Die jüngsten Wahlen zum Europäischen Parlament haben die politische Landschaft in der Europäischen Union (EU) verändert und nach rechts verschoben. Die europäischen Konservativen (EVP) sind die klaren Gewinner dieser Wahlen, während Sozialdemokraten (S&D) und Linke ihre Positionen weitgehend halten konnten. Verlierer sind Grüne und Liberale, die über 40 Sitze im EP abgeben müssen, wohingegen die rechtspopulistische (EKR) und die rechtsextreme (ID) Fraktion deutliche Zugewinne verbuchen können. Welche Dynamik entwickeln die neuen Kräfteverhältnisse und welche Auswirkungen hat dies auf die Arbeitsfähigkeit des Europäischen Parlaments? Was bedeutet das Wahlergebnis für die neue Europäische Kommission und ihr Arbeitsprogramm? Und welche Folgen werden diese Veränderungen für die europäische Integration und auf Europa als Akteur in einer multipolaren Welt haben?

Die zehnte Direktwahl zum Europäischen Parlament fand in einer Zeit statt, in der sich die weltpolitische Lage durch den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine deutlich gewandelt hat. Gleichzeitig hatten noch nie in der Geschichte der EU rechte und rechtsextreme Parteien einen so starken Einfluss in zahlreichen Staaten der EU. Das Votum der Wählerinnen und Wähler erschwert traditionelle Mehrheitsverhältnisse von Parteien der politischen Mitte und wird die Brüsseler Konsensmaschine einem Stresstest unterziehen.

Wie geht es nun weiter? Mitte Juni befasst sich der Europäische Rat beim Treffen der Staats- und Regierungschefs zunächst inoffiziell und dann Ende des Monats offiziell mit der Wahl seiner eigenen Spitze sowie mit der Besetzung der beiden anderen Topjobs der EU: der Kommissionspräsidentin und des Außenbeauftragten der EU. Hierbei wird eine Paketlösung angestrebt werden, welche die Mehrheitsverhältnisse im Rat und im Parlament widerspiegelt – und wobei eine Wiederholung der dysfunktionalen, geradezu toxischen Beziehung von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und Ratspräsident Charles Michel, die die vergangenen fünf Jahre die EU schwächte, unbedingt vermieden werden muss. Als neuer Ratspräsident wird meist der Name des ehemaligen portugiesischen Ministerpräsidenten António Costa genannt, während die estnische Premierministerin Kaja Kallas nächste Außenbeauftragte werden könnte.

Für die Kommission gilt von der Leyen (EVP) als aussichtsreichste Kandidatin, auch wenn in Brüssel in den vergangenen Wochen zahlreiche Alternativen intensiv diskutiert wurden. Von der Leyen kann auf die Unterstützung der zahlreichen Mitte-rechts-Regierungen in der EU sowie auf die des sozialdemokratischen Lagers zählen. So hat der spanische Ministerpräsident Pedro Sánchez bereits öffentlich seine Unterstützung angekündigt und auch Bundeskanzler Olaf Scholz dürfte ein Interesse daran haben, sie im Amt zu halten.

Das Votum der Wählerinnen und Wähler erschwert traditionelle Mehrheitsverhältnisse von Parteien der politischen Mitte.

Sollte von der Leyen erneut vom Rat vorgeschlagen werden, wäre die entscheidende Hürde voraussichtlich Mitte Juli in Straßburg zu nehmen. Am 16. Juli wird wahrscheinlich zunächst die maltesische Politikerin Roberta Metsola (EVP) als Parlamentspräsidentin wiedergewählt werden. Zwei Tage später könnte die Wiederwahl von Ursula von der Leyen anstehen. Dann wäre es möglich, noch während der parlamentarischen Sommerpause eine Liste der potenziellen Mitglieder der Kommission zu erstellen. Für ihre Wiederwahl bräuchte von der Leyen die Zustimmung von mindestens 361 der 720 Abgeordneten – eine Mehrheit, die ihr angesichts des Erstarkens der rechten Fraktionen keineswegs sicher ist. Jean-Claude Juncker schaffte dies 2014 mit 46 Stimmen Vorsprung, von der Leyen 2019 mit nur neun Stimmen, damals unterstützt auch von rechtspopulistischen Parteien, die ihr diesmal die Zustimmung verweigern werden. Sollte von der Leyen im Rat durchfallen oder im Parlament keine Mehrheit finden, müsste der Rat – unter ungarischer Präsidentschaft – rasch eine neue Person vorschlagen, was den Arbeitsbeginn der neuen Kommission verzögern würde. Eine solche Hängepartie würde nicht nur die Arbeitsfähigkeit der EU beeinträchtigen, sondern auch ihrem Ansehen erheblichen Schaden zufügen.

Parallel zu diesem hochpolitischen Prozess formieren sich die Fraktionen im Parlament neu. Die Wahl des Parlamentspräsidenten, der Vizepräsidenten und der Ausschussvorsitzenden beeinflusst die Arbeitsweise und die politischen Schwerpunkte des Parlaments in den kommenden Jahren. Es ist zudem wahrscheinlich, dass es zu einer Neuformierung der rechten und rechtsextremen Fraktionen im Europäischen Parlament kommen wird. Eine entscheidende Frage wird dabei der Umgang mit der AfD sein. Unmittelbar vor der Wahl war es der AfD gelungen, zum Paria unter den Rechtsaußenparteien zu werden, als sowohl Marine Le Pen als auch Giorgia Meloni und Matteo Salvini eine weitere Zusammenarbeit mit der AfD ablehnten und diese aus der ID-Fraktion ausgeschlossen wurde.

Allerdings gilt auch hier das Motto, dass nach der Wahl nicht mehr unbedingt das gilt, was vor der Wahl gesagt wurde. Und der Rausschmiss des AfD-Spitzenkandidaten Krah aus der deutschen Delegation zeigt, dass die AfD alles tut, um im rechten Schmuddelsalon wieder hoffähig zu werden. Falls dieses Manöver nicht gelingt, wird die AfD wohl versuchen, eine dritte Rechtsfraktion im Parlament zu gründen, wofür mindestens 23 Abgeordnete aus sieben Mitgliedstaaten nötig wären. Mit von der Partie könnten dabei weitere rechte Parteien sein, die bisher keiner Fraktion angehören, wie etwa die ungarische Fidesz-Partei von Victor Orbán.

Diskutiert wird auch die Option, dass die rechtspopulistischen und rechtsextremen Parteien eine neue „Superfraktion“ bilden könnten, was deren Verhandlungsmacht erheblich stärken und zu einer Polarisierung im Parlament führen würde. Eine solche rechte Großfraktion würde dazu beitragen, die EU-Agenda stärker an nationalen Interessen und weniger an gemeinsamen europäischen Lösungen auszurichten. Dieses Szenario erscheint jedoch unwahrscheinlich, da sich viele europäische Rechtsparteien in zentralen außen- und sicherheitspolitischen Fragen nicht einig sind – insbesondere was das Verhältnis zu Russland, den Krieg gegen die Ukraine und die Zusammenarbeit mit den USA und der NATO betrifft.

Insgesamt ist der Rechtsruck im Parlament symptomatisch für eine breitere politische Verschiebung.

Eine Schlüsselrolle im Umgang mit den europäischen Rechtskräften wird künftig umso mehr der EVP zukommen, der auch CDU und CSU angehören. Anstatt um die Grünen zu werben, hat deren Partei- und Fraktionschef Manfred Weber in den letzten Monaten immer wieder die Zusammenarbeit mit der EKR gesucht und dabei auch die Chancen einer verstärkten Mitte-rechts-Kooperation mit der italienischen Regierungschefin Giorgia Meloni ausgelotet. Auch von der Leyen und Meloni hatten in den vergangenen Monaten einen engen und geradezu vertrauensvollen Umgang gepflegt, bei dem Erstere sich die Unterstützung für ihre Wiederwahl zu sichern suchte und Zweitere sich größeren Einfluss auf der europäischen Bühne versprach, war sie doch in den Wahlkampf gezogen mit dem Slogan „Con Giorgia l’Italia cambia l’Europa“ – „mit Giorgia verändert Italien Europa“. Es bleibt abzuwarten, inwieweit die drei Bedingungen von Weber und von der Leyen für eine Zusammenarbeit mit der Rechten – pro-europäisch, pro-ukrainisch und pro-rechtsstaatlich – am Ende tatsächlich erfüllt werden, wenn es um zentrale europäische Weichenstellungen geht. Aufgrund des offenen Schmusekurses von Weber, von der Leyen und Co mit den (extremen) Rechten droht die EVP jedoch die Unterstützung der Mitte-links Parteien zu verlieren. Die europäischen Sozialdemokraten und auch Bundeskanzler Scholz haben sehr deutlich gemacht, dass die Nominierung von der Leyens kein Selbstläufer ist, sollte sie eine Zusammenarbeit mit Rechtsaußen suchen.

Insgesamt ist der Rechtsruck im Parlament symptomatisch für eine breitere politische Verschiebung, die tief in die nationalen politischen Landschaften der EU-Mitgliedstaaten hineinreicht. Diese Entwicklung spiegelt eine wachsende Unzufriedenheit mit der „etablierten Politik“ und eine zunehmende Hinwendung zu populistischen Lösungen wider, die einfache Antworten auf komplexe Probleme versprechen. Die zunehmende Fragmentierung erschwert die Entscheidungsprozesse in Parlament und Rat und könnte wichtige Reformen blockieren. Nationale Interessen rücken stärker in den Vordergrund, was die Fähigkeit der EU zur Formulierung gemeinsamer Politiken, insbesondere in grenzüberschreitenden Fragen wie Migration, Klimawandel und wirtschaftlicher Zusammenarbeit, erheblich beeinträchtigen könnte.

Unabhängig davon, wer der neuen Kommission vorstehen wird, werden viele der neuen Kommissare politisch deutlich weiter rechts stehen, da sie von den Regierungen der Mitgliedstaaten vorgeschlagen werden und rechte Kräfte in den letzten fünf Jahren bei nationalen Wahlen immer stärker geworden sind. Dies hat natürlich erhebliche Auswirkungen auf das neue Arbeitsprogramm der Kommission und ihre zukünftigen europapolitischen Prioritäten.

Ein stärker nationalistisch geprägtes Europa wird automatisch zu Spannungen mit wichtigen Partnern wie den USA führen und könnte die EU in ihrer Rolle als globaler Akteur schwächen. Nach innen steht die EU vor der Herausforderung, den Zusammenhalt zwischen den Mitgliedstaaten zu wahren. Wachsende politische Differenzen und der Druck populistischer Bewegungen könnten die Solidarität innerhalb der EU schwächen. Dies wäre besonders problematisch in einer Zeit, in der gemeinsame Anstrengungen erforderlich sind, um globale Herausforderungen wie den Klimawandel oder die Digitalisierung zu bewältigen. Die EU befindet sich nun in einer Phase, in der die politischen Kräfteverhältnisse neu austariert werden müssen. Die kommenden Monate werden zeigen, in welche Richtung sie sich entwickeln wird und wie sie auf die neuen politischen Realitäten reagieren kann.