Während Europa mit politischen Umbrüchen und geopolitischen Krisen ringt, vollzieht sich im Inneren eine stille, aber folgenschwere Entwicklung: die Stigmatisierung und Einschränkung zivilgesellschaftlicher Organisationen. In seltener Unverblümtheit zeigt sich dieser Trend derzeit in Georgien. Mit einem verschärften Gesetz plant die Regierung, die maximale Kontrolle über die Finanzierung von NGOs zu übernehmen – ein Schritt, der die Arbeit unabhängiger Organisationen faktisch beenden würde. Gleichzeitig profitieren erstmals regierungstreue Organisationen von staatlicher Förderung. Georgien folgt damit einem Muster, das längst über die Region hinausstrahlt: Staatliche Kontrolle ersetzt internationale Förderung und avanciert zum Instrument politischer Steuerung.
Ungarn, die Türkei und Aserbaidschan sind Paradebeispiele dafür, wie staatliche Akteure systematisch versuchen, unliebsame Stimmen aus der Zivilgesellschaft zu unterdrücken. Die Strategien reichen von repressiven Gesetzen über mediale Diffamierung bis hin zu physischen Bedrohungen und Angriffen. In Ungarn und neuerdings auch in Georgien sind es ähnliche Gesetze wie in Russland, die NGOs als politisch motiviert oder gar als „ausländische Agenten“ brandmarken, um ihre Legitimität und Glaubwürdigkeit zu untergraben. In der Türkei und in Aserbaidschan manifestiert sich staatliche Repression in ähnlicher Weise durch rechtliche Restriktionen und ein NGO-feindliches Umfeld. Diese Entwicklungen deuten auf einen planvoll betriebenen Abbau von Handlungsspielräumen für zivilgesellschaftliches Engagement hin. Häufig geschieht das unter dem Deckmantel der nationalen Sicherheit – zur angeblichen Abwehr ausländischer Einmischung. Doch in Wirklichkeit handelt es sich um eine strategische Fassade, denn es geht um die Unterdrückung von Widerspruch und um die Konsolidierung von Macht. Die zunehmende Bereitschaft von Regierungen, gegen ihre eigenen Bürgerinnen und Bürger und deren Vereinigungsfreiheit vorzugehen, offenbart eine gefährliche Verschiebung hin zu autokratischen Regierungsformen.
Es ist bezeichnend, dass die Parlamentarische Versammlung des Europarates – ein bemerkenswertes parlamentarisches Gremium innerhalb einer internationalen Organisation – bereits im Januar 2021 auf die verheerenden Folgen restriktiver Maßnahmen für das Funktionieren der Zivilgesellschaft in Ländern wie Aserbaidschan, Russland und der Türkei hingewiesen hat. Eine Warnung, die auch vom einschlägigen Expertengremium des Europarates für Rechtsstaatlichkeit – der Venedig-Kommission – geteilt wurde. Während solche Entwicklungen lange Zeit als Problem außerhalb der etablierten Demokratien Europas galten, so sind sie inzwischen auch innerhalb der EU zu beobachten. Im März 2023 äußerte sich die damalige Menschenrechtskommissarin des Europarates, Dunja Mijatović, besorgt über die drastischen Einschränkungen der Meinungs- und Versammlungsfreiheit während der Proteste gegen die Rentenreform in Frankreich. In Italien setzte die Regierung im November 2023 Verfassungsänderungen durch, die von der sozialdemokratischen Opposition als „Krieg gegen die NGOs“ bezeichnet wurden. Der amtierende Menschenrechtskommissar des Europarates, Michael O’Flaherty, hob im Februar 2025 erneut die Bedeutung des Schutzes der Zivilgesellschaft in allen Mitgliedstaaten des Europarates hervor – und warnte vor der zunehmenden Einschränkung der Meinungs- und Versammlungsfreiheit in Europa.
Wo endet legitime Kontrolle? Und wo beginnt politische Einschüchterung?
Alarmierend ist, dass ähnliche Entwicklungen in jüngster Zeit auch in Deutschland zu beobachten sind. Ende Februar 2025 stellte die konservative Bundestagsfraktion von Friedrich Merz eine umfangreiche Anfrage an die Bundesregierung. Im Mittelpunkt stand die Finanzierung jener NGOs, die sich an Demonstrationen gegen Rechts beteiligt hatten. 551 Einzelfragen zielen darauf ab, Finanzierungsquellen offenzulegen und die Nähe zu politischen Parteien zu prüfen. Gleichzeitig wird in der Anfrage betont: Staatlich geförderte Organisationen müssten politische Neutralität wahren und sich aus Wahlkämpfen heraushalten – andernfalls drohe der Verlust der Gemeinnützigkeit. Doch wo endet legitime Kontrolle? Und wo beginnt politische Einschüchterung? Verfassungsrechtliche Stimmen sehen in der Anfrage zumindest teilweise einen Missbrauch des Fragerechts der Opposition. Sie warnen vor einer Einschränkung zivilgesellschaftlicher Organisationen und vor einer Verengung des Meinungsspektrums. Die betroffenen Organisationen sehen darin vor allem einen Versuch, kritische Stimmen zum Schweigen zu bringen.
Umso bemerkenswerter erscheint es, wie viele NGOs dem mit Entschlossenheit, Resilienz und Kreativität entgegentreten. Sie knüpfen Netzwerke, suchen den Dialog mit internationalen Institutionen und setzen gezielt rechtliche Mittel sowie öffentliche Kritik ein, um ihre Positionen wirkungsvoll zu vertreten. Die Ukraine zeigt eindrücklich: Eine starke Zivilgesellschaft ist der beste Schutz für einen demokratischen Staat – sie bildet heute das Rückgrat des ukrainischen Widerstands gegen die russische Aggression. Dabei geht es um mehr als Nachbarschaftshilfe und Zivilcourage. Durch die Mobilisierung von Freiwilligen, die Bereitstellung humanitärer Hilfe sowie den Wiederaufbau zerstörter Infrastruktur leistet die ukrainische Zivilgesellschaft einen herausragenden Beitrag zur Widerstandsfähigkeit von Städten wie Charkiw und Sumy. Doch die Erkenntnisse aus der Ukraine gehen noch weiter: Sie zeigen, dass Demokratie ihre Kraft nicht allein aus staatlichen Institutionen schöpft, sondern ebenso maßgeblich aus dem Engagement der Zivilgesellschaft. Über ganz Europa hinweg öffnen NGOs Türen zur politischen Teilhabe und verwandeln demokratische Ideale in gelebte Realität. Auf internationaler Ebene wirken sie direkt an der Ausarbeitung und Umsetzung der Normen des Europarates mit – und zeichnen so ein umfassendes Bild der Prioritäten und Anliegen der Zivilgesellschaft. An der Schnittstelle zwischen Theorie und Praxis setzen sie sich entschlossen für eine partizipative Demokratie ein und fungieren als lebendiges „Fenster“ zur Zivilgesellschaft. Damit tragen sie aktiv zur öffentlichen Meinungsbildung bei und unterstützen den Europarat bei der dringend nötigen Erhöhung seiner Sichtbarkeit in den Mitgliedstaaten.
In einer Zeit, in der autoritäre Regime und populistische Regierungen auf dem Vormarsch sind, muss der Europarat mehr sein als ein symbolisches Bollwerk.
Diese Verantwortung liegt nun in den Händen von Alain Berset. Der ehemalige Schweizer Bundespräsident und Sozialdemokrat trat im September 2024 das Amt des Generalsekretärs des Europarates an – ein Schritt, der weit über eine protokollarische Formalie hinausgeht. In einer Zeit, in der autoritäre Regime und populistische Regierungen auf dem Vormarsch sind und an den Grundfesten von Demokratie und Menschenrechten rütteln, muss der Europarat mehr sein als ein symbolisches Bollwerk. Er steht heute vor einer doppelten Aufgabe: zivilgesellschaftliche Akteure wirksam zu schützen – und zugleich das politische Gewicht zu entfalten, das diesen Schutz überhaupt erst möglich macht. Doch wie kann das gelingen? Eine Antwort liegt im Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Als „scharfes Schwert“ des Europarates in Straßburg ist er weltweit einzigartig. Doch allzu oft bleibt die Wirkung seiner Entscheidungen hinter den Erwartungen zurück. Die Menschenrechtskonvention wurde von allen Mitgliedstaaten ratifiziert. Sie ist somit für die Regierungen bindend. Das Ministerkomitee sollte daher entschlossen handeln und die Konvention konsequenter durchsetzen: Staaten, die Urteile ignorieren, müssen mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln – insbesondere mit politischen und institutionellen Hebeln – zur Rechenschaft gezogen werden.
Auch die Kontrollmechanismen verdienen mehr Nachdruck. Die Parlamentarische Versammlung zeigt immer wieder, dass gezieltes Monitoring politischen Druck erzeugen und Veränderungen erzwingen kann. Die Venedig-Kommission spielt dabei eine Schlüsselrolle. Ihre Analysen zu Rechtsstaatlichkeit sind entscheidend, um demokratische Rückschritte frühzeitig zu erkennen. Sie dürfen aber nicht im luftleeren Raum bleiben. Es braucht konkrete Maßnahmen – besonders dann, wenn Gesetze wie jüngst in Georgien die Arbeit zivilgesellschaftlicher Organisationen unterdrücken. Es liegt auf der Hand, dass diese hochkomplexen Aufgaben – ebenso wie das koordinierte Zusammenwirken der verschiedenen Institutionen des Europarates – eine entsprechende finanzielle Ausstattung verlangen. Doch daran mangelt es eklatant. Dies zeigt sich deutlich am Budget des Europarates, das heute weniger als ein halbes Prozent des EU-Haushalts ausmacht. 2025 wird zweifellos ein Entscheidungsjahr für den Europarat. Wie und mit welchem institutionellen Selbstverständnis der neue Generalsekretär Berset den enormen Herausforderungen der Gegenwart begegnen wird, entscheidet nicht nur über die Zukunft der Organisation als Hüterin zivilgesellschaftlicher Freiheiten – sondern könnte auch weitreichende Auswirkungen auf die gesamte politische Entwicklung Europas haben. Letztlich hängt die Schlagkraft des Europarates davon ab, ob und wie er seine normative Autorität konsequent in politisches Handeln umsetzen und die Mitgliedstaaten mit Nachdruck an ihre Verpflichtungen binden kann. Die Zukunft der Demokratie in Europa entscheidet sich nicht allein an der Wahlurne, sondern auch an der Resilienz ihrer Institutionen.