Zum zweiten Mal hat der Economist Deutschland zum „kranken Mann Europas“ erklärt. 1999, als das Wirtschaftsmagazin diese Diagnose zum ersten Mal stellte, litt das Land unter hoher Arbeitslosigkeit. Es ist allerdings fraglich, ob diese hohe Arbeitslosigkeit auf eine chronische Krankheit hindeutete – oder ob sie nicht nur die unausweichliche Folge des Vereinigungsschocks für die äußerst unproduktive Wirtschaft Ostdeutschlands war. Dass Westdeutschland mit seinen 61 Millionen Einwohnern es geschafft hat, seine großzügigen sozialen Sicherungssysteme auf 16 Millionen Ostdeutsche auszuweiten und gleichzeitig die marode Infrastruktur im Osten komplett wiederaufzubauen, war damals ein Indiz für seine wirtschaftliche Stärke. In meinem Buch Wir sind besser, als wir glauben stellte ich 2014 die negative Diagnose der deutschen Wettbewerbsfähigkeit in Frage.

Heute dagegen scheint die Diagnose eher zuzutreffen. Ein offensichtlicher Indikator ist die Wachstumsschwäche der deutschen Wirtschaft. Deutschland ist neben Argentinien das einzige Land, dem die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung in ihrem jüngsten Ausblick Economic Outlook, Interim Report September 2023 für das laufende Jahr ein schrumpfendes Bruttoinlandsprodukt vorhersagt. Auch 2024 wird es noch zu den wachstumsschwächsten Ländern gehören.

Natürlich ist man sich in Deutschland dieser Leistungsschwäche bewusst. Als Hauptschuldiger wird in der öffentlichen Diskussion die „Bürokratie“ ausgemacht – also der Staat. Es fragt sich allerdings, ob die deutsche Bürokratie, die tatsächlich oft langsam und ineffizient arbeitet, wirklich als Erklärung für die schwache Wirtschaftsleistung herhalten kann. Das International Institute for Management Development erfasst die Effizienz staatlichen Handelns jedes Jahr in einem internationalen Ranking. 2023 belegt Deutschlands Bürokratie in diesem Ranking einen nicht gerade überragenden 27. Rang, aber die meisten Konkurrenten schneiden nicht viel besser ab: die USA belegen Rang 25, Großbritannien den 28. und China den 35. Platz.  Japan, Frankreich, Spanien und Italien liegen sogar noch dahinter.

Auch wenn die deutsche Bürokratie ein Wachstumshemmnis ist, muss es tieferliegende Probleme geben. Diese sind leicht auszumachen, wenn man die Besonderheiten des „Geschäftsmodells“ der deutschen Wirtschaft unter die Lupe nimmt. Dieses Geschäftsmodell lässt sich in Abgrenzung von denen der Wettbewerber in Form dreier konzentrischer Kreise beschreiben.

Deutschland kann sich nicht mehr darauf verlassen, dass andere Länder seine Wirtschaft stimulieren.

Der äußere Kreis ist die ausgeprägte Exportorientierung. Seit den 1990er Jahren hat die deutsche Exportquote (das Verhältnis der Ausfuhren zum BIP) sich nahezu verdoppelt. Mit 47 Prozent ist sie weitaus höher als in Frankreich und Großbritannien (29 Prozent), China (20 Prozent) und erst recht in den USA (elf Prozent). In den Zeiten der rasanten Globalisierung kurbelten die Exporte die deutsche Wirtschaft an, und in den hohen Leistungsbilanzüberschüssen bildete sich zugleich die mangelnde Binnennachfrage ab. Aufgrund des zunehmenden Protektionismus – nicht nur in China, sondern besonders in den USA – fällt der Welthandel inzwischen als Wachstumsmotor aus. Deutschland kann sich nicht mehr darauf verlassen, dass andere Länder seine Wirtschaft stimulieren.

Der mittlere Kreis des deutschen Wirtschaftsmodells ist die starke Fokussierung auf das verarbeitende Gewerbe: Dessen Anteil an der Wertschöpfung beträgt 19 Prozent und ist damit höher als in den USA (elf Prozent) und mehr als doppelt so hoch wie in Frankreich und Großbritannien (neun Prozent). Für Deutschland, das jahrzehntelang von seiner starken industriellen Basis profitiert hat, ist es jetzt viel schwerer, die hohen Energiepreise und die gebotene Dekarbonisierung der Wirtschaft zu verkraften, als für Länder mit einem starken Dienstleistungssektor. Auf diesem Gebiet leidet Deutschland (ebenso wie die anderen europäischen Länder) daran, dass es kaum über digitale Plattformen verfügt. Eine Untersuchung der Frankfurter Allgemeinen Zeitung  zeigte kürzlich, dass 80 Prozent des Weltmarktwertes dieser Plattformen auf die USA entfallen – auf China 17 Prozent und auf Europa insgesamt nur zwei Prozent.

Der innere Kreis des deutschen Geschäftsmodells ist Teil des verarbeitenden Sektors: die deutsche Automobilbranche, die sich sehr stark auf China als Absatzmarkt konzentriert. Die Fahrzeugproduktion in Deutschland erreichte ihren Höhepunkt 2017 und liegt heute unter dem Niveau der Zeiten vor dem Finanzcrash von 2008. Die realen Schwierigkeiten, mit denen Volkswagen auf dem chinesischen Markt zu kämpfen hat, offenbaren die tieferliegenden Probleme der deutschen Autobauer. Sie haben nicht nur zu lange auf den Verbrennungsmotor gesetzt, sondern auch die Bedeutung digitaler Dienstleistungen unterschätzt. Dass Volkswagen auf ein relativ kleines chinesisches Unternehmen (XPENG) angewiesen ist, um die digitale Performance seiner Autos zu verbessern, zeigt, wie sehr die Zeiten sich wandeln: Früher belieferte Deutschland China mit Spitzentechnologien. Heute exportieren chinesische Batteriehersteller wie CATL Spitzentechnologien nach Deutschland, indem sie hier investieren.

Deutschland ist mit einer grundsätzlichen Infragestellung seines Geschäftsmodells konfrontiert.

Der bei den deutschen Medien (und vielen deutschen Ökonomen) beliebte Befund, die Bürokratie – und die damit zusammenhängenden hohen Steuern – seien Deutschlands Hauptproblem, geht aus den genannten Gründen am Kern der Sache vorbei. Deutschland ist mit einer grundsätzlichen Infragestellung seines Geschäftsmodells konfrontiert, der mit Deregulierung und Steuersenkungen nicht beizukommen ist. Was es braucht, ist eine umfassende Transformation – und die erfordert vor allem ein neues Wirtschaftsparadigma.

In der ökonomischen Debatte gibt allerdings nach wie vor der unerschütterliche Glaube führender Wirtschaftswissenschaftler an die Vorzüge des Marktes den Ton an. Der Schlachtruf der orthodoxen deutschen Ökonomen ist das unübersetzbare Wort Ordnungspolitik. Veronika Grimm, Mitglied im Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, fasste dieses Credo kürzlich in wohlformulierte Worte: „Der Staat weiß nicht besser als die Wirtschaftsakteure, wo die zukünftigen Chancen liegen. Außerdem darf man nicht vergessen, dass die Politik massiv von Interessengruppen beeinflusst wird. Und die kämpfen oft darum, das Bestehende zu bewahren oder das Tempo des Wandels zumindest einzubremsen.“

Mit der Schuldenbremse macht Deutschland das am wenigsten dringliche Problem zur obersten Priorität.

Die augenfälligste Konsequenz der Ordnungspolitik ist die seit 2009 im Grundgesetz verankerte Schuldenbremse. Sie schreibt faktisch ausgeglichene Haushalte vor. Dies bedeutet, dass weder die Bundesregierung noch die Regierungen der Bundesländer produktive staatliche Investitionen mit Schulden finanzieren dürfen. Diese Regel, die es in keinem anderen größeren Land gibt, erhebt die Staatsverschuldung implizit zum wichtigsten Anliegen und ordnet ihm alle anderen Anliegen in der Realwirtschaft unter. Dabei hat Deutschland von allen G7-Staaten mit Abstand die niedrigste Schuldenquote (Verhältnis der Staatsverschuldung zum BIP) – mit der Schuldenbremse macht es also das am wenigsten dringliche Problem zur obersten Priorität.

Unter diesen Umständen wird der Umbau seiner Wirtschaft für Deutschland ein sehr schwieriges Unterfangen. Die Verschuldungsgrenzen verhindern staatliche Investitionen und schränken die fiskalischen Spielräume für Maßnahmen zur Ankurbelung der Binnennachfrage ein. Die deutliche Abschwächung der Bautätigkeit infolge der hohen Zinsen wäre eine ideale Gelegenheit für Investitionen in den sozialen Wohnungsbau. Migrationsbedingt ist es in Deutschland sehr schwer bis unmöglich geworden, in größeren Städten Wohnraum zu zumutbaren Preisen zu finden. Doch beim Sondergipfel zum Thema Wohnungsbau, den die Bundesregierung im vergangenen Monat organisierte, war die Bauministerin Klara Geywitz nicht gewillt oder nicht in der Lage, mehr als die ausgesprochen geringe Summe von 1,3 Milliarden Euro in diesem Jahr und 1,6 Milliarden Euro im kommenden Jahr bereitzustellen.

Die notwendige Neuausrichtung der deutschen Industrie auf neue Technologien und Dienstleistungen ist ein Opfer der Schuldenbremse.

Auch die notwendige Neuausrichtung der deutschen Industrie auf neue Technologien und Dienstleistungen ist ein Opfer der Schuldenbremse. Diese Neuausrichtung muss im großen Stil durch Forschungsaktivitäten unterstützt werden, aber die Staatsausgaben in diesem Bereich befinden sich im freien Fall. Das ist umso beunruhigender, als Deutschland in der Hightech-Forschung schon jetzt keine dominierende Rolle spielt. Ein kürzlich vom Australian Strategic Policy Institute veröffentlichtes Ranking der Forschungsaktivitäten mit Blick auf 64 innovative Technologien zeigt, dass China auf diesem Gebiet mit Abstand am aktivsten ist, gefolgt von den USA. Deutschland rangiert hinter Indien, Südkorea und Großbritannien.

Die mangelnden Staatsausgaben sind aber nicht der einzige Faktor, der die Transformation der deutschen Wirtschaft ausbremst. Während in China und den USA, aber auch in vielen kleineren Ländern der Staat eine maßgebliche Rolle übernimmt, wenn es um die Ausgestaltung des Ökosystems für neue Technologien geht, lehnen viele deutsche Ökonomen „Subventionswettläufe“ vehement und grundsätzlich ab. Im April empfahlen die führenden deutschen Wirtschaftsinstitute in ihrer Gemeinschaftsdiagnose: „Standort- statt Industriepolitik, Subventionswettläufe anderen überlassen“. Eine Folge dieses passiven Denkens ist, dass deutsche Autobauer wie Mercedes und Volkswagen ihre Elektrofahrzeugproduktion nach Nordamerika verlagern, weil sie dort in den Genuss der großzügigen Subventionen im Rahmen des amerikanischen Inflation Reduction Act oder der entsprechenden kanadischen Regelungen kommen.

Diesmal liegt der Economist mit seiner Diagnose also richtig: Deutschland ist krank geworden. Doch es könnte geheilt werden, wenn es bereit wäre, seinen Lebensstil zu ändern und die für die Genesung angezeigte Medizin einzunehmen. Die Lebensstiländerung setzt ein neues Denken voraus: Statt eines oft bedingungslosen Vertrauens in die Kräfte des Marktes braucht es eine differenziertere Sicht der Dinge. Der Staat darf nicht nur als Problem betrachtet werden („Bürokratie“), sondern auch als Lösung für Probleme, die die Märkte aus eigener Kraft nicht „lösen“ können. Die Medizin: staatliche Schulden, eingesetzt als Wachstumsmotor – nicht durch Steuersenkungen und damit einhergehende Transfers, sondern durch mehr staatliche Investitionen, um die Binnennachfrage zu beleben und die Entwicklung und den Einsatz neuer Technologien zu stimulieren. 

Dieser Artikel ist eine gemeinsame Publikation von Social Europe und dem IPG-Journal.

Aus dem Englischen von Andreas Bredenfeld