Was wir als die nächsten Herausforderungen oder Aufgaben des Europäischen Parlaments und der Europäischen Kommission definieren, hängt davon ab, ob wir Cameron oder Juncker, gar Marine le Pen oder Matteo Renzi heißen. Mit anderen Worten: Wollen wir, dass die Europäische Integration demokratisch voranschreitet oder wollen wir zurück zu den Nationalstaaten, in dosierter oder massiver Form?

Meine Option ist klar: Wir sollen die demokratische Integration in Europa voranbringen. Es geht dabei durchaus wieder um die traditionellen Unionsziele „Frieden“ (der vor dem Ausbruch des Blutvergießens in der Ukraine vielen langweilig geworden war), auch Demokratie (ohne dieses Ziel gibt es gar keine europäische Legitimation der Kritik an undemokratischen Zuständen und Politiken, auch keinen Anreiz, ein autoritäres Regime in eine Demokratie zu verwandeln), aber es geht auch um die Sicherung der Umwelt, das Einsparen von Energien und Rohstoffen, die Stabilität der Finanzmärkte, die Überwindung der Arbeitslosigkeit, ein umweltverträgliches Wachstum, soziale Sicherheit, Netzsicherheit und überhaupt Sicherheit. Alle Ziele erfordern eine Politik weitsichtiger globaler Verantwortung, zu der unsere Nationalstaaten als einzelne effektiv nicht mehr in der Lage sind.

 

Bei so vielen Aufgaben: What‘s next?

Zunächst die Einsicht, dass nichts allein „von oben“ geht. Weder kann das Parlament noch kann die Kommission dringende Aufgaben von „oben“ durchdrücken. Dass es vielmehr intensiver grenzüberschreitender Aktivitäten im vorstaatlichen Raum und aus dem vorstaatlichen Raum heraus bedarf, einer auf „good  governance“ ausgerichteten und durchaus konfliktreichen Kooperation zwischen Unternehmenssektor, organisierter Zivilgesellschaft und Politik, die die politischen Entscheidungsträger anfeuern oder unter Druck setzen oder ihnen die Basis für eine nachhaltige Politik bieten. Sie müssen und können grenzüberschreitende gesellschaftliche Verständigungsprozesse in Gang setzen und  die homogenisierten Blöcke der Nationalstaaten (auf die die Regierungschefs im Europäischen Rat konzentriert sind, um ihre Wahlklientel zu sichern und an der Macht zu bleiben) zur Pluralität der Gesellschaften und der Interessen „öffnen“.

Nur durch zivilgesellschaftliche Initiativen wird Bewegung in die Europäische Politik kommen. Nur so können aus den seit Jahren vom Europäischen Rat vorgeführten Nullsummenspielen Staat gegen Staat Win-Win-Situationen entstehen, die zeigen, dass wir in Europa gemeinsam weiter kommen als jeder Staat, jede Kommune, jedes Individuum für sich allein im alles blockierenden Starren auf den eigenen Vorteil. Solche Initiativen, wie wir sie in der Berliner HUMBOLDT-VIADRINA School of Governance auf ihrer Politischen Plattform strategisch durchdacht veranstaltet haben, zeigen, dass es grenzüberschreitende gemeinsame Interessen an sauberer und sicherer Energie, an nachhaltiger Modernisierung der Wirtschaft, an umweltverträglichem Wachstum, an Überwindung der Arbeitslosigkeit, an Internetsicherheit gibt, die in Europa zu neuen politischen Mehrheiten führen können. Die Aufdeckung der Interessenvielfalt innerhalb der Nationalstaaten ermöglicht neue Koalitionen, durch die die europäische Gesellschaft, d.h. die grenzüberschreitende Bürgerschaft die politische Gestaltungsmacht gegenüber einem verselbständigten Wirtschafts- und Marktgeschehen zurückgewinnen kann.

Nur durch zivilgesellschaftliche Initiativen wird Bewegung in die Europäische Politik kommen.

Darüber hinaus ist die Einsicht vonnöten, dass – wenn wir mit einem demokratisch integrierten Europa vorankommen wollen (was etliche nicht wollen) – wir die Produktivität von Solidarität wiederentdecken müssen. Sonst geht es weiter mit der bornierten Sicherung der Eigeninteressen hinter ideellen oder materiellen Mauern, die einen gemeinsamen Wirtschaftsaufschwung und die daraus erwachsende Zuversicht verhindert und uns statt dessen wirtschaftlich in eine deflationäre Abwärtsspirale bringt. Sie entsteht, weil eben diese Zuversicht, die politische wie wirtschaftliche  Entwicklungen nun einmal brauchen,  nicht aufkommen kann, weil die Zukunftshoffnung auf Gewinn bringende Investitionen und nachhaltiges Wachstum fehlt. Wenn die Wirtschaftswissenschaft diesen interdisziplinären Zusammenhang zwischen politischen, psychologischen, normativen und wirtschaftlichen Entwicklungen mehr thematisierte, könnte sie einer gedeihlichen Zukunft der Europäischen Union erheblich besser dienen als bisher.

Dieser Zusammenhang besteht nicht nur bei den Arbeitslosen, sondern eben auch bei den Unternehmern. Die Hilflosigkeit der Bekämpfung der deflationären Entwicklung durch das Auswerfen von billigem Geld und eine marktwirtschaftlich kuriose Strategie, die Kreditvergabe der Banken an mittelständische Unternehmen vor allem im Süden Europas mit finanztechnischen Tricks zu erzwingen, müssten für Parlament und Kommission Anlass genug sein,  die substanzielle Alternative einer solidarischen großen Initiative zugunsten von Wachstum, Abbau der Arbeitslosigkeit und neuer gemeinsamer Energiepolitik konzeptionell-strategisch zu entwerfen. Sie kann im vorstaatlichen Raum  durch Multi-Stakeholder Diskussionen und Verabredungen so vorbereitet werden, dass die legitimierten Institutionen darüber zu positiven Entscheidungen kommen und sie umsetzen können, weil ein gesellschaftlicher Grundkonsens darüber wächst.

 

Entscheidungen benötigen gesellschaftlichen Konsens

Was können Parlament und Kommission tun, wenn die Initiativen eigentlich von unten kommen müssen? Sie können schlüssige – im Parlament vermutlich zwischen den politischen Parteifamilien strittige – wirtschaftspolitische Strategien entwerfen, die öffentliche Diskussionen anstacheln zugunsten eines europäischen Neubeginns. Sie können dabei auf die naheliegende Verknüpfung von wachstums-, energie- und arbeitsmarktpolitischen Konzepten hinweisen und auf die Notwendigkeit, sich, von unten vorbereitet, zwischen den Nationalstaaten, die über den Energiemix zu entscheiden haben, zu einigen, um schließlich eine gemeinsame europäischen Energiepolitik zu praktizieren.

Auch die Kommission sollte sich als erstes die Verbindung der Politiken für Wachstum, Wirtschaftsmodernisierung, Abbau von Arbeitslosigkeit und grenzüberschreitende Koordinierung der Energiepolitik auf die Agenda setzen und dabei den Standortwettbewerb zwischen den Staaten zugunsten einer intelligenten Kooperation und  eines gemeinsamen europäischen Aufschwungs  hintansetzen. Das wird ein hartes Stück Arbeit, weil diese Idee des Standortwettbewerbs vor dem Hintergrund einer seit 30 Jahren vorherrschenden  Wettbewerbsmanie in allen Bereichen der Gesellschaft – von der Bildung, über die Gesundheit bis zur Kultur – für viele  schon zu solcher Selbstverständlichkeit geworden ist, dass sie über deren zerstörerische Folgen gar nicht mehr nachdenken. Die Kommission sollte eine klare Abkehr von der dahinter liegenden Ideologie der Marktradikalität vornehmen. Eine interne Diskussion darüber brächte vielleicht die Chance, sich zu einer gemeinsamen Kommissionsstrategie durchzuarbeiten, die eine nachhaltige Europäische Integration unterstützen könnte.

 

Austerität nicht alternativlos

Dazu würde neben einer Verständigung  „von unten“ über eine gemeinsame europäische Energiepolitik mit konstruktiven Folgen für Wachstum, Investitionen und den Abbau von Arbeitslosigkeit die Weiterentwicklung des „Europäischen Semesters“ als finanz- und haushaltspolitische Abstimmung gehören, zunächst zwischen den Euroländern. Bisher wird dieses Europäische Semester durch den Europäischen Rat dominiert, obwohl die Kommission am Anfang des Prozesses eine wirtschaftliche Bestandsaufnahme macht und Zukunftsprojektionen zeichnet. Das Europäische Parlament hält sich aus dem Prozess der Bestimmung der gemeinsamen Finanz- und Haushaltslinien bislang weitgehend heraus und verhandelt nur, wenn alles schon festgezurrt ist, noch über abschließende Änderungen. Statt dessen sollte es gleich zu Beginn des Prozesses, also spätestens zu Beginn des Jahres vor dem neuen Haushaltsjahr,  zusammen mit nationalen Abgeordneten gleichzeitige nationale, und insofern europaweite öffentliche Debatten initiieren über Alternativen, die es für die bisherige auf Austerität fixierte Finanz- und Haushaltspolitik ja gibt, welche in den letzten Jahren insbesondere auf Druck der deutschen Bundesregierung immer als „alternativlos“ hingestellt und durchgedrückt worden ist.

Es geht um nicht weniger als um eine Re-Parlamentarisierung und Demokratisierung der Budget-Politik.

Es geht hier um nicht weniger als um eine Re-Parlamentarisierung und Demokratisierung der Budget-Politik. Sie muss angesichts der gemeinsamen Währung europäisch koordiniert werden, und die Illusion, dass hier die nationalen Parlamente noch das entscheidende Sagen hätten oder haben müssten, hält weder den Integrations-Notwendigkeiten noch dem faktischen Prozess, der sich mit dem Europäischen Semester auferlegt hat, stand. Aber die Koordination darf eben, wenn sie zu einer demokratischen Integration der Europäischen Union beitragen soll, nicht von oben oktroyiert  werden, sondern muss in horizontaler, öffentlich diskutierter Abstimmung erfolgen. Ein Schritt in diese Richtung  könnte die systematische und öffentlich erkennbare Verschränkung von europäischen und nationalen Parlamentariern sein, wie sie bereits ansatzweise mit Anhörungen in Straßburg praktiziert wird. Das hätte den Vorteil, dass sich eine europäische Öffentlichkeit bilden, das Interesse der Bürgerinnen und Bürger geweckt werden und neue politische Weichenstellungen mit dem Rückenwind von „unten“ erfolgen könnten, anders als wenn undurchschaubare „Kompromisse“ hinter den verschlossenen Türen des Europäischen Rats abgeschlossen werden, die die Menschen demotivieren.

Also: Kommission und Parlament müssen sich inhaltlich mit Verve einer Verbindung von Energie-, Investitions-, Wachstums- und Arbeitsmarktpolitik zuwenden, dafür Strategien entwerfen und durch Zusammenführung von nationalen und europäischen Parlamentariern zum öffentlichen Thema machen. Sie müssen gleichzeitig – zusammen mit Wissenschaftlern – grenzüberschreitende Multi-Stakeholder Trialoge zwischen Politik, Unternehmenssektor und organisierter Zivilgesellschaft befördern, damit ein Neuanfang in Europa zugleich von „unten“ und von „oben“ dynamisch in Gang kommen kann.  Das könnte eine neue Ära in der Europäischen Politik eröffnen.