Eigentlich soll die Ukraine politisch und militärisch bedingungslos unterstützt werden. Vor diesem Hintergrund war die Nachricht, dass einige europäische Staaten ein Einfuhrverbot für ukrainisches Getreide verhängten, eine Überraschung für viele Beobachterinnen und Beobachter, die bisher davon ausgegangen waren, dass die Zusammenarbeit auf alle erdenklichen Bereiche ausgeweitet wird. Auch wenn die EU-Kommission eine Einigung verkündet hat, ist nicht zu übersehen, dass die Problematik sowohl wirtschaftliche als auch politische Ursachen hat – und das Problem systemische Ausmaße annehmen könnte.

2022 war die Ausfuhr von Getreide und anderen landwirtschaftlichen Erzeugnissen die entscheidende Grundlage dafür, dass Kiew der russischen Aggression wirtschaftlich standhalten konnte, und zugleich ein Thema von großem geopolitischem Gewicht. Dass die Verständigungen über einen Schifffahrtskorridor für ukrainische Getreidetransporte sich so lange hinzogen und Russland in der Folge seine eigenen Zusagen nicht einhielt, zwang die Ukraine, ihre Exporte vom Seeweg auf den Landweg zu verlagern. Damit veränderte sich auch die Rangfolge der wichtigsten Abnehmerländer. Während 2021 nur 30 Prozent der Ausfuhren in europäische Länder geliefert wurden, waren laut der Comtrade-Datenbank der UN 2022 sieben der zehn wichtigsten Abnehmerländer europäische Staaten. Länder wie Indonesien, Iran, Pakistan, Marokko und Tunesien flogen aus den Top Ten. Auch die zwei bis dato größten Abnehmerstaaten, China und Ägypten, reduzierten ihre Importe stark.

In Rumänien, Polen, Ungarn und der Slowakei kam es dadurch zu dramatischen Veränderungen auf dem Getreidemarkt. In allen Ländern dieser Region sind die Getreideimporte aus der Ukraine astronomisch gestiegen. In Rumänien stieg das Volumen beispielsweise von zwei Millionen auf fast 1,3 Milliarden  US-Dollar. Ähnlich hohe Zuwachsraten verzeichneten Polen (von 14 auf 646 Millionen  US-Dollar), Ungarn (von acht auf 401 Millionen US-Dollar) und die Slowakei (von null auf 116 Millionen US-Dollar). Nachdem die Getreidespeicher in diesen Ländern ihre Belastungsgrenze erreicht hatten – wobei die einheimischen Erzeugerinnen und Erzeuger aufgrund der Getreidelieferungen sogar ihre eigenen Getreidespeicher mancherorts nicht mehr nutzen konnten – stoppten sie die Getreidelieferungen aus der Ukraine und auch den Transit durch ihr Staatsgebiet. Die Einigung der EU-Kommission beendet nun diese Maßnahmen – im Gegenzug werden für Weizen, Mais, Raps und Sonnenblumenkerne aus diesen Ländern außergewöhnliche Schutzmaßnahmen eingerichtet.

Die europäischen Länder haben an den ukrainischen Lieferungen weiterhin gut verdient.

Dass diese Krise durch die Weigerung ausgelöst wurde, die Getreidelieferungen in entferntere Teile Afrikas umzulenken, fand in den Verlautbarungen dieser Länder weitaus weniger Erwähnung. Zugleich sollte nicht vergessen werden, dass die europäischen Länder an den ukrainischen Lieferungen weiterhin gut verdient haben. Schließlich handelte es sich dabei um riesige Mengen an billigem und trotzdem qualitativ hochwertigem ukrainischem Getreide, weswegen diese Länder insgesamt eine positive Außenhandelsbilanz aufweisen konnten. Dies zeigt in aller Deutlichkeit, dass es sich nicht nur um ein Problem mit den wirtschaftlichen Aspekten der bilateralen Zusammenarbeit und der Interaktion zwischen den Blöcken handelt, sondern dass auch politisch etwas im Argen liegt.

Die betreffenden Länder haben zwar eine gemeinsame Haltung erklärt und gemeinsame Mahnungen ausgesprochen, jedoch verfolgt jedes Land, welches die ukrainischen Getreidelieferungen blockiert, seine eigenen Interessen und handelt nach seiner eigenen Agenda. Insbesondere die Regierung Orban in Ungarn hält an ihrer Skepsis gegenüber der Ukraine fest und weitet mit der jüngsten Entscheidung ihren längst eingeschlagenen Kurs lediglich auf den Bereich des Außenhandels aus.

Jedes Land, welches die ukrainischen Getreidelieferungen blockiert, verfolgt seine eigenen Interessen.

Der polnischen Führung und der regierenden PiS-Partei sitzt einmal mehr die Frage der Wiederwahl im Nacken. Mit Blick auf die nahenden Parlamentswahlen geht es für sie darum, die eigene Wählerschaft zu vergrößern und die Stammwählerinnen und Stammwähler noch fester an sich zu binden. Landwirte machen einen erheblichen Teil der PiS-Wählerschaft aus. Da ist es nur logisch, dass ein Fokus auf deren Interessen gelegt wird. Dies geschieht, obwohl die Hauptprobleme nicht durch das ukrainische Getreide verursacht werden, sondern eher durch die Tatsache, dass es keine geeigneten Mechanismen für dessen Umverteilung gibt.

In einer ähnlichen Lage ist die slowakische Regierung. Vor dem Hintergrund, dass die Koalition für den 30. September vorgezogene Neuwahlen anberaumt hat, lassen sich solche abrupten Erklärungen und Meinungswechsel der Regierung durchaus als hastig einstudierter Flirt mit den Wählerinnen und Wählern interpretieren. In Rumänien und Bulgarien hat die Situation durch Proteste der einheimischen Landwirte an Brisanz gewonnen. Wirtschaftlich waren die Getreideimporte aus der Ukraine für den Staat zwar ein einträgliches Geschäft, aber für die kleinen und mittleren Agrarbetriebe war es schwer, sich gegen die ukrainische Konkurrenz zu behaupten. Den Regierungen beider Länder ist es gelungen, die Situation zu ihrem politischen Vorteil auszunutzen.

Es müssen unbedingt günstige Rahmenbedingungen für den Transit von ukrainischem Getreide geschaffen werden.

Was lässt sich gegen das entstandene Chaos unternehmen? Erstens müssen unbedingt günstige Rahmenbedingungen für den Transit geschaffen werden: ein konkreter Kontrollmechanismus, der dafür sorgt, dass die Agrarerzeugnisse aus der Ukraine nicht in Europa „hängenbleiben“, sondern weitergeleitet werden, zum Beispiel auf die afrikanischen Märkte. Auf diese Weise ließen sich unnötige Belastungen der Landwirte und der Infrastruktur der mitteleuropäischen Länder vermeiden. Erste Schritte in diese Richtung wurden bereits in die Wege geleitet: Die Ukraine plant, denjenigen Unternehmen, die Getreide in Polen entladen wollen, den Getreideexport für eine Weile zu untersagen.

Der zweite wichtige Aspekt sind Beihilfen für die einheimischen Landwirte. Es wird häufig gewitzelt, die Europäische Union sei ein kollektiver Unterstützungsmechanismus für die französischen Bauern. Dass die Subventionsregeln auf den Prüfstand gestellt werden und die Länder Mitteleuropas dabei mehr Gewicht bekommen sollten, ist seit Langem überfällig. Durch die Einschränkung der Importe aus der Ukraine bringen die Regierungen Polens, der Slowakei, Ungarns, Bulgariens und Rumäniens nicht nur die Frage nach mehr finanzieller Unterstützung aufs Tapet, sondern stoßen auch eine dringend nötige Debatte an, die sich durch den näher rückenden EU-Beitritt nur noch weiter verschärfen dürfte.

Dies führt uns zum dritten Punkt – dem agrarpolitischen Crashtest. Durch die Konditionen, die die Europäische Union bereits im vergangenen Frühjahr für die ukrainischen Exporte beschlossen hat, wurden die ukrainischen Landwirte de facto bereits in den Geltungsbereich des EU-Binnenmarktes einbezogen. Europa wurde ohne jede Beschränkung mit ukrainischem Getreide geflutet. Auf diese Weise haben wir damit praktisch eine Situation geschaffen, die dem nahekommt, was geschehen wird, wenn die Ukraine vollwertiges Mitglied der EU wird. Die entsprechende Reaktion anderer Staaten in der Region erleben wir bereits. Jetzt ist der Zeitpunkt, sich auf zukünftige Fälle solcher Art wirksam vorzubereiten.

Der vierte Punkt, der für die Ukraine auch eine Chance sein kann, ist die Annäherung an Brüssel auf institutioneller Ebene. Wenn mitteleuropäische Staaten durch den Erlass eigener Beschränkungen verhindern, dass ukrainische Erzeugnisse auf den EU-Binnenmarkt gelangen, verstoßen sie gegen die außen- und handelspolitischen Normen der Union, denn einseitige Maßnahmen sind für dieses vereinheitlichte System inakzeptabel.

Bei den Importverboten für ukrainisches Getreide geht es nicht so sehr darum, die Landwirte zu schützen, sondern darum, vor den anstehenden Wahlen mehr Subventionen aus Brüssel zu bekommen.

Alles in allem ist offensichtlich, dass es bei den Importverboten für ukrainisches Getreide nicht so sehr darum geht, die Landwirte zu schützen, sondern darum, vor den anstehenden Wahlen mehr Subventionen aus Brüssel zu bekommen. Die Führung der EU zeigt sich kompromissbereit – der von Brüssel beschlossene Krisenfonds zur Unterstützung der betroffenen Landwirte ist für die Länder Mitteleuropas ein beruhigendes Zeichen. Die politischen Interessen haben jedoch gegenüber internationalen sicherheits- und wirtschaftspolitischen Erwägungen die Oberhand gewonnen.

Für die ukrainische Wirtschaft und Außenpolitik sind die Entwicklungen rund um die Getreideausfuhren ein Signal – und zugleich ein Stresstest für den Umgang mit Krisen, die sich im Rahmen einer engeren Zusammenarbeit mit der EU einstellen. Ähnliche Beschränkungen und Gegensätze werden unweigerlich auch im Zuge der Verhandlungen über den EU-Beitritt der Ukraine auftreten. Die ukrainische Regierung und ihre Diplomatinnen und Diplomaten tun gut daran, sich schon jetzt darauf vorzubereiten.

Die Regierung der Ukraine muss lernen, dass sie verstärkt an ihrer außenwirtschaftlichen Ausrichtung arbeiten muss. Momentan haben die Sicherheits- und Außenpolitik für das Land natürlich Priorität, aber die Ukraine sollte im Blick haben, dass die Verbündeten zuallererst ihre eigenen Interessen verteidigen werden – besonders im sensiblen Agrarsektor. Wenn die Ukraine ihre Märkte sichern und weiterhin normale Beziehungen mit ihren Partnern pflegen will, gibt es für sie nur eine Möglichkeit: Kompromisse und gegenseitige Zugeständnisse. Nur so kann das Chaos zum Ausgangspunkt für eine neue Ordnung werden.

Aus dem Russischen von Andreas Bredenfeld