Migrations-Debatte, Brexit-Verhandlungen, Vertragsverletzungsverfahren gegen Polen – seit Jahren kämpft die EU gegen die Erosion der europäischen Einigung. Nationalistische und (rechts-)populistische Bewegungen greifen Brüssel permanent diskursiv an. In Parteiprogrammen und auf Wahlkampfveranstaltungen fordern sie die Auflösung oder Zurückdrängung der Union aus der „nationalen Souveränität“. Gleichzeitig wächst im Hintergrund eine weniger sichtbare, aber umso größere Bedrohung: Die Eurozone wird, so wie sie aktuell institutionell aufgestellt ist, keinen weiteren Schock vom Format der Krise von 2008 überstehen. Die Antwort auf diese doppelte Gefahr muss lauten: Eine Sozialregierung für Europa und eine Wirtschaftsregierung für die Euro-Zone!

Als die EU-Kommission Ende Oktober 2018 die Budgetvorlage der italienischen Regierung zurückweist, löst dies ein politisches Erdbeben mittlerer Stärke aus. Dass manche Mitgliedsstaaten die strengen Haushaltsregeln nicht respektieren, ist zwar nichts Neues. Aber dass ein Gründungsmitglied der EU und noch dazu die drittgrößte Volkswirtschaft der Euro-Zone von Brüssel die Note „unbefriedigend“ erhält, verleiht dem Problem eine neue Qualität. Anhand des italienischen Beispiels wird deutlich, wie zwei verschiedene Phänomene – der Aufstieg populistischer Kräfte einerseits und die fehlende fiskalpolitische Harmonisierung innerhalb der Euro-Zone andererseits – gefährliche Synergieeffekte entfalten können.

Befeuert wird diese Entwicklung durch die verfehlte neoliberale Krisenpolitik der Europäischen Union. Einschränkung der Staatsausgaben bedeutet für die Bürger die Kürzung von Sozialleistungen, von Kranken- über Renten- zur Arbeitslosenversicherung. Gleichzeitig werden die Steuern auf Löhne und Einkommen erhöht, während die Unternehmens-, Vermögens-, Erbschafts- und Schenkungssteuer zurückgefahren oder gar abgeschafft werden. Prekäre Arbeitsverhältnisse sind inzwischen fast der Normallfall in der Europäischen Union, deren Ziel der Errichtung einer sozialen Marktwirtschaft nach Art 3 EU-Vertrag immer mehr verfehlt wird.

Die Koalitionsregierung der linkspopulistischen Bewegung „Movimento Cinque Stelle“ (M5S) und der rechtskonservativen Lega Nord weicht vom Sparkurs der Vorregierungen ab. Sie verwirft den Schuldenabbau als wirtschaftspolitisches Ziel und stellt stattdessen das bedingungslose Bürgergeld sowie eine Rentenreform in Aussicht, die den italienischen Bürgern ein Einkommen über der Armutsschwelle sichern sollen. Das drohende EU-Defizitverfahren nimmt die italienische Koalitionsregierung in Kauf, ebenso wie die polnische und ungarische Regierung Vertragsverletzungsverfahren wegen Verstößen gegen die Rechtsstaatlichkeit. Gegenüber ihren Bürgern wird die Missachtung der Europäischen Verträge als Kampf gegen eine unzulässige Einmischung in die inneren Angelegenheiten abgetan. Die EU-Bürger sind mehr und mehr dazu bereit, diese Rechtfertigung zu akzeptieren, weil das Wohlstandsversprechen und das wirtschaftliche Zusammenwachsen der Mitgliedstaaten immer weniger zutreffen. Der europäische Binnenmarkt wird zunehmend als Bedrohung empfunden. Anders gesagt: Die institutionelle Schwäche der wirtschaftlichen und fiskalischen Governance der Euro-Zone dient den Populisten als Nährboden für die Verbreitung anti-europäischer Stimmung.

Der DGB fordert eine progressive „Economic Governance“ für die Euro-Zone, eine Einheit aus Währungs- und Fiskalunion, ausgerüstet mit makroökonomischen Stabilisierungsmechanismen.

Wie aber können wir die Währungsunion so reformieren, dass sie den Nationalisten nicht mehr als Sprungbett dient? Wie kann man ihnen den Wind aus den Segeln nehmen? Der institutionelle Rahmen muss dem Wohlstands- und Stabilitätsversprechen der EU-Verträge gerecht werden und im Zeichen des sozialen Fortschritts stehen. Dafür braucht es ein Sicherheitsnetz gegen asymmetrische Schocks. Schließlich wirkt die Geldpolitik der Europäischen Zentralbank für alle gleichermaßen. Dazu bedarf es eines starken makroökonomischen Anpassungsmechanismus. Dieser sollte auf drei Ebenen wirken: ein automatischer Stabilisator etwa in Form einer gemeinsamen Arbeitslosenrückversicherung, die aber nicht durch die Beiträge der Beschäftigten oder nationale Arbeitslosenversicherungen finanziert wird; eine Investitionsstabilisierungsfunktion innerhalb eines Eurozonenbudgets unter der Kontrolle der Europäischen Parlaments; und die Umwandlung des Europäischen Stabilitätsmechanismus in einen Europäischen Währungsfonds.

Diese Reformvorschläge könnten die Währungsunion nicht nur für zukünftige makroökonomische Krisen wetterfest machen, sondern auch zu ihrer Demokratisierung beitragen: Das bisherige System ist von zwischenstaatlichen Vereinbarungen außerhalb der EU-Verträge und geringer parlamentarischer Kontrolle geprägt. Hingegen sind zur Überwindung der Legitimitätskrise der Union mehr demokratische Kontrolle, Beteiligung und europäische Solidarität notwendig. Gustav Horn, wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung der Hans-Böckler-Stiftung, bezeichnet die EU in ihrer aktuellen Form als „nicht nachhaltig“. Seiner Auffassung nach sind durch die mangelnde fiskalpolitische Harmonisierung Anreize für fehlgeleitete Währungspolitik entstanden. So sei die expansionistische Geldpolitik der Europäischen Zentralbank (EZB) lediglich „gekaufte Zeit“, da eine Abwertung des Euro das Fehlen einer Fiskalunion nicht auf Dauer kompensieren kann. Früher oder später wird die EZB zu einer restriktiveren Politik übergehen, ohne dass die strukturellen Probleme der Euro-Zone gelöst sind.

Der Deutsche Gewerkschaftsbund fordert deshalb eine progressive „Economic Governance“ für die Euro-Zone, eine Einheit aus Währungs- und Fiskalunion, die mit makroökonomischen Stabilisierungsmechanismen ausgerüstet ist. Diese neue Governance sollte dringend das Mantra der Austeritätspolitik und der Fokussierung auf die Staatsschulden ablösen. Denn die Staatsverschuldung allein ist kein Indikator für die Wirtschaftskraft und den Wohlstand eines Landes. So belief sich zwar die Staatsverschuldung Italiens im Jahr 2016 auf 132 Prozent des BIP - gleichzeitig wies das Land aber einen Exportüberschuss von 52 Milliarden Euro aus. Damit landete Italien auf Platz 3 der exportstärksten Länder der EU. Das höchstverschuldete Land der Welt, Japan, weist seit 2009 eine Staatsverschuldung von über 200 Prozent des BIP aus. Die Schuldenquoten von Irland und Singapur liegen über 100 Prozent über jener der USA (233 Prozent) und Chinas (217 Prozent). Singapur hat aber das siebthöchste Pro-Kopf-BIP der Welt, Irland verzeichnete 2017 ein BIP-Wachstum von über 7 Prozent  und Japan hat eine der niedrigsten Arbeitslosenquoten weltweit – 2,9 Prozent im Jahr 2018. Wesentlicher ist die Frage der Schuldentragfähigkeit und danach, wer die Gläubiger eines Landes sind. Je mehr Fremdwährungs- und Auslandsschulden ein Land hat, umso mehr ist es vom Vertrauen der internationalen Investoren abhängig. Japan ist nur zu 50 Prozent des BIP im Ausland verschuldet, China mit 9 Prozent. Auch Italiens Schuldendienst ist im Verhältnis zum BIP mit 5 Prozent weit davon entfernt, das Land in den Ruin zu treiben. Schulden sind also nicht gleich Schulden.

Europa darf nicht länger als neoliberales und Ungleichheit förderndes Bürokratie-Monster wahrgenommen werden. Es muss sein Wohlstandsversprechen auch für die sozial Benachteiligten einlösen.

Wie aber kommen wir dem anderen großen Problem bei, dem Erstarken nationalistischer und populistischer Kräfte in ganz Europa? Die institutionelle Neuordnung der Euro-Zone wird hier nicht ausreichen. Dennoch ist die Idee von mehr Solidarität unter den Mitgliedsstaaten relevant: Europa darf nicht länger als neoliberales und Ungleichheit förderndes Bürokratie-Monster wahrgenommen werden. Es muss sein Wohlstandsversprechen auch für die sozial Benachteiligten einlösen. Ein Blick auf die Zahlen zeigt, dass vor allem junge Menschen weiterhin unter den Folgen der Wirtschafts- und Finanzkrise von 2008 leiden. Die Jugendarbeitslosigkeit in der EU beträgt aktuell 14,8 Prozent (August 2018), mit einer Spannbreite von 39,1 Prozent in Griechenland, 33,6 Prozent in Spanien und 31 Prozent in Italien über Großbritannien mit 11 Prozent zu Deutschland mit 6,2 Prozent. Hinzu kommt, dass 2017 84 Prozent der Europäer in einer Umfrage der EU-Kommission angaben, dass sie die Einkommensunterschiede in ihren Ländern für zu groß halten.

Die Gewerkschaften fordern daher eine Entwicklung weg vom radikalen Binnenmarkt, der Sozialdumping und Steuerkonkurrenz befeuert, hin zu einer „Sozialen Union“. Die Mitgliedsstaaten müssen wieder kooperieren, anstatt die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Wettstreit der Sozialsysteme gegeneinander auszuspielen. Ein zentraler Baustein einer „Sozialen Union“ ist die Schaffung eines Europäischen Arbeitsministers beziehungsweise einer Arbeitsministerin. Er oder sie soll als Pendant zu dem aktuell in Diskussion stehenden EU-Wirtschafts- und Finanzminister der Anwalt für soziale Rechte der europäischen Bürgerinnen und Bürger sein und gleichwertige Lebens- und Arbeitsbedingungen, Beschäftigung und soziale Sicherheit in den Mitgliedsstaaten fördern. Die wichtigste Aufgabe wäre die Bekämpfung von grenzüberschreitendem Lohn- und Sozialdumping mit Unterstützung der Europäischen Arbeitsbehörde sowie die Verfahrensbeteiligung beim Europäischen Gerichtshof, wenn Sozial- und Arbeitsrecht betroffen sind. Die Position der Europäischen Arbeitsministerin könnte die einer Vize-Präsidentin der EU-Kommission sein oder aber dem Beispiel der Hohen Vertreterin der EU für Außen- und Sicherheitspolitik folgen, die de facto die Funktion einer Europäischen Außenministerin einnimmt.

In einem Interview mit der Tageszeitung taz sagte Beppe Grillo, Gründer und langjähriger Vorsitzender von M5S, bereits 2016: „Europa ist heute eine Idee, an die nicht einmal mehr diejenigen glauben, die Teil der europäischen Maschinerie sind.“ Wenn wir wieder Vertrauen in Europa und in die Europäische Union schaffen wollen, dann dürfen wir nicht dem destruktiven Diskurs von Populisten wie Grillo oder seinen Mitstreitern von der rechtspopulistischen Lega verfallen. Die „europäische Maschinerie“ muss grundlegend reformiert werden – denn die Idee eines in Frieden, Freiheit und Wohlstand geeinten Europas ist nicht verloren. Oder besser gesagt: noch nicht.