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Jan Techau hat vor einiger Zeit in seiner Kolumne im EUobserver Pro-Europäer dazu aufgerufen, auf visionäre Rhetorik zugunsten von mehr Realismus zu verzichten. Natürlich konnte er den ungeheuren politischen und ökonomischen Druck einer weltweiten Pandemie, die Angebot und Nachfrage branchenübergreifend zusammenbrechen lässt, nicht erahnen. Die gut gemeinte Verweigerungshaltung gegenüber politischen Visionen und entsprechender Rhetorik kann man sich aber nur in guten Zeiten leisten.
Für Deutschland war die Absage an ambitionierte europapolitische Vorschläge, egal ob aus Brüssel oder Paris, über Jahre äußerst bequem. Die Außenhandelsbilanzüberschüsse sorgten für einen konstanten Cashflow aus dem europäischen Ausland in die Bundesrepublik, jede Kritik daran wurde brüsk zurückgewiesen. Ebenso vehement stellte sich das Kanzleramt gegen jede Form der gemeinschaftlichen Form von Haftung für Verlustrisiken jedweder Art. Frei nach dem Motto: Schicksalsgemeinschaft ja, aber bitte nur sonntags.
Kein Wunder, dass die „sparsamen Vier“, also die Regierungen der Niederlande, Österreichs, Dänemarks und Schwedens ihr volkswirtschaftliches Modell ebenfalls auf Exportüberschüssen aufbauen. Wer nun de facto fordert, dass das Geld, welches andere Länder in diese vier Volkswirtschaften durch Konsumausgaben (privat wie staatlich) überweisen, zuvor auch noch mit Zinsen verliehen werden soll, der will schlichtweg doppelt kassieren. Außerdem greift das beliebte „blame game“ dieses Mal nicht: Italien gehörte in der Finanzkrise zu den Geberländern, hat sich also an allen Rettungsmaßnahmen finanziell voll beteiligt und jahrelang Primärüberschüsse erwirtschaftet. Zum Dank gab es regelmäßig wirtschaftspolitische Empfehlungen, die nicht zuletzt auch die Schließung oder Privatisierung von Krankenhäusern umfassten.
Deutschland und Frankreich sind nun vorangeprescht, die EU-Kommission legt nach: EU-Darlehen sollen mit Garantien über den EU-Haushalt an internationalen Finanzmärkten aufgenommen werden, darüber sollen insgesamt 750 Milliarden Euro zu zwei Dritteln als Haushaltszuschüsse und zu einem Drittel als Kredite an die Mitglieder weitergegen werden. Das heißt, dass jedes Mitglied vorerst „nur“ mit dem eigenen EU-Haushaltsbeitrag haftet. Eine Mehrheit der Deutschen befürwortet die Pläne für einen EU-weiten Wiederaufbaufonds. Wo sind die Schwarzmaler hin, die in den jüngsten Krisenjahren bei jeder Gelegenheit die Büchse der Pandora beschworen haben?
Wo sind die Schwarzmaler hin, die in den jüngsten Krisenjahren bei jeder Gelegenheit die Büchse der Pandora beschworen haben?
Plötzlich haben wir eine ganz andere Debatte, die sich endlich um die Frage dreht, wie die EU Hilfen an ihre Mitglieder auszahlt, anstatt ständig über das „ob“ zu streiten. Deutlich wird nämlich auch, dass nicht die euro- und europakritischen Stimmen zwischen Flensburg und Passau ein Risiko für den Fortbestand der EU sind, sondern die ungleich größere Verdrusshaltung vieler Menschen im europäischen Ausland, allen voran in Italien. Welch ernüchternde Erkenntnis: Selbst die Enttäuschung über die mangelnde Problemlösungsfähigkeit europäischer Regierungen europäisierte sich schneller als deren Einsicht, in einem Boot zu sitzen.
Jene, die fortwährend über eine drohende Transferunion lamentieren, haben von Anfang an vielleicht nicht richtig aufgepasst. Die Sozial- und Strukturfonds gehören zu den ältesten Finanzinstrumenten der europäischen Einigung und sind qua Definition eine regionale Umverteilung von Finanzhilfen. Auch der EU-Haushalt speist sich seit jeher aus finanziellen Beiträgen der Mitgliedsländer, die für gemeinsame und auch regionale Aufgaben verausgabt werden. Das ist der finanzielle Wesenskern der europäischen Demokratie seit Jahrzehnten, keine verrückte Idee irgendwelcher Brüsseler Hintergrundbürokraten.
Nun beginnt genau die Form politischer Debatte, die uns im Zuge der Finanzkrise vor rund zehn Jahren noch verwehrt blieb: Sozialdemokraten wie Pierre Larrouturou streiten im Europaparlament für die Einführung europäischer Steuern zur langfristigen Finanzierung des EU-Haushalts, Liberale wie Moritz Körner stellen sich dagegen. Die parteipolitische Auseinandersetzung um unterschiedliche Konzepte, die am Ende das gleiche Problem lösen wollen, ist plötzlich auf einer ganz anderen Ebene.
Zumal die aktuelle Auseinandersetzung im Rat um Hilfszahlungen in Form von Krediten oder Zuschüssen am Problem vorbeiführt: Während es bei Krediten plötzlich nur noch darum geht, zu welchen Konditionen die Rückzahlung erfolgt, lenken Zuschüsse den Fokus auf die damit finanzierten Programme, für die eine gemeinsame Haftung bestünde. Was soll mit dem Geld finanziert werden und inwiefern deckt sich das mit gesamteuropäischen Bedürfnissen? Alleine diese Frage sorgt in der politischen Debatte für einen qualitativen Quantensprung.
Die Sozial- und Strukturfonds gehören zu den ältesten Finanzinstrumenten der europäischen Einigung und sind qua Definition eine regionale Umverteilung von Finanzhilfen.
Warum? Auch deshalb, weil die europäischen Institutionen dieses Mal Dreh- und Angelpunkt sind. Es mag zeitlich opportun sein, es ist aber vor allem taktisch äußerst hilfreich, die Wiederaufbauhilfen mit den laufenden Haushaltsverhandlungen zu verknüpfen. Plötzlich sitzen Kommission und Parlament mit im Cockpit und sorgen für mehr Weitsicht statt Fliegen auf Sicht. Kaum vorstellbar, dass es im EU-Rat auch nur den Hauch einer Einigung gegeben hätte, die Finanzhilfen an zukunftsrelevante Kriterien wie die Kompatibilität mit dem Green Deal oder die Digitalisierung der Wirtschaft zu knüpfen.
Von der Modernisierung des europäischen Kapitalstocks durch digitale Infrastruktur bis hin zu Förderung von Nachhaltigkeitsforschung kann auf diese Weise die Produktivitätslücke in Europa geschlossen werden, die als Krisensymptom bis heute ein nachhaltiges und inklusives Wachstum hemmt. Zum ersten Mal seit 2010 gewinnt man den Eindruck, dass an dem Gerede von Krise und Chance tatsächlich etwas dran ist.
Der zunehmend europakritische Soziologe Wolfang Streeck wirkt im Interview mit der FAZ hingegen ein bisschen wie Goethes Faust: „Die Botschaft hört ich wohl, allein mir fehlt der Glaube.“ Ihm ist theoretisch klar, dass wir die ökonomischen Defizite ohne eine politische Union, von gemeinsamer Steuerpolitik bis zur Außenpolitik, nicht in den Griff bekommen werden. Allein die politischen Signale fehlen. Vielleicht ist letztlich das einzig „visionäre“ an Überzeugungseuropäern, dass sie die Hoffnung auf politische Einsichten des nationalen Führungspersonals noch nicht aufgegeben haben. So könnte sich zeigen, dass letztlich die, die in der Debatte als unverbesserliche Föderalisten „gebrandmarkt“ werden, die eigentlichen Realisten sind.
Zum ersten Mal seit 2010 gewinnt man den Eindruck, dass an dem Gerede von Krise und Chance tatsächlich etwas dran ist.
Denn das dominante Muster der europäischen Krisenpolitik der letzten zwölf Jahre zeigt: Entlang nationaler Diskurslinien werden Regierungsdebatten von zunehmender Härte geführt, um am Ende oft doch bei den (modifizierten) Lösungen zu landen, die von Anfang an im Raum standen. Das intergouvernementale Krisenmanagement hat unterm Strich reichlich Krisengipfel und Stoff für die Boulevardpresse geliefert, ansonsten aber viel Steuergeld und kostbare Zeit gekostet.
Nationale Vetopositionen geraten dabei immer dann am stärksten unter Druck, wenn das Licht der Öffentlichkeit auf sie scheint. Daher wäre es jetzt erst Recht geboten, die in der Vergangenheit lange angekündigte und nun in den Hintergrund gerückte Bürgerkonferenz zur Zukunft Europas wiederzubeleben. Von Grundsatzfragen der institutionellen Demokratie bis hin zur thematischen Priorisierung der Unionspolitik: Diese Übung wäre – ob nun physisch oder digital – ein Paradebeispiel gelungener Deliberation im 21. Jahrhundert und könnte die wachsende Selbstwahrnehmung vieler Menschen als Europäer aufgreifen.
Mit organisierter Zivilgesellschaft und gelosten Bürgern gleichermaßen könnte dann auch der Frage nachgegangen werden, welche Art von Vertragsänderungen es eigentlich bräuchte, um eine krisenfeste Union zu errichten. Das EZB-Urteil des BVerfG hat erneut gezeigt, dass die aktuellen Verträge fiskalpolitisch enge Schranken bereithalten, die gerade von linker Seite immer wieder zu Recht kritisiert werden.
Womit wir wieder beim oft zitierten, leidigen Scheideweg wären. Hoffentlich gibt der nächste Ratsgipfel am 19. Juni Anlass dazu, diese unsägliche Metapher europapolitisch endlich ad acta zu legen, weil die Entscheidung für einen Weg nun grundsätzlich gefallen ist. Anders gesprochen: Es braucht gerade jetzt wieder Mut zu Visionen für ein Europa der Zukunft. Denn nichts ist für Europäer und Deutsche gleichermaßen so teuer wie ein ambitionsloses Zurücklehnen.