anfang 30, erzählte mir, dass sie nun bereits seit einem Jahr arbeitslos sei, keinerlei Sozialleistungen empfange und kürzlich in ihrer Not wieder bei ihren Eltern eingezogen sei. Diese Geschichte hat mir gezeigt: Wenn es einen Grund gibt, warum die soziale Explosion in Griechenland bislang ausgeblieben ist, dann nur aufgrund des traditionell starken familiären Zusammenhalts. Von dieser Solidarität innerhalb der Familie können wir auch in Europa lernen. Denn nur wenn wir in der Krise zusammenstehen und den Schwachen eine Perspektive für eine bessere Zukunft geben, dann wird Europa auch weiter ein Erfolgsmodell bleiben.

Erste Erfolge, ernste Probleme

Erste positive Signale aus den Krisenstaaten ermutigen uns, den notwendigen Weg der Haushaltskonsolidierung und der Strukturreformen weiterzugehen. Die Wirtschaftslage in den Krisenstaaten erholt sich langsam wieder. Doch wir wissen auch: Dieser Weg ist steinig und schwer. Er verlangt den Griechen, Portugiesen und Iren große Opfer ab.

Die reine Fixierung der Haushaltskonsolidierung auf die Ausgabenseite war ein Fehler. Sie hat den Sozialstaat an die Grenzen der Handlungsfähigkeit gebracht.

Klar ist aber auch: Der Weg aus der Krise darf nicht nur über Sparprogramme und die Liberalisierung der Märkte führen. Vielmehr brauchen wir – wie wir es uns im Koalitionsvertrag gemeinsam vorgenommen haben – einen umfassenden politischen Ansatz beim Krisenmanagement, der auch die angespannte soziale Lage in vielen Mitgliedstaaten der EU berücksichtigt. Jetzt sind Schritte hin zu einer echten Sozialunion gefragt.

Es gibt erste Erfolge und positive Prognosen. Aber die Krise ist noch lange nicht vorbei: Mit einem spürbaren Rückgang der Arbeitslosigkeit können wir erst mittelfristig rechnen. Eine dauerhafte Stabilität setzt kräftiges Wachstum und Beschäftigung voraus.

Die reine Fixierung der Haushaltskonsolidierung auf die Ausgabenseite war ein Fehler. Sie hat den Sozialstaat an die Grenzen der Handlungsfähigkeit gebracht. Das griechische Gesundheitswesen etwa ist unterfinanziert und produziert dabei durch den massiven Anstieg von Krankheiten weitere Folgekosten.

Wir sollten uns daran erinnern, dass wir bei der Überwindung der bisher schwersten Wirtschaftskrise in der EU nicht nur über abstrakte Kennziffern wie Haushaltsdefizite, Lohnstückkosten oder Leistungsbilanzen sprechen, sondern vor allem über das Schicksal von Millionen Menschen in den krisengeschüttelten Staaten.

Wir müssen jetzt hart daran arbeiten, diese sozialen Nachwehen der Krise zu bewältigen und das Vertrauen der Menschen wieder zurückzugewinnen, die am stärksten unter der Krise gelitten haben. Allein in Griechenland, Spanien, Portugal und Italien sind seit 2008 etwa 6,5 Millionen Arbeitsplätze verloren gegangen. Der Trend geht zu befristeten und vergleichsweise niedrig qualifizierten Beschäftigungsverhältnissen. In Griechenland und Spanien hat mittlerweile sogar mehr als jeder zweite Jugendliche zwischen 16 und 25 Jahren keinen Ausbildungs- oder Arbeitsplatz. Viele von ihnen sehen Europa nicht mehr als Zukunftsversprechen, sondern als Bedrohung für ihre persönliche Lebensplanung.

Diese jungen Menschen haben die Krise nicht zu verantworten. Sie sind oft gut ausgebildet und motiviert, die Krise bezahlen sie aber jetzt mit Perspektivlosigkeit. Wenn wir diese Generation an die Populisten und Europaskeptiker verlieren, werden wir alle bald einen hohen politischen Preis dafür bezahlen. Diesen jungen Menschen müssen wir beweisen: Das lassen wir nicht zu!

Schnelle und wirksame Hilfe für die arbeitslosen Jugendlichen in Europa!

Wir sind bei der Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit zwar bereits vorangekommen, aber das reicht bei Weitem nicht. Uns rennt die Zeit davon, wenn die arbeitslosen Jugendlichen von heute morgen noch eine faire Chance auf dem Arbeitsmarkt haben sollen.

Die Staats- und Regierungschefs der EU haben im vergangenen Jahr vereinbart, künftig jedem arbeitslosen Jugendlichen unter 25 Jahren binnen vier Monaten einen qualifizierten Arbeits-, Ausbildungs- oder Praktikumsplatz anzubieten. Dieses Versprechen muss nun eingelöst werden.

Für die Jugendbeschäftigung sind im EU-Haushalt zunächst insgesamt sechs Milliarden Euro bis zum Jahr 2020 veranschlagt. Sie sind ein wichtiger Anfang. Die vorgesehenen Mittel müssen nun aber auch schnellstmöglich zum Einsatz kommen. Wir werden die am stärksten von der Jugendarbeitslosigkeit betroffenen Staaten dabei unterstützen, dass sie die bereitgestellten Mittel besser und schneller abrufen können.

Ein weiterer Baustein ist der von Deutschland angestoßene Prozess der Jugendbeschäftigungskonferenzen. Das ist ein wichtiges Signal, mit dem die  Staats- und Regierungschefs zeigen: Für uns genießt das Thema oberste politische Priorität. Das nächste Treffen steht im April in Rom an. Chancen, die uns Programme wie beispielsweise EURES, Erasmus-Plus oder die europäische Ausbildungsallianz bieten, müssen wir darüber hinaus nutzen. All das darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich vor allem in den betroffenen Ländern etwas tun muss.

Unser Modell der dualen Ausbildung hat sich in der Praxis bewährt. Wir stehen unseren europäischen Partnerländern mit Rat und Tat zur Seite, wenn sie Strukturreformen im Ausbildungssystem umsetzen wollen. Bilateral leistet Deutschland bereits im Rahmen seiner Ausbildungspartnerschaften mit Griechenland, Italien, Spanien und Portugal gezielte Hilfe. Schnelle Wunder können wir hiervon jedoch nicht erwarten: Strukturreformen brauchen Zeit, bis sie ihre Wirkung zeigen.

Wir müssen unser Augenmerk auch auf die konsequente Umsetzung des EU-Wachstumspaktes richten. Dieser hat bislang noch nicht im erhofften Maß zu einer Behebung der Kreditklemme bei Unternehmen und der Belebung von Zukunftsinvestitionen in den Krisenstaaten geführt.

Die binnenwirtschaftliche Verantwortung Deutschlands für die soziale Lage in Europa wahrnehmen!

Die soziale Krise in Europa ist maßgeblich eine Folge großer gesamtwirtschaftlicher Ungleichgewichte im Vorfeld der Krise. Unsere Exportstärke darf uns nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch hierzulande noch viel Luft nach oben ist. Wir dürfen auch vor einigen negativen Entwicklungen die Augen nicht verschließen: In Deutschland sind der Niedriglohnsektor und die prekäre Beschäftigung ausgeufert, die Unterschiede zwischen Arm und Reich sind trotz der guten Ausgangslage größer und nicht kleiner geworden, und die Zukunftsinvestitionen teilweise ausgeblieben.

Zum Abbau der Ungleichgewichte müssen alle Euro-Staaten ihren Beitrag leisten – sowohl Länder mit Leistungsbilanzdefiziten als auch Überschussländer wie Deutschland.

Um Missverständnisse zu vermeiden: Niemand zweifelt ernsthaft an, dass für die nachhaltige Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit der Krisenstaaten noch weitere Schritte erforderlich sind.

Aber Wettbewerbsfähigkeit und Solidarität sind zwei Seiten derselben Medaille. Niemand stellt in Frage, dass die Krise auch durch eigene Fehler einzelner Mitgliedstaaten dieses dramatische Ausmaß angenommen hat. Aber die Krise in der Eurozone hat uns ebenso deutlich vor Augen geführt, dass neben Haushaltsdefiziten auf Dauer auch übermäßige gesamtwirtschaftliche Ungleichgewichte zwischen den Mitgliedstaaten belastend für die Stabilität der Währungsunion sind. Zum Abbau müssen alle Euro-Staaten ihren Beitrag leisten – sowohl Länder mit Leistungsbilanzdefiziten als auch Überschussländer wie Deutschland.

Wenn wir wollen, dass Krisenländer wie Griechenland ihre Wettbewerbsfähigkeit massiv verbessern und ebenfalls Handelsbilanzüberschüsse erwirtschaften, dann können schon rein mathematisch nicht alle EU-Staaten innerhalb der EU gleichzeitig mehr exportieren als importieren. Deshalb ist es vernünftig, dass wirtschaftliche Verwerfungen innerhalb der EU im Rahmen bleiben und Defizitländer in die Lage versetzt werden, ihre Importe auch bezahlen zu können.

Es geht explizit nicht darum, die deutsche Exportwirtschaft schwächen zu wollen. Im Gegenteil. Deutschland braucht für sein eigenes Wachstum aber auch dringend eine Stärkung der Binnennachfrage, vor allem durch Investitionen in Bildung und Forschung, in Infrastruktur und Kinderbetreuung. Dies nutzt nicht nur uns Deutschen, sondern auch unseren EU-Partnern.

Es ist deshalb sinnvoll, jetzt die Spielräume – der Tarifparteien, genauso wie der öffentlichen Haushalte – für eine Stärkung der Binnennachfrage in Deutschland zu nutzen. Hierzu werden unsere sozialdemokratischen Forderungen im Koalitionsvertrag maßgeblich beitragen:

• Einführung eines gesetzlichen flächendeckenden Mindestlohnes in Höhe von 8,50 Euro

• Abbau von prekären Beschäftigungsverhältnissen durch die Begrenzung von Leih- und Zeitarbeit

• Erhöhung der Investitionen in Verkehrsinfrastruktur um 5 Milliarden Euro

• Entlastung der Länder um 6 Milliarden Euro für Investitionen in Kinderbetreuung, Schulen und Hochschulen.

Das wird uns gezielt dabei helfen, die gesamtwirtschaftlichen Ungleichgewichte in der Eurozone abzubauen, ohne dabei die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Exportwirtschaft in Frage zu stellen. Das kommt nicht nur den Menschen in Deutschland zu Gute, sondern ist auch ein echtes Stabilitätsprogramm für ganz Europa.

Die Währungsunion zu einer echten Wirtschafts-, Fiskal- und Sozialunion ausbauen!

Die Krise hat die Konstruktionsfehler der Eurozone schonungslos offengelegt. Der Euro kann nur dauerhaft bestehen, wenn die Mitgliedstaaten auch ihre Wirtschafts-, Fiskal- und Sozialpolitik verbindlich koordinieren und dabei die Gemeinschaftsmethode beherzigen. Wir haben im Bereich der Fiskalpolitik mit dem Fiskalpakt, dem Two-Pack und den Fortschritten bei der Bankenunion bereits wichtige Schritte zur Stabilisierung der Währungsunion unternommen.

Auf der Ebene der Wirtschafts- und Sozialpolitik hinken wir aber immer noch weit hinterher: Die wirtschaftspolitische Koordinierung im Europäischen Semester erfasst bisher bei Weitem nicht alle notwendigen Bereiche und ist darüber hinaus nicht hinreichend verbindlich.

Dabei liegt es auf der Hand, dass die Wirtschafts- und Währungsunion auch eine soziale Dimension hat. Dies ist in doppelter Hinsicht notwendig. Ökonomisch ist zur Verringerung der Staatsschulden eine kräftige wirtschaftliche Erholung mit einem spürbaren Rückgang der Arbeitslosigkeit erforderlich. Politisch wird das Gros der Menschen die Reformpolitik nicht unterstützen können, wenn dabei die soziale Balance aus dem Blick gerät. Im schlimmsten Fall können ganze Gesellschaften destabilisiert werden, weil ihnen die Akzeptanz der Bevölkerung entzogen wird.

Wir müssen daher zu einer verstärkten Koordinierung auch in den Bereichen kommen, die über die Finanz- und Wirtschaftspolitik im engeren Sinne hinausgehen. Selbst für eine effektive Frühwarnung ist es nicht genug, nur auf Haushaltszahlen oder die Staatsverschuldung zu schauen.

Der Entwurf des Gemeinsamen Beschäftigungsberichts der EU-Kommission und des Europäischen Rates für 2014 enthält erstmals Indikatoren zu beschäftigungs- und sozialpolitischen Schlüsselbereichen. Dazu zählen beispielsweise die Armutsgefährdungsquote oder Ungleichheiten in der Einkommensentwicklung. Die Bedeutung solcher Entwicklungen im Rahmen des Europäischen Semesters wird damit gestärkt. Allerdings sind diese Indikatoren leider nicht verbindlich. Und warum bleiben weitere wichtige soziale Indikatoren wie Kinderarmut oder der Zugang zur Gesundheitsversorgung weiter außen vor?

Wir brauchen und wollen auch keine europaweite Vereinheitlichung der nationalen Sozialsysteme. Aber wir brauchen sehr wohl die Perspektive verbindlicher Leitlinien, entsprechend der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Mitgliedstaaten.

Damit die soziale Dimension nicht das Stiefkind der europäischen Integration bleibt, müssen wir weiter gehen. Wie können wir dafür bestehende Strategien mit ambitionierten europaweiten Zielen und Leitlinien verbindlicher ausgestalten? Wie können wir endlich die vertragliche Vereinbarung aus Artikel 3 des EU-Vertrags umsetzen, mit dem Anspruch - Zitat - "einer sozialen Marktwirtschaft, die auf Vollbeschäftigung und sozialen Fortschritt abzielt"?

Die Chancen der Europa-2020-Strategie nutzen!

Die anstehende Halbzeitbilanz der Europa-2020-Strategie im Jahr 2015 bietet einen geeigneten Rahmen für eine weitere Verstärkung der beschäftigungs- und sozialpolitischen Koordinierung. Denn die aktuelle Zwischenbilanz der Kommission zeigt ein ernüchterndes Bild: Das Beschäftigungsziel von 75 Prozent wird deutlich verfehlt. Die Zahl der von Armut bedrohten Menschen in der EU ist von 2009 auf 2012 um zehn Millionen auf 124 Millionen gestiegen. Auch bei den dringend notwendigen Investitionen in Bildung und Forschung besteht Nachholbedarf. Anspruch und Wirklichkeit klaffen weit auseinander.

Warum nutzen wir nicht endlich die Debatte um die Europa-2020-Strategie, um vor uns liegende Integrationsschritte stärker auf das Ziel des sozialen Zusammenhalts auszurichten? Sie bietet Raum, grundsätzliche Weichenstellungen vorzunehmen.

Um mit einer Mär aufzuräumen: Wir brauchen und wollen auch keine europaweite Vereinheitlichung der nationalen Sozialsysteme. Aber wir brauchen sehr wohl die Perspektive verbindlicher Leitlinien, entsprechend der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Mitgliedstaaten. Ich denke dabei an Zielkorridore und Mindeststandards in der Arbeitsmarktpolitik, der Alterssicherung, der Gesundheitsversorgung, bei Mindestlöhnen und Renten sowie konkrete Abbaupläne für die Jugendarbeitslosigkeit in den einzelnen Mitgliedstaaten.

Übrigens können wir im Rahmen einer verstärkten wirtschaftspolitischen Koordinierung auch einen Beitrag zur Lösung der sogenannten "Armutsmigration" leisten. Die unbestreitbaren Vorteile der EU-Freizügigkeit müssen bewahrt und geschützt werden, ohne die sich daraus ergebenden sozialen Verwerfungen zu ignorieren. Der Kampf gegen diese Verwerfungen bedeutet nicht nur Finanzhilfe für betroffene Kommunen bei der Integration von Zuwanderern.

Es bedeutet auch, dass wir in der EU entschieden gegen Lohndumping und Missbrauch der Leiharbeit vorgehen müssen. Jeder Arbeitnehmer muss am Ort seiner Beschäftigung über ein ausreichendes Mindesteinkommen verfügen können. Dabei werden wir auch die Regeln für den Bezug von Sozialleistungen in den Mitgliedstaaten aufeinander abstimmen müssen. Die Grundfreiheit der Freizügigkeit darf nicht dazu missbraucht werden, die Armen gegen die noch Ärmeren auszuspielen.

All dies geht nicht ohne eine bessere Koordinierung im Bereich der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik. Mir ist bewusst, dass wir dafür einige Probleme bei der Aufgabenverteilung zwischen der EU und den Mitgliedstaaten lösen müssen. Das stellt jedoch nicht das Ziel in Frage: Die Bewahrung der sozialen Marktwirtschaft in Europa ist die Voraussetzung für nachhaltigen wirtschaftlichen Erfolg.

Wenn uns dies schon zu einem Stück im Jahr 2014 gelingt, können wir sicher sein, dass wir das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger zurückgewinnen. Die Menschen müssen das Gefühl haben, dass Europa gerade in der Krise sein soziales Gespür, seinen Sinn für Solidarität und soziale Gerechtigkeit nicht verloren hat. Die EU muss wieder als Teil der Lösung, und nicht als Teil des Problems wahrgenommen werden.