In ganz Europa zahlen sozialdemokratische Parteien jetzt den Preis dafür, dass sie in den 1990er Jahren die Globalisierung kritiklos akzeptiert haben. Damals wurde verantwortungsvolle Politik mit den Anforderungen der globalen Märkte gleichgesetzt. Tony Blair und Gerhard Schröder drückten es in ihrem viel zitierten Pamphlet The Third Way/Die Neue Mitte so aus: „Die Sozialdemokraten müssen sich an die zunehmenden Forderungen nach Flexibilität anpassen.“

Dieses Motto wurde als „pragmatischer Realismus“ akzeptiert und von den meisten sozialdemokratischen Parteien, die in Europa Ende der 1990er Jahre regierten, schnell angenommen. Dani Rodrik erinnert daran, dass die gemäßigte Linke als Komplize daran beteiligt war, die Globalisierung in eine neoliberale Richtung zu lenken. Eine wichtige Rolle spielte dabei der Euro. Er wurde von den sozialdemokratischen Regierungsparteien bereitwillig unterstützt, ohne dass sie die ordoliberalen Regeln seiner Einführung jemals hinterfragt hätten. Auch bei der zunehmenden Entpolitisierung der öffentlichen Hand haben sie mitgemacht. So gerieten Politikbereiche, die vorher unter demokratischer Kontrolle standen, unter den Einfluss technokratischer Institutionen.

Aber indem die sozialdemokratischen Parteien die Globalisierung als unkontrollierbares Naturgesetz akzeptierten, trugen sie auch zur zunehmenden Ungleichheit, zum Abbau der Sozialsysteme und zur Erosion der sozialen Schutzmechanismen bei, die einst das Aushängeschild der europäischen Sozialordnung waren. Sie nahmen in Kauf, dass eine neue, arme Arbeiterklasse entstand. Sowohl die Steuererleichterungsprogramme der britischen New Labour als auch die Agenda 2010 der deutschen SPD beruhten auf der Idee, stärkerer globaler Wettbewerb bedeute niedrigere Löhne und schlechteren sozialen Schutz. Letztlich haben diese Parteien damit zur weltweiten Finanzkrise von 2008 und der nachfolgenden Eurokrise beigetragen, von der sich die meisten europäischen Volkswirtschaften bis heute noch nicht wieder völlig erholt haben.

Es wird nicht leicht sein, die Wahlverluste der europäischen Sozialdemokratie rückgängig zu machen.

Dass die sozialdemokratischen Parteien bei den Wahlen immer schlechter abschneiden, hängt direkt damit zusammen, dass sie die Globalisierung so kritiklos akzeptierten. In den letzten zehn Jahren wurden die gemäßigt linken Parteien Europas abgewählt, weil sich ihre Anhänger von ihnen im Stich gelassen fühlten. Während viele der Enttäuschten gar nicht erst zur Wahl gingen, stimmten andere für linksradikale Parteien, die jetzt sozialdemokratische Positionen übernommen haben. Und einige von ihnen liefen zu Parteien der populistischen und extremen Rechten über.

Es wird nicht leicht sein, die Wahlverluste der europäischen Sozialdemokratie rückgängig zu machen. Ihre Parteien haben sich bereitwillig daran beteiligt, die europäische Integration zu vertiefen, die auf Kosten der Arbeiter, der Bevölkerung und der Demokratie die Forderungen der globalen Konzerne erfüllt. Es wird einige Zeit dauern, die ordoliberalen und neoliberalen Knoten zu lösen, die derzeit verhindern, dass in ganz Europa sozialdemokratische Maßnahmen umgesetzt werden.

Erschwerend kommt hinzu, dass die Regierungen der meisten europäischen Länder nun in der Hand der gemäßigten Rechten liegen – von der auch EU-Institutionen wie das Europäische Parlament und die Europäische Kommission ideologisch beeinflusst werden. Diese politischen Akteure weigern sich, in der Eurozone Reformen durchzuführen, durch die die vorherrschende Ideologie eines minimalen, aber starken Staates in Frage gestellt wird. Die Schwierigkeiten des französischen Präsidenten Emmanuel Macron, Deutschland oder andere nordeuropäischen Regierungen von seinem gemäßigten Eurozonen-Reformprogramm zu überzeugen, verdeutlichen dieses Problem sehr anschaulich.

Wollen die europäischen Sozialdemokraten zurück an die Macht, müssen sie in der Politik wieder von Möglichkeiten sprechen.

Noch schlimmer wird die Sache durch die Wut der Wählerinnen und Wähler in ganz Europa. Die radikale Rechte bekommt immer mehr Zulauf. Die Wähler haben keine Lust mehr auf Parteien und Politiker, die sich mehr an unsichtbaren und unverantwortlichen Marktkräften ausrichten als an den Bedürfnissen der Menschen. Die Wählerinnen und Wähler lassen sich nicht länger von der Ausrede überzeugen, die Politik sei ein kompliziertes Geschäft. Das haben die Wahlen in Italien, Ungarn, Schweden und kürzlich in Andalusien und zuletzt die bis jetzt überparteilichen Proteste der gilets jaunes in Frankreich gezeigt.

Sie haben genug vom stagnierenden Lebensstandard, immer höheren persönlichen Schulden und dem Gefühl, ihr Leben befinde sich in der Hand von Mächten, die sie nicht kontrollieren können. Dass die Bürger nativistische Parteien unterstützen, die Migranten und Flüchtlinge zu Sündenböcken machen, ist natürlich beunruhigend. Aber wir müssen uns daran erinnern, dass die Rechtsradikalen ihr Wählerpotenzial erst dann wirklich ausbauen konnten, als sie – zusätzlich zu ihren fremdenfeindlichen Programmen – versprachen, den Mindestlohn zu erhöhen, Arbeitsplätze zu schützen, ein Grundeinkommen einzuführen und in öffentliche Dienstleistungen zu investieren.

Also kann der momentane politische Status Quo keine Entschuldigung für Untätigkeit sein. Wollen die europäischen Sozialdemokraten zurück an die Macht, müssen sie in der Politik wieder von Möglichkeiten sprechen. In erster Linie müssen sie dabei den Wählerinnen und Wählern erklären, wie eine andere Globalisierung möglich sein kann. Sie müssen damit beginnen, ihre Narrative zu ändern. Statt darüber zu sprechen, was die Regierungen nicht mehr tun können (das Mantra der 1990er), müssen die sozialdemokratischen Parteien herausfinden, auf welche Weise der Staat die Globalisierung beeinflussen kann.

Die Sozialdemokratie muss eine neue Rolle des Staates fordern und fördern, die gewährleistet, dass die Märkte dem öffentlichen Wohl dienen und Bürger und Arbeitnehmer nicht wie Waren behandelt werden.

In den 1990ern hat die gemäßigte Linke die Vertiefung der wirtschaftlichen und finanziellen Globalisierung sowie der europäischen Integration unterstützt. Im 21. Jahrhundert sollte sie eine Globalisierung unterstützen, die für die Rechte der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und einen robusten Sozialstaat eintritt. Sie muss sich für den Umweltschutz ebenso einsetzen wie für eine Demokratie, die Bürger an der Entscheidungsfindung beteiligt. Sie muss zudem für dynamische, inklusive und attraktive öffentliche Räume streiten.

In den 1990ern haben die Sozialdemokraten den Arbeitnehmern gesagt, sie müssten sich an die Forderungen des Weltmarkts anpassen. Im 21. Jahrhundert müssen sie nun den Konzernen sagen, dass diese ihre Arbeiter und Angestellten fair behandeln und in ihre Fortbildung investieren müssen, dass sie ihre Steuern zahlen und die ökologischen Auswirkungen ihrer Tätigkeiten berücksichtigen müssen. Kurz gesagt - die Sozialdemokratie muss eine neue Rolle des Staates fordern und fördern, die gewährleistet, dass die Märkte dem öffentlichen Wohl dienen und Bürger und Arbeitnehmer nicht wie Waren behandelt werden.

Auf dem Weg hin zu dieser neuen „Politik der Möglichkeiten“ gibt es Sackgassen, Hürden, Schlaglöcher und Haarnadelkurven. Und doch ist sie die einzige Möglichkeit, der Sozialdemokratie neues Leben einzuhauchen und dem europäischen Projekt wieder Hoffnung zu bringen.

Aus dem Englischen von Harald Eckhoff.

(c) Social Europe