Der Krieg in der Ukraine hat die europäische Sicherheitsordnung erschüttert. Russlands völkerrechtswidriger Angriffskrieg ist auch ein Angriff auf unsere europäischen Werte, unsere Freiheit und unsere Demokratie. Die Situation in den USA und die dort bevorstehenden Wahlen könnten die deutsche und europäische Sicherheit künftig noch stärker herausfordern. Europa muss daher den Weg der sicherheitspolitischen Autonomie konsequent gehen und sich souveräner aufstellen.

Wir müssen das Momentum für ein stärkeres Europa jetzt nutzen. Für ein Europa der Sicherheit, des Wohlstands, der Demokratie und des Zusammenhalts. Dies ist jedoch kein Selbstläufer. 2008 waren wir als EU27 noch der wirtschaftsstärkste Raum der Welt mit knapp über 16 Billionen US-Dollar Bruttoinlandsprodukt (BIP). Wir haben heute noch fast den gleichen Wert (17,3 Billionen US-Dollar). Die USA konnten ihr BIP im gleichen Zeitraum von 14,7 auf 26,8 Billionen US-Dollar beinahe verdoppeln. China sogar mehr als verdreifachen: von 4,6 Billionen auf 18 Billionen US-Dollar.

Wir müssen in Europa aufpassen, dass wir nicht den Anschluss verlieren. Ich befürchte, dass wir gerade nicht die richtigen Schwerpunkte setzen und nicht mutig genug sind. Dass uns Zögern und Behäbigkeit am Ende schaden und wir dadurch Wohlstand und Stabilität verlieren.

In den 1980ern wuchsen in Europa schon einmal die Zweifel an der gemeinsamen Wirtschaftskraft der Europäischen Gemeinschaft. Die Antwort war die Schaffung des größten Wirtschaftsraums der Welt auf Initiative des sozialdemokratischen Kommissionspräsidenten Jacques Delors: Der europäische Binnenmarkt, der die Grundlage für unseren gemeinsamen Wohlstand darstellt. Darauf folgte die Wirtschafts- und Währungsunion. Dieses visionäre Denken hat Europa verändert.

Wir sollten heutzutage wieder vermehrt das Gemeinsame in Europa stärken. In größerem Umfang in unsere öffentlichen Güter investieren. In unsere Sicherheit, in einen vertieften Binnenmarkt, in europäische Infrastruktur und eine nachhaltige und resiliente Energieversorgung. Insbesondere in der europäischen Sicherheits- und Wirtschaftspolitik können wir gemeinsam viel mehr erreichen.

Ein Europa, in dem nur ein Teil sicher ist, ist kein sicheres Europa.

Was die Sicherheitspolitik betrifft, gibt es in Europa keine divergierenden Interessen. Ob Frankreich, Deutschland, Polen, Schweden oder Slowenien: Wir alle haben das Interesse an einem sicheren Europa, das zur Bündnis- und Landesverteidigung fähig ist und den Frieden sichert. Natürlich gibt es in der Vorstellung darüber, wie das erreicht wird, Unterschiede und Konflikte, aber das Ziel eint uns. Denn ein Europa, in dem nur ein Teil sicher ist, ist kein sicheres Europa. Sicherheit ist ein gemeinsames europäisches Gut, das in der heutigen Zeit kein Land alleine, sondern nur alle zusammen erreichen können. Daher braucht es die Sicherheitsunion Europa.

In einer Welt im Umbruch muss Europa stärker denn je für Frieden, Freiheit und Wohlstand und eine regelbasierte internationale Ordnung eintreten. Dazu gehört, dass wir wichtige strategische Partnerschaften stärken und mit einer neuen Nord-Süd-Politik die Interessen und Perspektiven unserer Partner in Asien, Afrika und Lateinamerika viel stärker mit einbeziehen.

Deutschland ist bereit, mehr Verantwortung für die Sicherheit Europas zu übernehmen. Vor allem muss die Verteidigungsfähigkeit der EU gestärkt werden. Bundeskanzler Olaf Scholz hat daher Ende letzten Jahres die European Sky Shield Initiative ins Leben gerufen, zu der sich 18 Mitgliedsstaaten der EU angeschlossen haben. Die Initiative sieht vor, in kürzester Zeit eine gemeinsame europäische Luftabwehr aufzubauen. Damit das gelingt, wird überwiegend auf Systeme aus Israel und den USA zurückgegriffen, die auf dem Markt schnell verfügbar sind.

Insbesondere unsere Partner in Ost- und Mitteleuropa sehen ihre Sicherheit durch Russland akut bedroht. Eine zentrale Lehre aus der Zeitenwende ist, dass wir deren Sicherheitsinteressen ernstnehmen. Daher ist es richtig, dass Deutschland hier die Führung übernommen hat und sich für eine schnelle Lösung einsetzt. Dieser Weg trifft jedoch nicht überall in Europa auf Zustimmung. So will der französische Präsident Emmanuel Macron, dass wir in Europa eigene Systeme für die Luftabwehr entwickeln, anstatt die Systeme aus Israel und den USA einzukaufen. Dass Macron diese Debatte anstößt, ist gut, denn wir müssen beide Ansätze zusammendenken. Es geht kurzfristig darum, Sicherheit zu organisieren und auf die akute Bedrohungslage zu reagieren. Und es geht perspektivisch darum, eigene europäische Kapazitäten gemeinsam viel stärker auszubauen.

Der Krieg in der Ukraine zeigt, wie wichtig eine unabhängige und sichere Energieversorgung für unseren Wohlstand und unsere Sicherheit ist.

Während die Verteidigungsausgaben aller EU-Mitglieder in den letzten Jahren massiv angestiegen sind, kommen wir bei der gemeinsamen europäischen Beschaffung immer noch nicht schnell genug voran. Weniger als ein Fünftel der Anschaffungen innerhalb der EU wurden 2021 gemeinsam getätigt. Klar, es wird nicht die eine Forderung geben, die das ändert. Aber ich erwarte, dass die neue Kommission die Sicherheitsunion Europa zu einem Schwerpunkt ihrer Agenda macht.

Am Ende wird es nur funktionieren, wenn einzelne Länder voran gehen und Führung übernehmen. Hier kommt es insbesondere auf das deutsch-französische Tandem an. Daher ist es gut, dass nach den Fortschritten beim „Future Combat Air System“ auch beim anderen deutsch-französischen Rüstungsprojekt, der Entwicklung eines gemeinsamen Kampfpanzers, im Umfeld der deutsch-französischen Kabinettsklausur wichtige Hindernisse aus dem Weg geräumt wurden. Damit das keine Ausnahme bleibt, brauchen wir einen europäischen Binnenmarkt der Verteidigung mit gleichen Wettbewerbsbedingungen für die Industrie, mehr Standardisierung und Interoperabilität und weniger Ausnahmeklauseln aufgrund nationaler Sicherheitsinteressen. Damit Europa in einer Welt im Umbruch stark bleibt, braucht es auch innerhalb der EU mehr Vertrauen für gemeinsame Antworten.

Ähnlich verhält es sich im Bereich der Wirtschaft. Zweifelsfrei verbessert Europa das Leben von Millionen Menschen – egal ob in Deutschland, in Spanien oder in Polen. Dennoch fallen wir im internationalen Wettbewerb zurück. Die wirtschaftlichen Kraftzentren verschieben sich insbesondere in die USA und nach Asien.

Wir brauchen dringend einen wirtschaftspolitischen Aufbruch in Europa. Eine neue Agenda zur Vertiefung des Binnenmarktes, um das wirtschaftliche Potential Europas in der Transformation voll auszuschöpfen. Der Inflation Reduction Act in den USA schafft milliardenschwere Anreize für Investitionen in klimaneutrale Infrastruktur und Geschäftsmodelle in den USA. Damit werden private Investitionen aus aller Welt in die USA gelockt. Wir müssen auf diese Entwicklungen eine europäische Antwort finden, wenn wir im globalen Wettbewerb mithalten wollen. Dabei geht es nicht darum, in teure Subventionswettläufe einzusteigen, aber wir müssen die Kraft von 27 Staaten und 450 Millionen Bürgerinnen und Bürgern viel stärker bündeln. Die drei folgenden Handlungsfelder sind hier aus meiner Sicht zentral:

Erstens: Wir müssen die klimaneutrale Transformation in Europa vorantreiben und die Innovationen der Klimawende entwickeln. Ein zentraler Baustein dafür ist die europäische Energieunion. Der Krieg in der Ukraine zeigt, wie wichtig eine unabhängige und sichere Energieversorgung für unseren Wohlstand und unsere Sicherheit ist – überall in Europa. Das gemeinsame Ziel, bis 2050 zum ersten klimaneutralen Kontinent der Welt zu werden, sollte Ansporn für eine koordinierte europäische Energiepolitik sein. Das wird nur funktionieren, wenn sauberer Strom überall in Europa durch die Netze fließt.

Europa muss die Innovationsschmiede für die globale Transformation werden.

Wir brauchen einen Aufbruch für eine Union der Erneuerbaren Energien und des sauberen Wasserstoffs. Darin liegt ein enormes Potential – für unseren Wohlstand der Zukunft, aber auch für gute Arbeit und faire Löhne. Dafür benötigt es eine viel stärkere Verzahnung europäischer Energiemärkte und Netzinfrastruktur. Dadurch wird unsere Energie nicht nur sauberer, sicherer und günstiger, es ergeben sich auch neue Geschäftsmodelle für die europäische Wirtschaft.

Zweitens: Wir brauchen eine europäische Industriepolitik. Um Europas Wettbewerbsfähigkeit zu sichern und unsere Resilienz zu stärken, sollten wir in Europa gezielt in Branchen mit hohem Innovationspotential und hoher strategischer Bedeutung investieren, von denen breite Wachstumswirkungen in den Rest der Wirtschaft ausgehen können. Dazu gehören beispielsweise grüne Zukunftstechnologien wie Wasserstoff, Elektromobilität und Windkrafttechnologien sowie kritische Komponenten wie moderne Halbleiter und Batterien.

Perspektivisch müssen wir aber eine Industriepolitik entwickeln, die im Binnenmarkt funktioniert. Damit es nicht zu einer Fragmentierung kommt, müssen wir sicherstellen, dass alle Mitgliedsstaaten Zukunftsinvestitionen tätigen können. Dafür braucht es mehr Spielräume bei der Reform des Stabilitäts- und Wachstumspakts, denn die alten Regeln passen nicht mehr zur neuen Realität.

Drittens: Zu einer gemeinsamen Industriepolitik gehört auch das Ziel, gut bezahlte Jobs überall in Europa zu schaffen. Europa muss die Innovationsschmiede für die globale Transformation werden. Wir haben die große Verantwortung, dass der Wandel nicht dazu führt, dass Europa und unsere Gesellschaften in neue Gewinner und Verlierer unterteilt wird. Mit der europäischen Mindestlohnrichtlinie und der Vorgabe, Tarifbindung auf mindestens 80 Prozent auszuweiten, setzt Europa hier dank sozialdemokratischem Engagement wichtige Maßstäbe.

Kein Land profitiert von der EU so sehr wie Deutschland.

Bei all diesen Vorhaben geht es natürlich auch ums Geld. Es ist natürlich leicht, den Transfer von mehr Mitteln nach Europa zu kritisieren. Es gibt jedoch zahlreiche Studien, die belegen, dass Investitionen in europäische öffentliche Güter wie Sicherheit, Infrastruktur und die Energieversorgung massive Synergieeffekte bewirken und Wachstum ankurbeln würden.

Laut dem arbeitgebernahen Institut der deutschen Wirtschaft, nicht gerade eine sozialdemokratische Vorfeldorganisation, könnte der Ausbau der Energieunion jährlich 440 Milliarden Euro zusätzlich bringen. Der Ausbau grenzüberschreitender Infrastruktur und die Angleichung von Unternehmenssteuern sogar bis zu 644 Milliarden Euro. Die Umsetzung der Kapitalmarktunion sowie die Weiterführung der Arbeitslosenrückversicherung SURE und Next Generation EU bis zu 320 Milliarden jährlich. Kurzum: Europa zahlt sich aus.

Eine Konzentration auf die zentralen gemeinsamen europäischen Aufgaben kann Wachstum ankurbeln und Innovationen freisetzen. Der Großteil der Transformation wird durch private Investitionen erfolgen. Der europäische Kapitalmarkt ist aber nach wie vor viel zu fragmentiert. Anstatt in Europa zu investieren und sich mit zahlreichen nationalen Regeln auseinanderzusetzen, ziehen immer mehr private Investitionen in die USA oder nach Asien. Um es attraktiver und einfacher zu machen, müssen wir daher endlich die Kapitalmarktunion vollenden.

Kein Land profitiert von der EU so sehr wie Deutschland. Jeder vierte deutsche Arbeitsplatz hängt vom Export ab, mehr als die Hälfe unserer Exporte gehen in die EU. Dass wir einen starken Binnenmarkt haben, ist ein deutsches Eigeninteresse. Ohne ein starkes Europa kann Deutschland nicht stark sein.

Auszüge der Rede Lars Klingbeils zur Politik für ein sicheres Europa im Rahmen der Tiergartenkonferenz, gehalten am 10. Oktober 2023 in Berlin.