Italien
In keinem anderen EU-Staat hat „Next Generation EU“ eine ähnlich hohe Bedeutung wie in Italien. Das gilt gleichermaßen für die finanzielle Dimension wie für den Stellenwert im politischen wie auch gesellschaftlichen Diskurs. Die Regierung in Rom hat – anders als etwa die spanische, die französische oder die deutsche Regierung – beschlossen, den kompletten Finanzierungsrahmen auszuschöpfen, also nicht nur die Zuschüsse in Höhe von etwa 69 Milliarden Euro, sondern auch das gesamte Kreditvolumen von weiteren 122 Milliarden Euro. Zudem hat sie aus nationalen Haushaltsmitteln noch einmal 30 Milliarden Euro draufgepackt: Auf diese Weise entsteht ein gigantisches Programm für den ökonomischen Neustart in Höhe von über 220 Milliarden Euro in den Jahren 2021 bis 2026.
Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass Ministerpräsident Mario Draghi geradezu pathetischeTöne fand, als er den nationalen Plan vorstellte. Um nichts weniger als „das Leben der Italiener“ gehe es jetzt, erklärte er, um nichts weniger als „das Schicksal des Landes“ und „seine Glaubwürdigkeit und Reputation als Gründungsstaat der Europäischen Union und Protagonist der westlichen Welt“.
Schon dass die Exekutive unter dem früheren Präsidenten der Europäischen Zentralbank seit Februar 2021 im Amt ist, verdankt sich allein „Next Generation EU“: Draghi konnte seine Fast-Allparteien-Regierung nur deshalb bilden, weil die ihn stützenden Kräfte von links bis rechts die Chancen des Landes beim Zugriff auf die EU-Mittel nicht verspielen wollten.
Denn allen ist klar: Der Recovery-Plan bietet die einmalige Chance zum Neustart für ein Land, das nicht nur durch die Coronakrise schwerer als andere gebeutelt wurde, sondern das schon vorher unter einer jahrzehntelangen Stagnation litt. In sechs „Missionen“ ist der Plan aufgefächert. Fast 50 Milliarden Euro sollen in Mission Nummer eins, in „Digitalisierung, Innovation, Wettbewerbsfähigkeit und Kultur“ fließen, sprich unter anderem in den flächendeckenden Ausbau des Breitband-Internets, in die digitale Aufrüstung öffentlicher Verwaltungen oder die Förderung privater Investitionen unter dem Stichwort Industrie 4.0.
Draghi konnte seine Fast-Allparteien-Regierung nur deshalb bilden, weil die ihn stützenden Kräfte von links bis rechts die Chancen des Landes beim Zugriff auf die EU-Mittel nicht verspielen wollten.
Mission zwei sieht 70 Milliarden Euro für „die Grüne Revolution und den ökologischen Umbau des Landes“ vor, von der energiesparenden Gebäudesanierung bis hin zur Energiewende, vom Kampf gegen die Landschaftserosion bis hin zur Stärkung ökologischer Landwirtschaft. Fast 32 Milliarden Euro sollen in Mission drei fließen, in „Infrastrukturen für eine nachhaltige Mobilität“, sprich in den Ausbau des Eisenbahn-Hochgeschwindigkeitsnetzes vor allem im bisher vernachlässigten Süden des Landes, aber auch in Regionalstrecken und Häfen.
Mission vier gilt Bildung und Forschung: Das Kita-Angebot soll deutlich gestärkt werden, Schulen sollen digitalisiert, tausende neue Posten für Nachwuchswissenschaftler geschaffen werden. Mehr als 22 Milliarden Euro sollen als Mission fünf den Zugang zum Arbeitsmarkt vorneweg für Frauen erleichtern, und Mission sechs schließlich reserviert gut 20 Milliarden Euro für die Stärkung der öffentlichen Gesundheitsversorgung.
Strukturell den Sprung ins 21. Jahrhundert schaffen, konjunkturell sofort wieder Fahrt aufnehmen. Das sind die Hoffnungen, die Italien in „Next Generation EU“ setzt. Dank der Hilfen soll das Wachstum 2021 schon um die fünf Prozent des Bruttoinlandsprodukts und 2022 gut vier Prozent betragen. Der Coronaeinbruch von 2020 mit minus neun Prozent wäre damit ausgeglichen.
Michael Braun, FES Rom
Spanien
„Es muss gut werden und es wird gut werden!“, sagte die spanische Wirtschaftsministerin, Nadia Calvino, Ende April bei einer Veranstaltung mit dem Titel „Die dritte Modernisierung der spanischen Wirtschaft“. Spanien sieht den EU-Wiederaufbauplan als historische Chance für den Sprung in die Zukunft.
Gemeinsam mit Frankreich und Deutschland hat sich Spanien für ein EU-Konjunkturprogramm eingesetzt und zwischen den „frugalen Staaten“ und den Befürwortern eines Konjunkturprogramms vermittelt. Das Ergebnis kann sich sehen lassen. Für die traditionell EU-begeisterten Spanierinnen und Spanier ist „Next Generation EU“ ein Meilenstein auf dem Weg in eine stärker integrierte EU.
Nun ist Spanien – vor Italien, Frankreich, Deutschland und Polen – das Land, das in puncto Transfers am stärksten von allen EU-Mitgliedstaaten vom EU-Konjunkturprogramm profitiert. Auf die Verteilung hatten sich das Europäische Parlament und der Europäische Rat im Dezember 2020 auf der Basis der EU-Wirtschaftsprognosen vom November geeinigt. Spanien wird rund 70 Milliarden Euro in den Jahren 2021 bis 2023 an nicht rückzahlbaren Geldtransfers erhalten. Hinzu kommen knapp 70 Milliarden Euro an Krediten.
Anfang Oktober 2020 hatte die Regierung unter Pedro Sánchez (Partido Socialista Obrero Español) als erstes EU-Mitglied unter dem Titel „Spanien gelingt es“ (España puede) ihren Plan für den Wiederaufbau, die Transformation und Resilienz vorgelegt. In den folgenden Monaten fanden an die 70 Konsultationen mit der EU statt, in denen weitere Einzelheiten diskutiert und Zielsetzungen konkretisiert wurden.
Spanien war schon von der globalen Finanzkrise besonders hart betroffen und hatte sich noch nicht vollständig erholt.
Das spanische Parlament verabschiedete noch im letzten Jahr (am 30. Dezember) den gesetzlichen Rahmen für das Wiederaufbauprogramm. Im Laufe des Frühjahrs wurde der nationale Plan „Ein fortschrittlicheres Spanien“ (España más avanzada) weiter ausgearbeitet und Ende März vom Kabinett angenommen. Nach erneuter Prüfung des Plans wird mit den ersten Auszahlungen der Mittel noch im Juni gerechnet.
Spanien hat das Wiederaufbauprogramm bitter nötig: Das Bruttoinlandsprodukt ist um rund elf Prozent im Zuge der Pandemie gesunken. Das Land war schon von der globalen Finanzkrise besonders hart betroffen und hatte sich noch nicht vollständig erholt.
Für Spanien geht es mit dem Wiederaufbauplan ums Ganze. Es hat sich den Umbau des Wirtschaftsmodells – ein Vorhaben, das in Spanien schon lange diskutiert wird – ebenso vorgenommen wie die ökologische Transformation zur Bekämpfung des Klimawandels, die Digitalisierung von Regierung, Wirtschaft und Gesellschaft, um das Land fit für das 21. Jahrhundert zu machen, die Förderung von Frauen, um die Gleichstellung der Geschlechter zu erreichen, und die soziale Kohäsion der Gesellschaft.
Neben den vier Leitzielen (ökologische Transformation, digitale Transition, soziale/regionale Kohäsion und Geschlechtergerechtigkeit) definiert der Plan zur Ankurbelung des Wirtschaftswachstums zehn Politikfelder und 30 Projekte. Die Betonung der sozialen Gleichheit und gesellschaftlichen Kohäsion als eines der vier Leitziele ist ein Alleinstellungsmerkmal des spanischen Plans.
Für die Begleitung des Modernisierungsprozesses wurde eine spezielle Kommission eingesetzt. Aufgrund der stark dezentralisierten Staatsstruktur Spaniens spielen die Länderregierungen (comunidades autónomas) ebenfalls eine wichtige Rolle in der Umsetzung des Plans (bei ihnen werden mehr als 50 Prozent der Mittel ankommen). Der soziale Dialog, um dessen Reaktivierung sich die Mitte-links-Regierung seit ihrem Amtsantritt intensiv gekümmert hat, ist ein zentrales Anliegen. Die Sozialpartner sind in wöchentlichen Gesprächen in die Ausgestaltung einbezogen.
Wird der große Sprung gelingen? Die strukturellen und aktuellen Verwerfungen in der spanischen Wirtschaft, der demografische Wandel, die sozialen Ungleichheiten, die Jugendarbeitslosigkeit, der Klimawandel und die behäbige Bürokratie stellen das Land vor enorme Herausforderungen. Die Regierung hat jedoch ihre Hausaufgaben gemacht und scheint sich diesen Herausforderungen mit einem progressiven Zukunftsprojekt gut vorbereitet stellen zu wollen. Die kluge Umsetzung des Programms gibt der progressiven Regierung die Gelegenheit, das in Spanien stark angeschlagene Vertrauen in die öffentlichen Institutionen (Regierung, Parlament, Parteien) wiederzugewinnen und das Land auf den Weg einer sozial ausgewogenen Modernisierung zu bringen.
Bettina Luise Rürup, FES Madrid
Griechenland
Griechenlands Regierung des konservativen Premierministers Mitsotakis von der Nea Dimokratia betonte, dass ihr nationaler Konjunkturplan das Bruttoinlandsprodukt bis 2026 um sieben Prozentpunkte steigern und 200 000 Arbeitsplätze schaffen wird. Griechenland wird bis 2026 bis zu 30,5 Milliarden Euro aus dem EU-Programm „Next Generation EU“ erhalten, aufgeteilt in 17,8 Milliarden Euro an Zuschüssen und 12,7 Milliarden Euro an Krediten.
Doch selbst die Regierung räumte ein, dass die Umsetzung des Plans eine große Herausforderung sei und von Griechenland verlange, das Doppelte der üblichen jährlichen Rate von fünf Milliarden Euro an EU-Geldern umzusetzen und gleichzeitig die privaten Investitionen um 30 Prozent zu erhöhen. Sie warnte auch, dass Griechenland sich vor den Risiken hüten sollte, die damit verbunden sind, einschließlich der Gefahr, in „Verhaltensweisen aus der Vergangenheit“ zurückzufallen.
Wie eine Analyse von Macropolis zeigt, werden von den 18,2 Milliarden Euro, die in Form von Zuschüssen nach Griechenland kommen, sechs Milliarden Euro in die Green Transition investiert – eine von vier Säulen des Plans. Innerhalb der Säule für private Investitionen und wirtschaftliche Transformation sieht der Plan 4,8 Milliarden Euro an Zuschüssen vor. In der dritten Säule des Plans, der digitalen Transformation, investiert die Regierung 563 Millionen Euro in die Digitalisierung der Staatsarchive.
Neben der Impfkampagne als wichtigstem politischem Thema steht derzeit die Umsetzung des Konjunkturprogramms im Mittelpunkt der parlamentarischen Debatten.
Außerdem enthält der Plan Projekte wie den Ausbau von 5G-Mobilfunknetzen auf Autobahnen (130 Millionen Euro) und die digitale Vernetzung von Inseln (89 Millionen Euro). Schließlich fließen über 5,2 Milliarden Euro in die Säule „Beschäftigung, Qualifikation und sozialer Zusammenhalt“, darunter 2,3 Milliarden Euro für verschiedene Projekte im Zusammenhang mit digitaler und beruflicher Bildung sowie Ausbildungsprogramme im Bereich der MINT-Fächer (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technik).
Neben der Impfkampagne als wichtigstem politischem Thema steht derzeit die Umsetzung des Konjunkturprogramms im Mittelpunkt der parlamentarischen Debatten. Allerdings beschränkt sich die Diskussion auf einen kleinen Teil der griechischen Gesellschaft. Es ist daher nicht überraschend, dass in den Umfragen keine Auswirkungen sichtbar sind: Die konservative Nea Dimokratia liegt weiterhin 15 Prozent vor der linken Oppositionspartei Syriza.
Die dritte politische Partei des Landes – die Mitte-Links-Partei KINAL – kritisierte, dass „das Programm im Büro des Premierministers von den Wenigen für die Wenigen entworfen wurde und zu einer weiteren Vergrößerung der sozialen Ungleichheiten führen wird“. Ebenfalls stellt KINAL infrage, dass die EU-Gelder mit höheren privaten Investitionen einhergingen und Tausende von Arbeitsplätzen schafften.
Syriza hingegen verurteilte den Plan der Nea Dimokratia wegen der fehlenden Diskussion, die der Vorlage bei der Europäischen Kommission vorausging. Ihr alternativer Vorschlag, genannt „Griechenland+“, behauptet, sozial inklusiver zu sein, mit dem Fokus auf eine gleichmäßigeren Verteilung der Wachstumsgewinne in der Gesellschaft.
Arne Schildberg, FES Athen