Die soziale Dimension der EU steht am Rande der Bedeutungslosigkeit. Auf praktisch allen Ebenen hat eine systematische Schwächung des sozialen Europas stattgefunden: Ziele, Programme und Instrumente wurden reduziert – und zwar in allen Feldern: von der Beschäftigungspolitik über das Arbeitsrecht bis zu den Arbeitsbeziehungen. Damit fällt die EU hinter bereits erreichte Errungenschaften zurück. Verlierer dieser Entwicklung sind die Arbeitnehmer und die Gewerkschaften in den Mitgliedstaaten. Das wird in drei Bereichen besonders deutlich:

Erstens: In der Eurokrise wurde die europäische Beschäftigungsstrategie und die „Offene Methode der Koordinierung“  wirtschaftspolitischen Zielen systematisch untergeordnet. Im Europäischen Semester, dem jährlichen Koordinierungsprozess der Wirtschaftspolitik der EU-Mitgliedstaaten, halten die Wirtschafts- und Finanzminister das Steuer fest in der Hand. Die Hälfte aller arbeitsmarkt- und sozialpolitischen Empfehlungen für die Mitgliedstaaten stützen sich auf rechtliche Bestimmungen des Stabilitäts- und Wachstumspakts bzw. des makroökonomischen Ungleichgewichtsverfahrens. Damit fallen sie in den Zuständigkeitsbereich der Finanzminister. Die Arbeits- und Sozialminister stehen bei ihren eigenen Hausthemen als Statisten am Rand. Das führt zu Empfehlungen, die nationale Arbeitsmärkte deregulieren, Lohnsysteme dezentralisieren und die Sozialversicherungen nach finanzpolitischen Kriterien umstrukturieren sollen. Die Sozialpartner haben meist nur schwache Anhörungsrechte. Gewerkschaften können so zum Beispiel in Fragen der Lohnpolitik, die eigentlich aus dem EU-Kompetenzbereich ausgeschlossen ist, umgangen werden. 

Die Arbeits- und Sozialminister stehen bei ihren eigenen Hausthemen als Statisten am Rand.

Die tatsächlichen arbeitsmarkt- und sozialpolitischen Maβnahmen der EU entsprechen längst einer umfassenden „Arbeitsmarktstrategie“. Die Benennung dieser Realität wäre für sozialpolitische Akteure ein erster Schritt hin zu mehr Mitspracherechten. Anstatt die thematische Einschränkung der europäischen Beschäftigungsstrategie immer weiter hinzunehmen, sollten die zuständigen Minister auf eine mindestens gleichberechtigte Rolle bei arbeitsmarkt- und sozialpolitischen Themen bestehen. Die wirtschafts- und sozialpolitischen Arbeitsgruppen des Rats müssen nach formaler Absprache mit den Sozialpartnern gleichberechtigt beteiligt werden.

Zweitens: Der soziale Dialog führte in den neunziger Jahren aus der Krise, heute dient er vornehmlich Legitimationszwecken. Mit dem Vertrag von Maastricht 1992 erlangten die europäischen Sozialpartner de facto Gesetzgebungskompetenz. Diese wurde mit drei Vereinbarungen zu Elternurlaub (1996), Teilzeitarbeit (1997) und befristeten Arbeitsverträgen (1999) erfolgreich getestet. Auch die Mitbestimmung hatte Fortschritte gemacht: Entgegen aller Erwartungen wurden 1994 Europäische Betriebsräte eingeführt. Die sind im Vergleich zum deutschen Modell zwar mit schwachen Rechten ausgestattet, aber gelten mit Recht als wichtiger Schritt für eine effektive Interessenvertretung der Arbeitnehmer auf EU-Ebene.

Seit der Jahrtausendwende steht der soziale Dialog in wichtigen Bereichen still. Die Sozialpartner werden meist nur pro forma eingebunden. Verbindliche Rahmenabkommen werden nicht mehr geschlossen. Dies liegt auch an der EU-Kommission, die insbesondere die Arbeitgeber nicht mehr zur Kooperation anhält.

Seit der Jahrtausendwende steht der soziale Dialog in wichtigen Bereichen still. Die Sozialpartner werden meist nur pro forma eingebunden.

Auch die Unternehmensmitbestimmung könnte auf europäischer Ebene viel weiter sein. Nach jahrelangem Streit, haben sich alle großen Gewerkschaften auf die Forderung nach europäischen Mindeststandards geeinigt. Hier kann die EU-Kommission den entsprechenden gesetzlichen Rahmen schaffen. 

Drittens: Das europäische Arbeitsrecht bleibt trotz ausgeweiteter Vertragsgrundlage unterentwickelt. Es hängt wesentlich von der politischen Dynamik ab. Ein wichtiger Teil stammt mit den drei Richtlinien über Massenentlassungen, den Schutz der Rechte bei Unternehmenstransfers sowie bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers bereits aus den siebziger Jahren. Damals war die vertragliche Grundlage bekanntlich noch sehr dünn. Auch das sozialpolitische Aktionsprogramm (1989) des ehemaligen Kommissions-Präsidenten Jacques Delors hat zu vielen verbindlichen Maßnahmen geführt.

Es besteht eine Ironie darin, dass mit zunehmenden vertraglichen Kompetenzen, insbesondere durch den Vertrag von Maastricht, die rechtliche Regulierung ab- und nicht zunahm. Das hat weniger mit der Einführung der Währungsunion zu tun, als mit ideologischen Ansichten über die Effektivität flexibler Arbeitsmärkte nach angelsächsischem Vorbild.

Das europäische Arbeitsrecht soll nationale Standards nicht aushebeln – im Gegenteil. Doch es soll und muss diese vor den Auswüchsen des Binnenmarkts und der Währungsunion schützen. Insbesondere im individuellen Arbeitsrecht kann die Gemeinschaft aktiver werden. Hier werden die vertraglichen Kompetenzen längst nicht ausgeschöpft. Dies gilt für die während der Eurokrise verschlechterten Arbeitsbedingungen, zunehmende soziale Ausgrenzung und Arbeitsmigration.

Ob die politische Krise der Europäischen Union durch die soziale Dimension gelöst werden kann, ist sicherlich fraglich. Doch klar ist auch: Nur wenn sozialpolitische Akteure beteiligt werden, den harten wirtschaftspolitischen Vorgaben verbindliche Maßnahmen entgegengesetzt werden und die Interessenvertretung von Arbeitnehmern auf EU-Ebene weitervorangetrieben wird, kann die soziale Dimension einen Beitrag zum europäischen Sozialmodell leisten.

 

Dieser Artikel beruht auf einer Studie, die Sie hier lesen können.