Vor 50 Jahren stand die Dominanz des US-Dollars im internationalen Finanz- und Handelssystem noch außer Frage. 1977 erreichte der US-Dollar einen Spitzenwert von 85 Prozent als Leitwährung bei den Devisenreserven; 2001 lag der Anteil der US-Währung an den Devisenreserven noch bei 73 Prozent, und heute sind es nur noch rund 58 Prozent. Die Dominanz des Dollars und die hegemoniale Stellung der Vereinigten Staaten sind seit Langem miteinander verwoben. Die derzeitigen globalen Veränderungen erschweren es den USA, ihre führende Rolle zu behaupten: Dass sich das Gravitationszentrum allmählich von Westen nach Osten verlagert, die US-Innenpolitik sich immer komplexer gestaltet, die aufstrebende Großmacht China an internationalem Gewicht gewinnt und die Länder des globalen Südens immer selbstbewusster auftreten, schwächt die Vorrangstellung und den Status des US-Dollars.
Dennoch hat die Währung noch immer den weitaus größten Anteil am Welthandel, an den Devisentransaktionen, an den SWIFT-Zahlungen und den außerhalb der USA begebenen Schuldtiteln. Westliche Finanzakteure, Regierungsvertreterinnen und Regierungsvertreter sowie renommierte Expertinnen und Experten sind bemüht, die sogenannte „Entdollarisierung“ herunterzuspielen, und behaupten, ein relativ geschwächter Dollar bedeute nicht zwangsläufig seinen Niedergang. Nicht zu bestreiten ist jedoch trotz aller Kontroversen, dass das Weltfinanzsystem vor immer komplexeren, vielfältigeren und pluralistischeren Herausforderungen steht, die einen Wettbewerb der Währungen und neue kreative Finanzstrategien mit sich bringen.
Auf dem Weg der sogenannten „Entdollarisierung des globalen Finanzwesens“ gab es einige Meilensteine. Eine entscheidende Rolle spielte die Euro-Einführung 1999, denn mittlerweile werden 20 Prozent der weltweiten Devisenreserven in Euro gehalten. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts entstand zudem die Asian Currency Unit – eine asiatische Währungseinheit, die sich aus 13 Währungen ostasiatischer Länder zusammensetzt (den zehn Ländern des südostasiatischen Staatenverbunds ASEAN plus Japan, China und Südkorea). Parallel zu den wirtschaftlichen Regionalisierungserfolgen brachte auch die vom Westen bestimmte Geopolitik globale Finanzinnovationen hervor, die die Vorrangstellung des US-Dollars geschwächt haben.
Derzeit belegt Washington 22 Länder mit Sanktionen.
Die Tatsache, dass gegen Länder wie den Iran (insbesondere seit 2006) und Russland (seit der Annexion der Krim 2014) zunehmend Sanktionen verhängt wurden, beförderte den Umstieg auf alternative Währungsvereinbarungen. Derzeit belegt Washington 22 Länder mit Sanktionen. Die russische Invasion in die Ukraine 2022 und die Ausweitung von Sanktionen, die die Nutzung des US-Dollars erschweren, animieren zu Maßnahmen, welche die Entdollarisierung zusätzlich verstärken. Auf die Entscheidung, Russland von SWIFT abzukoppeln, reagierte Moskau mit dem Ausbau seiner bilateralen Beziehungen im Treibstoffhandel, der teilweise in Rubel abgewickelt wird. Gleichzeitig nahmen Russland und mehrere afrikanische Länder Verhandlungen über Zahlungen in nationalen Währungen auf, wobei sowohl der US-Dollar als auch der Euro als Zahlungsmittel abgelöst werden sollen. China ist unterdessen dabei, sich vom Westen abzuschotten und den Renminbi international zu etablieren, auch wenn er noch nicht einmal drei Prozent der offiziellen Währungsreserven weltweit ausmacht. Moskau und Peking intensivieren ihre finanzielle Zusammenarbeit; Frankreich und Saudi-Arabien haben sich darauf geeinigt, bestimmte Öl- und Gasgeschäfte in Renminbi abzurechnen, und Bangladesch ist bereits das neunzehnte Land, das den Handel mit Indien in Rupien abwickelt.
Hinzu kommt, dass auch der Goldrausch in vollem Gange ist. Wie Ruchir Sharma kürzlich feststellte, sind die wichtigsten Käufer mittlerweile die Zentralbanken, die „inzwischen mehr Tonnen Gold beschaffen als zu jedem anderen Zeitpunkt seit Beginn der Aufzeichnungen 1950 und die derzeit einen Rekordanteil von 33 Prozent der monatlichen weltweiten Goldnachfrage ausmachen [...], wobei neun der zehn wichtigsten Abnehmer die Zentralbanken von Entwicklungsländern sind“. Außerdem wollen einige Länder Afrikas offenbar mit Währungen handeln, die durch Rechte an Seltenen Erden gedeckt sind. Im globalen Süden setzt sich zunehmend die Erkenntnis durch, dass die Entdollarisierung ein wichtiger Schritt hin zu einer multipolaren Welt ist, in der neue Akteure, Interessen und Regeln zusammenwirken. Es zeichnet sich also ab, dass sich nach und nach ein Handelssystem mit mehreren Währungen herausbilden wird.
Vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Spannungen und Rivalitäten zwischen den Großmächten will Brasilien die unabhängige Stimme des Globalen Südens sein.
Für Brasilien ist die Entdollarisierung Teil seiner außenpolitischen Strategie. Mit Beginn seiner dritten Amtszeit hat Präsident Lula da Silva sehr schnell die Absicht bekundet, seine Differenzen mit dem westlichen Regelwerk aus dem Weg zu räumen. Ein Diskurs, der die Vorherrschaft des Globalen Nordens in der Weltordnung in Frage stellt, ruhte zwar zwischenzeitlich, ist aber wieder neu entfacht worden. Es werden Forderungen laut, die Weltordnungspolitik durch entsprechende Reformen inklusiver zu gestalten, die Dominanz des Dollars im internationalen Handel und Finanzwesen in Frage zu stellen und geopolitische Weltanschauungen, die den sicherheitsorientierten Methoden und der militärischen Eskalation Vorschub leisten, zu verurteilen. Vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Spannungen und Rivalitäten zwischen den Großmächten will Brasilien die unabhängige Stimme des Globalen Südens sein. Dementsprechend wirbt Lula auch für eine Friedenslösung für die Ukraine durch Verhandlungen, bei denen das Mitspracherecht aller am Krieg beteiligten Parteien anerkannt wird.
Auftrieb bekam Lulas Eintreten für die Entdollarisierung dadurch, dass Brasilien den BRICS-Staaten angehört und dabei ist, seine bilateralen Beziehungen zu China auszubauen. Die anhaltend rekordverdächtigen brasilianisch-chinesischen Handelsbeziehungen erreichten 2022 einen Spitzenwert von 150,5 Milliarden US-Dollar (zum Vergleich: Das Handelsvolumen zwischen Russland und China betrug im selben Jahr 190,2 Milliarden US-Dollar). Bei Lulas Staatsbesuch in China wurden die bilateralen Beziehungen kürzlich weiter intensiviert. Derzeit handeln beide Staaten neue Vereinbarungen aus, die dafür sorgen sollen, dass Handels- und Finanzgeschäfte direkt in chinesischen Renminbi und brasilianischen Reais abgewickelt werden. Parallel will sich die brasilianische Regierung im Rahmen der New Development Bank (NDB) – der multilateralen Bank der BRICS-Staaten – für ein entdollarisiertes Handelssystem starkmachen, zu dem außer den BRICS-Mitgliedern auch die Länder gehören sollen, die Kredite der NDB in Anspruch nehmen können. Indem Lula die frühere brasilianische Präsidentin Dilma Rousseff als Chefin der Entwicklungsbank in Stellung brachte, hat er das brasilianische politische Engagement an dieser Front intensiviert. Daran wird Brasilien mit Sicherheit in den Foren der globalen Politikgestaltung immer wieder anknüpfen – vor allem mit Blick auf seinen G20-Vorsitz im Jahr 2024.
Bemerkenswert ist, wie die Regierung Lula sich um eine umsichtige Strategie bemüht, indem sie einerseits gegenüber ihren BRICS-Partnern Signale gegen die Hegemonie des Dollars aussendet und andererseits auf einem vom Dollar dominierten Terrain wie der Interamerikanischen Entwicklungsbank (IDB) konstruktiv präsent zu sein und beides miteinander in Einklang zu bringen sucht. Da Brasilien seit vergangenem Dezember den Vorsitz der Interamerikanischen Entwicklungsbank innehat und die Kandidatur des brasilianischen Ex-Beamten des Internationalen Währungsfonds Illan Goldfajn unterstützte, gewinnt es im internationalen Finanzwesen von Washington bis Shanghai an Einfluss.
Brasilien hat – vor allem gemeinsam mit Argentinien – inzwischen auch einen ersten Versuch unternommen, seinen südamerikanischen Nachbarn die Entdollarisierung näherzubringen.
Brasilien hat – vor allem gemeinsam mit Argentinien – inzwischen auch einen ersten Versuch unternommen, seinen südamerikanischen Nachbarn die Entdollarisierung näherzubringen. Im Februar dieses Jahres wurden bilaterale Gespräche aufgenommen, um ein gemeinsames Währungsprojekt zu erarbeiten, das die Abhängigkeit vom US-Dollar reduzieren soll. Damit könnte die Entdollarisierung innerhalb des MERCOSUR-Raums Einzug halten, welchem neben Argentinien und Brasilien auch Paraguay, Uruguay und Venezuela angehören.
Argentinien folgt inzwischen dem Beispiel Brasiliens und zieht in Erwägung, den Renminbi als Handelswährung im Zahlungsverkehr mit Peking zu nutzen. Für Brasilien könnten solche Entwicklungen eine Möglichkeit sein, die regionale Finanzwelt von der Dominanz des US-Dollars wegzuführen. Auf kurze Sicht werden die anhaltenden makroökonomischen Turbulenzen in Argentinien und die extrem niedrigen Devisenreserven solchen Vorhaben sicherlich im Wege stehen. Außerdem braucht es mehr als zwei zum Tangotanzen. Wenn die argentinische Wirtschaft sich nachhaltig erholt, wird Brasilien sich in Sachen Investitions- und Handelsströme die Unterstützung wichtiger nicht-westlicher Akteure sichern und dabei über die Grenzen der eigenen Region hinausschauen müssen – insbesondere nach China und Indien –, um die Wiedereingliederung des MERCOSUR in die Weltwirtschaft anstoßen zu können. Die Entdollarisierung könnte eines von mehreren Elementen einer dynamischen Neugestaltung der finanziellen und produktiven Verflechtungen Brasiliens und seiner Nachbarländer mit anderen Regionen und Wirtschaftsmächten der Weltwirtschaft werden. Natürlich ist dies eine langfristige Strategie. Maßgeblich ist hier die Rolle Südamerikas, das schon bald an der Entwicklung eines Handelssystems mit mehreren Währungen mitwirken könnte.
Die brasilianische Bindung an den US-Dollar lässt sich trotz allem, was Lulas Präsidialdiplomatie sich auf die Fahnen geschrieben hat, zwar abschwächen, wird aber mit Sicherheit bedeutsam bleiben. Die Entscheidungsprozesse in Brasilien werden von einem komplexen interministeriellen Gefüge gesteuert, das für die internationalen Beziehungen des Staates zuständig ist und sich dem Einfluss der wichtigsten Produktionsbereiche der Privatwirtschaft – insbesondere der Agrarindustrie und des Finanzsektors – nicht entziehen kann. Die Umgestaltung des brasilianischen internationalen Finanzwesens setzt deshalb weitreichende Anpassungen voraus, die es nicht geben wird ohne einen intensiven innerstaatlichen Verhandlungsprozess – zumal wenn dies mit der Stärkung der Demokratie einhergehen soll.
Aus dem Englischen von Christine Hardung