Die Fragen stellte Anja Wehler-Schöck.

Derzeit tobt in der EU eine Debatte um die Unabhängigkeit der Justiz in Polen. Warum ist es für die EU wichtig, wie Polen seine Justiz organisiert?

Dafür gibt es mehrere Gründe. Erstens versteht sich die Europäische Union als freiheitliche Demokratie. Das gilt für die Art und Weise, wie die EU-Institutionen selbst gestaltet sind, aber auch wie ihre Mitgliedstaaten organisiert sind. Eine freiheitliche Demokratie zu sein ist ja ein Beitrittskriterium. Wenn das nun in einem Mitgliedstaat wackelt, dann ist das Selbstverständnis der EU in Gefahr. Das ist so gravierend, dass die Union darüber nicht stillschweigend hinweggehen kann.

Zweitens garantiert die Union den Bürgerinnen und Bürgern in den Verträgen die freiheitliche Demokratie. Die EU sagt zu, dass gewisse Elementarstandards überall in der Union gelten. Und auf genau diese Garantie berufen sich in Polen und Ungarn diejenigen, die dort für die freiheitliche Demokratie auf die Straße gehen. Bei den Demonstrationen wehen oft europäische Fahnen.

Drittens haben wir in der Union ein hohes Integrationsniveau bei der Zusammenarbeit zwischen staatlichen Stellen, insbesondere bei den Gerichten. Ein deutsches und ein französisches Gericht gehen beispielsweise davon aus, dass ein polnisches Gericht nach Recht und Gesetz arbeitet, u.a. beim Vollzug von Haftbefehlen oder bei der Anerkennung von Scheidungs- oder Kindschaftssachen. Wenn nicht mehr sichergestellt ist, dass die Justiz in diesen Ländern unabhängig arbeitet, dann funktioniert diese Zusammenarbeit nicht mehr und damit wackelt die europäische Zusammenarbeit insgesamt.

Wie geht es nun weiter?

Zunächst ist es wichtig, dass die EU überhaupt etwas tut. Allerdings muss man sehen, dass man nicht auf kurzfristige Erfolge setzen darf. Die demokratische Transformation der autoritären Gesellschaften, die in Mittel- und Osteuropa 1990 begonnen hat, ist noch nicht überall vollständig vollzogen. Erst wenn dieser Prozess etwa in Polen und Ungarn substanziell weiter vorangeschritten ist, werden Phänomene wie Kaczynski und Orban nicht mehr so bedrohlich sein. Vor diesem Zeithorizont muss man das beurteilen.

Kann man diese Transformation durch externen Zwang und Druck erreichen oder zumindest beschleunigen?

Wie wir jetzt gerade in Afghanistan sehen, reicht der Druck von außen nicht, sondern es bedarf einer Gesellschaft mit einer signifikanten Bevölkerungsmehrheit, die diese Transformation wirklich will. Davon kann man in Mittel- und Osteuropa aber ausgehen. Hilft Zwang auf diesem Weg? Ich glaube schon. Er wird von denjenigen, die für die weitere demokratische Transformation kämpfen, auch vehement eingefordert – dass etwa die Mittel an die Regierung gekürzt werden. Im aktuellen Fall mit Polen ist in dem eskalierten Streit um die Disziplinarkammer am Obersten Gericht angesichts der drohenden Sanktionen selbst die überaus widerständige polnische Regierung eingeschwenkt. Daran kann man sehen, dass solche Zwangsinstrumente durchaus Wirksamkeit haben. Es sollte möglichst ein Policy-Mix sein mit den zusätzlichen Mitteln in erheblicher Höhe, die dort hinfließen.

Angesichts der aufgeladenen Debatten um LGBTQ-Rechte, Abtreibung, Migration kann man sich schon fragen, ob es eine europäische Wertegemeinschaft gibt.

Als Jurist blicke ich zuerst auf den Acquis an Rechtsprechung zu Menschenrechten, Demokratie und Rechtstaatlichkeit, der breite Zustimmung genießt. Das kann man als europäischen Wertekonsens bezeichnen. Darüber hinaus muss man sich die Dinge im Einzelnen anschauen. Bei den LGBTQ-Rechten gibt es einen Konsens, dass sexuelle Orientierung nicht mehr strafbar sein oder irgendwelche gesellschaftlichen Sanktionen erfahren darf. Das Recht auf Ehe oder Adoption muss man offener behandeln – man kann sie noch nicht in diese elementare Grundlage hineinziehen.

Ich halte es für verfehlt, wenn man andere Gesellschaften über die europäischen Werte auf Positionen festlegen wollte, die wir heute in Deutschland als Elementarvoraussetzung einer freiheitlichen Demokratie ansehen, die aber vor zehn oder zwanzig Jahren auch bei uns nur politische Forderungen waren. Man sollte demütig sein und sich vor Augen führen, wie lange man dafür auch bei uns gebraucht hat, und das unter sehr glücklichen Voraussetzungen, nämlich einer starken Wirtschaft, einem akzeptierten System der Umverteilung, einer stabilen Regierung und dem zuverlässigen Schutz der Amerikaner. Andere Gesellschaften haben es schwerer. Entsprechend sollte man das eigene Land da nicht absolut setzen. Man muss bei jeder Forderung im Einzelnen abwägen, ob sie zu den elementaren Anforderungen gehören soll oder den Weg über den normalen politischen Prozess auf der nationalen oder europäischen Ebene nehmen muss.

Wenn wir von Elementarvoraussetzungen sprechen: Was ist der kleinste gemeinsame Nenner der freiheitlichen Demokratie in der EU?

Dazu gehört zunächst einmal, dass das politische System so aufgestellt bleibt, dass die politische Opposition eine faire Chance hat, bei den nächsten Wahlen an die Macht zu kommen, also die Möglichkeit eines tatsächlichen Machtwechsels. Ein zweiter Aspekt ist ein funktionierendes rechtsstaatliches System, in dem die öffentlichen Institutionen nach Recht und Gesetz arbeiten und nicht nach politischem Befehl. Drittens muss es elementare Anerkennungsbeziehungen geben. Die Rechtsordnung muss darauf drängen, dass sich die Menschen als Gleiche und Freie begegnen.

Welche Konsequenzen drohen Staaten im schlimmsten Fall, wenn es – wie aktuell bei Polen und Ungarn – um Verstöße gegen diese Grundprinzipien geht?

Das weiß man letztlich nicht. Es kann sehr viel passieren. Es kann schon sein, dass sich Polen und Ungarn letztlich durchsetzen. Ungarn ist das in einem Punkt bereits ansatzweise gelungen. Wenn wir uns die heutige europäische Flüchtlingspolitik anschauen, dann ist sie nicht so weit davon entfernt, was Orban 2015 propagiert hat. Ungarn und Polen haben sehr geschickte Politiker. Und in anderen Mitgliedstaaten gibt es Politikerinnen und Politiker, die auf dieser Linie liegen. Marine Le Pen oder Matteo Salvini finden das prima, was Orban macht. Auch in der CSU gab es eine Zeitlang einige Stimmen, die mit Orban sympathisierten. Es ist nicht völlig abwegig, dass diese Positionen in der EU einmal mehrheitsfähig werden könnten. Dem muss man ins Auge blicken, auch wenn ich es nicht für sehr wahrscheinlich halte.

Es kann aber auch sein, dass die EU die Notbremse zieht und Ungarn und Polen aus der Union wirft. Es heißt zwar, dass das juristisch nicht geht. Aber ich bin mir ganz sicher: Wenn es dazu einen breiten Konsens in der Union gibt, dann werden wir Juristen einen Weg finden, wie man das juristisch hinbekommt.

Das wäre ein sehr harter Schritt.

Man wird sich das in der konkreten Situation ansehen müssen. Ich bin fest davon überzeugt, dass die Union mit den 27 Mitgliedstaaten – und hoffentlich bald noch mit ein paar Mitgliedstaaten mehr – eine großartige zivilisatorische Errungenschaft ist. Man sollte nichts unversucht lassen, um die Sache zusammenzuhalten, bevor man so dramatische Maßnahmen ergreift. Aber ausschließen sollte man diesen harten Schritt nicht.

Aktuell stehen Polen und Ungarn im Fokus. Welche anderen EU-Mitgliedstaaten sollten wir mit Blick auf Demokratie und Rechtstaatlichkeit im Auge behalten?

Wir sollten uns bei keinem Staat wirklich sicher sein. In Frankreich könnte Marine Le Pen die nächste französische Präsidentin werden. Was das bedeutet, wissen wir nicht. Genauso wenig ist auszuschließen, dass die nächste Regierung in Italien von Meloni und Salvini gestellt wird. Auch in Slowenien, Bulgarien, Rumänien zeichnen sich problematische Entwicklungen ab. In der schwierigen Situation in Österreich hat sich gezeigt, dass ein Verfassungsgericht wirklich den Unterschied machen kann. Der österreichische Verfassungsgerichtshof hat hier in einer Lage, die wohl heikler war als alles, was das Bundesverfassungsgericht bislang in Deutschland zu bearbeiten hatte, kluge Urteile gefällt, sodass sich die Lage stabilisiert hat. Das alles führt vor Augen, dass es sich nicht um ein Phänomen handelt, das auf Ungarn und Polen beschränkt ist.

Bleiben Sie trotz aller Herausforderungen optimistisch, was die europäische Integration betrifft?

Man muss sich ansehen, was wir alles geschafft haben. Wir haben zwar kein europäisches Volk geschaffen und auch keinen europäischen Bundesstaat gegründet. Aber es gibt eine europäische Gesellschaft. Das steht inzwischen sogar im Vertrag: Artikel 2 spricht von einer europäischen Gesellschaft, die sich auszeichnet durch Demokratie, Rechtstaatlichkeit, Menschenrechte und die Gleichstellung von Mann und Frau. Sie steht nicht nur auf dem Papier, sondern ist konkret im konkreten Leben vieler Menschen angekommen. Das war eine gewaltige – friedliche – Transformation von rein national fixierten Völkern zu einer europäischen Gesellschaft.

Ein weiterer wichtiger Punkt ist, dass die Europäische Union die großen Herausforderungen der letzten zwanzig Jahre gemeistert hat – allen Unkenrufen zum Trotz. Viele der bekannten Beobachter, insbesondere aus dem angloamerikanischen Raum, haben bei jedem Schritt gesagt: Das war falsch, jetzt wird die EU scheitern. Die Parlamentarisierung. Der Euro. Die Euro-Rettung. Der Brexit. Die Pandemie. Allen diesen Stürmen hat die Union aber getrotzt und hat es sogar verstanden, in schwierigen Verhandlungen zu Ergebnissen zu kommen, mit denen das Integrationsprojekt weitergebracht werden konnte.

Umfragen zeigen regelmäßig, dass in den jüngeren Generationen das Leben in der Union, die europäische Gesellschaft und Identität etwas viel Selbstverständlicheres sind, als das bei den älteren der Fall ist. Die EU ist eine Realität im Leben der meisten Menschen, und viele vertrauen ihr mehr als den nationalen Institutionen. Damit besitzt sie eine Stabilität, die viele derjenigen, die sie geringschätzen, nicht wahrnehmen.