Das Interview führte Karoline Raab.
Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine dauert nun schon fast vier Monate. Wie ist die Lage in der benachbarten Republik Moldau?
Den russischen Einmarsch in der Ukraine konnte man noch auf den Straßen der moldauischen Hauptstadt Chișinău hören. In den darauffolgenden Monaten ist fast eine halbe Million Flüchtlinge in unser Land gekommen, etwa 100 000 sind geblieben. Unterstützt werden sie in abgestimmter Zusammenarbeit von Zivilgesellschaft, Wirtschaft und Behörden. 95 Prozent der ukrainischen Flüchtlinge sind in Privathaushalten untergebracht. Das ist eine große Herausforderung, aber auch ein Beweis herausragender Solidarität. Warum das so ist? Weil die Ukraine und Moldau einander sehr nahestehen. Wir haben Familienmitglieder jenseits der Grenze und im Süden der Ukraine, und in Moldau leben viele Ukrainer. Die Lage ist nach wie vor schwierig und belastet unseren Staat und seine Ressourcen. Die Unterstützung, die die Republik Moldau von internationalen Organisationen, dem UNHCR, der EU und von anderen Ländern erhält, um die Probleme zu lindern und zu bewältigen, ist aber eine echte Hilfe.
Wie nehmen die Menschen in Moldau den Krieg wahr?
Der Krieg in der Ukraine löst in der Bevölkerung große Ängste und Sorgen aus. Bei vielen Moldauern werden Erinnerungen wach, denn wir haben vor 30 Jahren, im Jahr 1992, einen ähnlichen Krieg in der Region Transnistrien erlebt, die von Russland unterstützt wurde. Wir können nachvollziehen, wie die Ukraine heute zu kämpfen hat, wie sich Armee und Volk verteidigen – und sie gewinnen den Krieg. Wir beobachten die große Solidarität mit der Ukraine, die beeindruckende internationale Unterstützung nicht nur in moralischer Hinsicht, sondern auch in Form von Finanz- und Militärhilfen. Die EU gewährt erstmals einem Drittland militärische Unterstützung.
Die Ukraine ist heute ein Schutzschild nicht nur für uns in Moldau, sondern für ganz Europa. Viel hängt davon ab, wie sich der Krieg entwickelt und wie er enden wird. Wir hoffen, dass sich die Ukraine behaupten kann und die derzeitige Unterstützung ausreicht, um gegen die Angriffe und Gräueltaten Russlands zu bestehen.
Wie wirkt sich der Krieg in der Ukraine auf die Lage in Transnistrien aus?
Die Republik Moldau wird derzeit zwar nicht militärisch angegriffen, ist aber seit vielen Jahren der hybriden Kriegsführung Russlands ausgesetzt. Russische Akteure streuen in der Bevölkerung Propaganda und Desinformation. Viele moldauische Politiker sind mittlerweile Erfüllungsgehilfen Russlands. Nach wie vor sind 12 Prozent unseres Staatsgebietes rechtswidrig besetzt, und die Präsenz des russischen Militärs in der Region Transnistrien destabilisiert die Republik Moldau. Dort kommt es immer wieder zu Provokationen, und die Menschen in Transnistrien haben große Angst vor einer Eskalation des Krieges. Die regionale Führungsschicht in Transnistrien sendet allerdings klare Signale, dass sie ein Übergreifen des Krieges auf ihr Gebiet und eine Eskalation nicht wünsche und dass sie für niemanden eine Gefahr darstelle.
Wie kann die Regierung eine Eskalation des Konflikts in Transnistrien verhindern?
Wichtig ist die Fortsetzung des Dialogs zwischen Chișinău und Tiraspol, der Hauptstadt der transnistrischen Region. Die vertrauensbildenden Maßnahmen zwischen beiden haben sich über die Jahre definitiv ausgezahlt, aber auch das Assoziierungsabkommen mit der EU über eine Vertiefte und umfassende Freihandelszone (DCFTA) hat sich zu einem wichtigen Instrument entwickelt, um die Region enger an Moldau zu binden. Die Republik Moldau betreibt 70 Prozent ihres Handels mit der EU, und zwischen Chișinău und Tiraspol bestehen heute enge Verflechtungen. Das trägt entscheidend zur Widerstandskraft gegen Einfluss und Interessen Russlands in der Region bei. Vergangene Provokationen machen deutlich, dass von Russland unterstützte Kräfte innerhalb der Region Befehle direkt aus dem Kreml erhielten und darauf aus waren, die Lage zu eskalieren. Aber die Wirtschaft, die von Kleptokraten dominiert wird, hat vielfältige ökonomische Interessen, und daher will man den Krieg nicht in der Region haben.
Die Regierung in Chișinău hat immer deutlich gemacht, dass sie eine friedliche Lösung des Konflikts anstrebt, und der Schlüssel dazu liegt im Dialog. Sie muss die Beziehungen und die Zusammenarbeit mit der Bevölkerung pflegen, die Lage in der Region und an den Grenzen zur Ukraine genau beobachten, Russland von einer Eskalation abhalten und jede Ausdehnung dieses Krieges in unser Land verhindern.
Kann die Regierung angesichts des Krieges im Nachbarland den neutralen Status Moldaus bewahren?
Die Neutralität erwuchs aus dem Abkommen, das Moldau 1992 nach dem Krieg mit Russland schloss. Sie wurde in unserer Verfassung im Grunde als Sicherheitsgarantie verankert. Der Krieg zeigt uns, dass unbewaffnete Neutralität in Friedenszeiten funktionieren mag, nicht aber in Kriegszeiten. Der Ukraine garantierte ihre Neutralität keine Sicherheit, als sie grundlos von Russland angegriffen wurde. Mittlerweile wird hierzulande darüber diskutiert, ob es zum Schutz unserer Neutralität notwendig ist, die Sicherheits- und Verteidigungssysteme zu verbessern. Unser Verteidigungshaushalt beläuft sich auf etwa 40 Millionen Euro, 0,03 Prozent des Bruttoinlandsprodukts – das ist praktisch nichts.
Was kann man für mehr Sicherheit tun?
Etwa ein Viertel der Bevölkerung möchte in die NATO. Man hat ja gesehen, dass Finnland und Schweden, die jahrelang neutral waren, dem Bündnis beitreten möchten. Viele Menschen sind aber auch gegen den Beitritt, weil der Fall unseres Nachbarn für die Neutralität spricht: Die Ukraine wollte der NATO beitreten, doch der Beitrittsprozess dauerte zu lange und barg viele Risiken. Schließlich wurde er von Russland als Vorwand für die Invasion herangezogen. Gesellschaft, Politik und Öffentlichkeit müssen intensiv darüber diskutieren, was Sicherheitsgarantien und Neutralität für uns bedeuten, was sie uns kosten und wie wir sie gewährleisten können. Das ist eine wichtige Debatte. Immer mehr Menschen erkennen, dass wir neutral bleiben und unsere Neutralität mit unseren Partnern absichern müssen.
Moldau ist auf hoher Ebene in einen Sicherheitsdialog mit der EU eingestiegen. Die EU hat die sogenannte „Europäische Friedensfazilität“ entwickelt, für die wir uns ebenfalls beworben haben; außerdem erhalten wir Unterstützung für die Cybersicherheit und den Kampf gegen Desinformation. Mit der NATO kooperieren wir seit Jahren im Rahmen des Programms „Partnerschaft für den Frieden“. Moldau sollte unbedingt über ein Sicherheitsaudit, eine Überprüfung des Sicherheitssektors, den Bedarf klären und Prioritäten festlegen und zudem eine Erhöhung des Verteidigungshaushalts anstreben.
Klar ist, dass der Krieg in der Ukraine die Sicherheitsarchitektur in Europa irreparabel beschädigt hat. Wir erwarten Diskussionen und Lösungen für die Gewährleistung von Sicherheitsgarantien für Länder wie die Ukraine und Moldau, die derzeit keinem Bündnis angehören.
Wie hat sich der Krieg in der Ukraine auf die moldauische Wirtschaft ausgewirkt?
Die Republik Moldau hat gleich mit mehreren Krisen zu kämpfen: der Pandemie, dem wirtschaftlichen Abschwung und der Energiekrise mit steigenden Preisen. Letztes Jahr hat Russland versucht, uns durch unsere hundertprozentige Abhängigkeit von russischen Gaslieferungen zu erpressen. Letztendlich haben wir uns nicht auf politische Diskussionen über den Gasliefervertrag eingelassen. Anders als Serbien oder Ungarn hat die Republik Moldau keine Vereinbarung getroffen, in der um eines günstigeren Preises willen russischen Interessen nachgegeben wurde. Aber jetzt liegt der Gaspreis dreimal so hoch wie im letzten Jahr. Die Unterstützung der Europäischen Union hat uns sehr geholfen, einen Ausgleich zu schaffen und die Preise vor allem für die Schwächsten in der Bevölkerung zu senken. Da die Preise aber weiter steigen – wir haben mit 25 bis 27 Prozent eine der höchsten Inflationsraten in Europa –, revidiert Moldau seine Strategie für die Energiesicherheit. Bis zum nächsten Winter hat die Suche nach alternativen Lieferquellen höchste Priorität, um uns von der hundertprozentigen Abhängigkeit von russischem Gas zu befreien. Flüssigerdgas aus der Türkei, Aserbaidschan oder den USA könnte dabei helfen. Schon vor dem Krieg hat eine Reihe von Faktoren Regierung und Bevölkerung unter Druck gesetzt. Mit Kriegsbeginn hat sich dieser Druck vervielfacht, da mit dem Hafen von Odessa eines der wichtigsten logistischen Transportzentren blockiert wurde. Viele Importe nach Moldau kamen über Odessa. Was uns rettet, sind das Assoziierungsabkommen und das DCFTA mit der Europäischen Union, über die Moldau fest im europäischen Markt verankert wurde.
Wie die Ukraine hat auch die Republik Moldau vor kurzem einen Antrag auf EU-Mitgliedschaft gestellt. Welche Erwartungen haben Sie jetzt an die Europäische Union?
Als die Republik Moldau im März nach Georgien und der Ukraine den EU-Beitritt beantragte, war das natürlich eine Reaktion auf den Krieg. Der Krieg hat die Wahrnehmung, die Einstellungen, aber auch die Dynamik in der EU stark verändert, und wir waren von der Solidarität und der Haltung der Europäischen Union beeindruckt. Wir hoffen sehr, dass die EU diese Dynamik nutzen und unserem Land das klare Signal für eine Aufnahme der Ukraine und Moldaus geben wird – beides Länder mit engen Beziehungen zu Europa. Wir wissen, dass der Beitrittsprozess langwierig ist, und wir erwarten keine Abkürzungen. Es ist sogar sehr wichtig, dass im Zuge des EU-Beitrittsprozesses alle notwendigen Schritte unternommen werden und durch die Reformen die Transformation des Landes vorangetrieben wird. Aber damit diese Dynamik anhält, muss die EU dringend ein Zeichen setzen.
In meiner Zeit als stellvertretender Außenminister habe ich meinen Kollegen in Brüssel und in verschiedenen EU-Hauptstädten erklärt, dass die Republik Moldau ein europäisches Land ist, dass wir eine europäische Sprache sprechen, dass wir eine europäische Geschichte haben, dass wir EU-Mitglied werden können und es verdient haben, dieselbe Perspektive zu erhalten wie die Länder des Westbalkans. Ich habe damals immer gesagt: „Wartet nicht, bis ihr eure Meinung wegen eines Krieges ändern müsst.“ Genau das ist jetzt geschehen. Der Krieg kam zu uns, und zwar ohne jeden Anlass. Viele Politiker in der EU betonten, man dürfe nichts überstürzen. Einige sagten, die Ukraine und die Republik Moldau hätten noch jede Menge Hausaufgaben zu erledigen, bevor man ihnen eine klare Perspektive geben könne. Andere meinten, wir sollten nicht allzu ehrgeizig in die EU streben, weil ein Beitritt der Ukraine und Moldaus Russland provozieren könnte. Das Zögern aufseiten der EU hat den Kreml aber in dem Glauben bestärkt, dass er seinen Einfluss auf die Region ausdehnen kann, und die Invasion in der Ukraine nach sich gezogen. Jetzt bleibt für weiteres Zögern keine Zeit mehr. Die EU muss aus der Vergangenheit lernen und der Ukraine und anderen Ländern, deren Sicherheit unmittelbar bedroht ist, den Kandidatenstatus anbieten. Aber der EU-Beitritt hat auch noch einen anderen Aspekt.
Der wäre?
Der Kandidatenstatus würde auch unsere moldauische Gesellschaft voranbringen. Da Regierung, Parlament und Präsidentin pro-europäisch und reformorientiert sind, besteht bei uns im Moment trotz der Krise eine Bereitschaft zur Transformation. Wir haben ein Prüfverfahren durchgeführt und unser Justizsystem und die Korruptionsbekämpfung reformiert. Für Gesellschaft und Politik entstand eine echte Agenda, die Wahrnehmung, dass sich ein Umbau vollzieht, und das wird auch zu einer Diversifizierung des politischen Spektrums beitragen, denn allzu lange herrschte in der Parteienlandschaft eine geopolitische Spaltung, die sich auch in den Parteiprogrammen widerspiegelte.
Im Parlament haben wir derzeit eine reformfreudige, pro-europäische Mehrheit und eine reformfeindliche, pro-russische Minderheit. Für unsere Demokratie ist es wichtig, dass politische Parteien echte Themen debattieren. Geopolitik ist aber kein politisches Thema, sondern spaltet nur die Gesellschaft und versorgt Populisten mit Parolen. Wir müssen reformorientierten politischen Parteien Chancen eröffnen. Eine gehaltvolle und zielgerichtete politische Debatte über transformatorische Reformen trägt dazu bei, dass mehr reformorientierte Oppositionsparteien in Erscheinung treten und die notwendigen Reformen mit vorantreiben.
Aus dem Englischen von Anne Emmert