Der Parti socialiste (PS) ist schon einmal ein Neustart geglückt: in den 1970er-Jahren, nach der Niederlage ihres Kandidaten Gaston Defferre bei der Präsidentschaftswahl von 1969, als dieser nur 5 Prozent der Stimmen erhielt. Ein Neuanfang heute ist möglich – das wäre der vierte seit 1905 – denn zwischen Emmanuel Macrons Businesspartei „La République en Marche“ und Jean-Luc Mélenchons linkspopulistischer Partei „La France Insoumise“ gibt es einen politischen Raum für eine sowohl ambitionierte als auch verantwortungsvolle sozialdemokratische Oppositionspartei, und dieser Raum hat noch Wachstumspotenzial.

Zwar haben 50 Prozent der Wähler, die 2012 François Hollande gewählt hatten, diesmal für Macron gestimmt. Zahlreiche führende Politiker der PS, Abgeordnete und aktive Mitglieder sind zu „En Marche“ übergewechselt, in der Hoffnung, der ehemalige Berater und Minister von Präsident Hollande werde, vorbei an der unreformierbar gewordenen PS, der Linken zu einer neuen Identität verhelfen. Heute aber haben viele von ihnen angesichts der Politik der Regierung Édouard Philippe ihre Illusionen aufgegeben: Durch die Reform der Vermögenssteuer werden den wohlhabendsten Franzosen Steuern in Höhe von 4 Milliarden Euro erstattet und den sozial Schwächsten wird der Wohngeldzuschuss auf 60 Euro pro Person gekürzt. Die Reform der Arbeitsmarktpolitik ist unausgewogen: Sie orientiert sich stärker am angelsächsischen liberalen Modell der Flexibilität als am nordeuropäischen sozialdemokratischen Modell der „Flexicurity“. Selbst gemäßigte Gewerkschaften – CFDT, UNSA, FO – stehen dem ablehnend gegenüber. Der Schwerpunkt der Partei des Präsidenten liegt heute eindeutig rechts.

Mit ihrer bekannt differenzierten Ausdrucksweise brandmarken der Máximo Líder von „La France insoumise“ sowie Philippe Martinez, der Chef der Gewerkschaft CGT, die Arbeitsmarktreform denn auch als „Sozialstaatsstreich“ und „Verschrottung des Arbeitsrechts“. In den Meinungsumfragen sind die Beliebtheitswerte des Staatschefs auf Talfahrt: Mitte September waren nur noch 32 Prozent der Befragten mit seiner Arbeit zufrieden.

Die PS darf sich nicht damit begnügen, die Reformen der Regierung abzulehnen, sondern muss zu jeder einzelnen ihre Gegenvorschläge unterbreiten

Die PS hat also eine Chance. Bei ihrer Erneuerung geht es um vier Baustellen:

1. Als Erstes muss sie die Aufgabe einer entschiedenen, aber konstruktiven Opposition übernehmen. Sie darf sich nicht damit begnügen, die Reformen der Regierung abzulehnen, sondern muss zu jeder einzelnen ihre Gegenvorschläge unterbreiten und der gesamten sozialliberalen Logik eine sozialdemokratische Logik entgegenhalten: keine Flexibilität ohne Sicherheit, keine Verstärkung des Bündels repressiver Maßnahmen gegen den Terrorismus ohne richterliche Überprüfung, keine Strukturreformen des Arbeitsrechts, ohne mit den Gewerkschaften eine Einigung auszuhandeln, keine Prekarisierung der Lohnabhängigen, sondern eine Absicherung ihres Erwerbslebens. In dieser Schlacht der Gegenanträge wird die Rolle der Fraktion und der nationalen Parteisprecher in den Medien entscheidend sein.

2. Der Wiederaufbau wird gleichzeitig an der Basis stattfinden, im Kampf um die Wiedereroberung der Gemeinden, Departements und Regionen. Das wird die Aufgabe der neuen Generation sein und eine Chance, denn dabei kann sich die aktive Mitgliedschaft der Partei verjüngen, der Frauenanteil und die Diversität zunehmen. Bei den Kommunalwahlen 2020 wird es hoffentlich zu einem ersten Aufschwung der französischen Sozialisten kommen. Die Macron’sche Mehrheit wird dann einen gewissen Machtverschleiß hinter sich haben. Nach der Befürwortung des „Dégagisme“ (eine Wortschöpfung, die das In-die-Wüste-Schicken von bisherigen Amtsinhabern umschreibt) im Jahr 2017 könnte sie ihrerseits ein Opfer dieser Haltung werden.

3. Gegenüber der von Emmanuel Macron gegründeten und von ihm als „Chef von Gottes Gnaden“ geführten Businesspartei muss die Parti socialiste die kämpferische Massenpartei des neuen Zeitalters der Demokratie erfinden: Sie muss gut beschlagen sein in allen Kommunikations-, Aktions- und Organisationsformen, die das Internet bietet; sie muss die demokratische Ethik peinlich genau beachten, ihre Sympathisanten und Wähler an ihren Debatten und der Entwicklung ihrer Vorschläge beteiligen. Sie muss den sozialdemokratischen Kompromiss unseres „jungen 21. Jahrhunderts“ neu denken und dessen Herausforderung meistern: den gelungenen Übergang zu einer Gesellschaft der Innovation und Exzellenz, zur verwirklichten Demokratie, zu einer Kultur des „guten Lebens“.

4. Die vierte, wesentliche Baustelle ist die Wiederankurbelung und Neuorientierung des europäischen Prozesses: Angesichts von Trump, Putin, Erdogan und anderen brauchen wir Europa dringender denn je. Eine Chance hat sich eröffnet, durch die sich gemeinsame Projekte umsetzen lassen – wenn möglich, für 27, wenn nötig, für weniger Mitgliedstaaten: das Europa der Energie, der Verteidigung, des Digitalen, der Mobilität ohne CO2-Ausstoß, des ökologischen Wandels, der biologischen und umweltgerechten Landwirtschaft. Wenn es den französischen und europäischen Sozialisten gelingt, diese gemeinsame Politik festzulegen und zu fördern, werden die Organisations- und Finanzierungsmöglichkeiten folgen und die europäische Integration wird mehrere Schritte nach vorn machen.

Es gibt in Frankreich einen politischen Raum für einen Aufschwung der Parti socialiste. Das Problem ist nur, ob die Partei ihn auch einnehmen kann. Dafür müssen zwei Bedingungen erfüllt sein. Die erste wäre, dass ihre aktiven Mitglieder – es gibt noch welche! – wieder Lust darauf haben, miteinander zu leben und zu arbeiten. Die zweite Bedingung wäre, dass sie es schaffen, die Führungskrise innerhalb ihrer Partei zu bewältigen, denn durch die extreme Personalisierung der Politik und die große mediale Aufmerksamkeit, die sie in unseren digitalen Demokratien genießt, ist die Frage der Führungsperson ausschlaggebend. Wird die PS beide Voraussetzungen erfüllen können? „Ich glaube und hoffe es“, wie Léon Blum sagte. „Ich glaube es, weil ich es hoffe.“