Im Vorfeld dieser Wahl des Parteivorsitzenden war oft der Hinweis auf das Jahr 1983 zu hören. Wie Tony Blair und Gordon Brown kam ich damals erstmals ins Parlament. Wir verloren die Wahl aus verschiedenen Gründen, vor allem aber, weil wir gespalten waren. Die Social Democratic Party, die sich von Labour abgespalten hatte, sicherte Margaret Thatcher eine zweite Amtszeit, in der ihre Regierung die Attacken gegen Gewerkschaften, Industrie und öffentlichen Dienst verstärkte. In der Labour Party engagierte sich die Parteilinke leidenschaftlich, aber häufig in internen Kämpfen, für die Parteiendemokratie, während mehrere Vertreter des rechten Flügels die Wahl dazu nutzten, das Parteiprogramm madig zu machen. Kein Wunder, dass wir verloren.
Die Lektionen, die sich für 2015 daraus ergeben, sollten alle Parteiflügel bedenken. Wir können die Unterstützung konservativer Pendler im Süden, die die Abzocke der Bahn satt haben, ebenso zurückgewinnen wie die Unterstützung derer, die Anti-Establishment-Parteien gewählt haben – die Schottische Nationalpartei, die UK Independence Party, die Grünen und so weiter –, wenn wir ihnen zeigen, dass wir uns vor sozialen und wirtschaftlichen Themen nicht fürchten und es mit den Mythen der Torys aufnehmen. Wir werden Menschlichkeit und Ehrlichkeit walten lassen und praxistaugliche Maßnahmen vorschlagen, die Probleme lösen, statt Einzelne zu dämonisieren. Jüngste Umfragen von YouGov in London wie auch die landesweiten Survation-Umfragen belegen, dass dieser Ansatz Erfolg haben kann, denn demzufolge bin ich der Kandidat, der alle erreichen kann – alle, die gewählt haben, aber auch alle, die nicht gewählt haben.
Mittlerweile haben wir 400 000 Menschen zusätzlich für unsere Partei interessiert. In diesem Geiste des Engagements und der Diskussion müssen wir in den nächsten fünf Jahren weitermachen
Mittlerweile haben wir 400 000 Menschen zusätzlich für unsere Partei interessiert. In diesem Geiste des Engagements und der Diskussion müssen wir in den nächsten fünf Jahren weitermachen und unsere Anhänger auch als Parteimitglieder gewinnen. Wir müssen wieder eine Massenpartei werden.
Von meinen Reisen durchs Land weiß ich, dass wir verloren gegangene Wählerinnen und Wähler in ganz England – und auch in Wales und Schottland – zurückgewinnen können. Die Menschen wollen echte Probleme diskutieren. Sie wollen keine Oppositionspartei, die sich in der Seifenblase von Westminster mit hohler Politik und persönlichen Scharmützeln aufhält. Sie wollen, dass wir eine prinzipientreue Partei sind, die ihnen in ihrer Gemeinde beisteht und ihnen das Vertrauen gibt, uns wieder an die Macht zu bringen.
Die unflätigen Angriffe in der Boulevardpresse gegen mich, andere Kandidaten und unsere Familien taten weh. Dass Chuka Umunna wegen dieser Attacken in den Tagen nach Bekanntgabe seiner Kandidatur um das Amt des Parteichefs einen Rückzieher machte, ist völlig verständlich. Ich vertrete eine andere Art von Politik, offener und inklusiver, in der nicht das Ränkespiel politischer Rivalen im Vordergrund steht, sondern die Debatte. Mein Wahlkampf bezieht seinen Schwung zu einem Großteil aus der organisatorischen Kraft und Reichweite der sozialen Medien. Die Chancen, die uns dort geboten werden, sollten wir dafür nutzen, die Menschen zu begeistern und zusammenzubringen.
Was mich selbst angeht, so habe ich persönliche Angriffe oder Beleidigungen stets gemieden. Lasst uns über Politik debattieren, nicht über Persönlichkeiten. Diese Ausrichtung meiner Wahlkampagne habe ich wiederholt über die sozialen Medien verbreitet. Wir sind Labour: Wir lösen unsere Differenzen, indem wir darüber debattieren und abstimmen.
Personalisierte Politik ist ein Symptom des eher präsidialen Regierungsstils, der sich mittlerweile eingebürgert hat. Ein Parteichef ist aber kein Präsident. Er ist primus inter pares – Erster unter Gleichen. Er oder sie wird ins Unterhaus gewählt wie jeder andere auch. Frühere Parteichefs waren sich dessen bewusst und ernannten ein buntgemischtes Kabinett, um die Debatte und die Diskussion zu fördern. Harold Wilsons Kabinette, die Tony Benn, Barbara Castle, Anthony Crosland und Roy Jenkins versammelten, spiegelten die politische Vielfalt auf den Abgeordnetenbanken der Labour Party wider. Dass im Kabinett gestritten, dass Meinungen ausgetauscht wurden, war eine Stärke, keine Schwäche.
Wir müssen alle Talente und Ideen aufgreifen, ungeachtet, aus welchem Parteiflügel sie kommen. Uneinigkeit gilt es mit demokratischen Verfahren beizulegen, nicht durch Hinterzimmergeschäfte oder Machtworte von oben.
Meinungspluralität ist mir daher willkommen. Im Schattenkabinett wird für jedes Ministerium ein starkes Team die Regierung zur Verantwortung ziehen und mit öffentlichen Kampagnen die schädlichen Auswirkungen von Ausgabenkürzungen und Privatisierung anprangern. Wir brauchen Menschen, die sich ihrem Mandat verpflichtet fühlen und in der Lage sind, Hand in Hand mit der Partei für ihren Bereich eine Vision zu entwickeln, die zugeschnitten ist auf eine Gesellschaft mit mehr Gleichheit, Demokratie und Inklusion.
Meinungspluralität ist mir willkommen.
Ich werde ein starkes, vielseitiges Schattenkabinett aufstellen, das die Regierung vom ersten Tag an zur Verantwortung zieht. Eine partizipatorische parlamentarische Labour-Partei ist Voraussetzung für Einheit und Stärke, und daher meine ich, dass sich für jedes Ministerium ein Ausschuss aus Labour-Hinterbänklern bilden sollte, der den Dialog zwischen allen Labour-Abgeordneten und dem Schattenkabinett fördert und die Politik vorantreibt.
Die Labour Party ist eine demokratische sozialistische Partei. Fast 300 000 Menschen haben das auf der Rückseite ihrer Labour-Mitgliedskarte stehen. Unsere Mitglieder und Anhänger haben Ideen, Erfahrung und Wissen, die eine wertvolle Ressource bilden – und das gilt auch für unsere Gemeinderätinnen und Gemeinderäte, denn häufig kommen die innovativsten Ideen aus den Kommunalparlamenten. Schattenminister und politische Berater haben die Weisheit nicht gepachtet und müssen sich daher mit Parteimitgliedern und Anhängern austauschen. Wenn wir gemeinsam Politik machen, machen wir eine bessere Politik.
Im Wahlkampf um die Parteiführung haben wir im Norden unsere Anhänger dazu befragt, welche politischen Veränderungen ihre Region braucht. Wir haben über 1200 gut durchdachte Antworten erhalten, die wir zu einem klaren politischen Konzept zusammengefasst haben: »Northern Future«.
Ich bin angetreten, um eine Debatte zu eröffnen, neue Menschen einzubeziehen und unsere Partei zu der Bewegung umzubauen, die sie sein muss. Das ist keine Strategie für die Wahl zum Parteichef, sondern eine Strategie für den Sieg bei den Unterhauswahlen 2020.
(c) The New Statesman
9 Leserbriefe
Wäre in dem Artikel noch überblicksartig dargestellt worden, was Jeremy Corbyn
alles an Inhalten vertritt, wäre das eine Runde Sache gewesen.
Eine Sozialdemokratie, die ihre Politik wieder von der Arbeit her denkt und deren Würde in den Fokus ihrer Politik rückt, hat aber alle Chancen, wieder stärker zu werden. Eine Sozialdemokratie, die das nicht tut, ist nicht nur Chancengleichheit, sondern überflüssig.
das sollte allerdings:
"...aber häufig in internen Kämpfen, für die innerparteiliche Demokratie,..." heißen.
Wenn man etwas im Original nicht ganz versteht, soll man lieber nachfragen oder nachschlagen, statt nur halbblind zu übersetzen.
Doch noch einmal kurz zurück zu Corbyn. Diesem Politiker wünsche ich, und das auch im Interesse der deutschen Sozialdemokratie, alles Glück der Welt. Vielleicht gelingt ihm das, was für die Menschen der ganzen Welt als bahnbrechend wirken könnte, nämlich der Beginn einer gerechteren Welt. Der Beginn einer gerechteren Verteilung all der Mittel (und es ist genug für alle da), derer die Menschheit bedarf.
Wie heisst er? Bin sehr neugierig! )