Ähnlich wie bereits 1975 ist die G7 auch im Jahr 2022 mit einer Vielzahl an Krisen konfrontiert. Heute wie damals beobachten wir das gleichzeitige Auftreten ineinandergreifender globaler Problemlagen. Sogar die Themen sind sich ähnlich, allen voran die so elementare Sicherung der Energieversorgung. Vor fast 50 Jahren als Reaktion auf genau solche Herausforderungen gegründet, konnte die G7 zu Beginn des Jahres 2022 ihre Leistungsstärke als Krisenmanagerin einmal mehr unter Beweis stellen. Mit der schnellen Umsetzung der Sanktionen gegen Russland und den Waffenlieferungen an die Ukraine nach dem völkerrechtswidrigen Überfall am 24. Februar 2022 sendeten auch die G7-Mitglieder ein starkes Zeichen für den internationalen Zusammenhalt unter Demokratien aus. Jedenfalls was den Globalen Norden betrifft, während Indien und Südafrika ihre jeweils eigene Russland-Politik verfolgen.
Dieses geschlossene Vorgehen der G7-Demokratien und vor allem die Entschlossenheit, sich gegen Angriffe auf die regelbasierte Ordnung durch Autokratien gemeinsam zu wehren – zumal wenn die Souveränität und Selbstbestimmung eines Staats verletzt wird –, müssen den aktuellen Krieg in der Ukraine überdauern, will die G7 zukünftig aktiv internationale Politik gestalten. Selbstverständlich ist die G7 alles andere als fehlerfrei. Aber aufgrund fehlender Alternativen kommt ihr als einem multilateralen Forum für den vertrauensvollen Austausch zwischen wirtschaftsstarken Demokratien eine zentrale Bedeutung zu. Umso wichtiger ist es, die G7 zu reformieren und statt Sherpa-Unwesen, Gipfelshows und Kommuniqué-Schablonen einen Ort für ergebnisoffene und inkludierende Gespräche zu schaffen. Kurzum: Die G7 muss den Spagat schaffen, wieder zurück zu ihrem Ursprungscharakter als möglichst informelle Zusammenkunft für offenen Gedankenaustausch zu kommen, jedoch gleichzeitig ihre Exklusivität aufzulösen und neue Stimmen an den Tisch zu holen.
Selbstverständlich ist die G7 alles andere als fehlerfrei.
Die Idee, die führenden Industrienationen jährlich zu Weltwirtschaftsgipfeln einzuladen, stammt von Valéry Giscard d’Estaing und Helmut Schmidt. Frankreichs Staatspräsident und Deutschlands Bundeskanzler verband ein freundschaftliches Verhältnis und sie wussten die politische Zuverlässigkeit des anderen zu schätzen. Der erste Weltwirtschaftsgipfel kam 1975 – noch ohne Kanada – als G6 auf Schloss Rambouillet bei Paris zusammen, initiiert als Forum zur internationalen Krisenbewältigung.
Die beiden Staatsmänner waren sich einig, dass sich die Zukunftsfragen des fortgeschrittenen 20. Jahrhunderts nicht in den engen Grenzen des Nationalstaats beantworten ließen. Vielmehr brauchte es nach ihrer Überzeugung europäische Antworten und globale Initiativen. Vertrauen besaß dabei für sie als politische Kategorie eine immense Bedeutung.
Vorbereitet wurde der G6-Gipfel in Rambouillet von einem kleinen Kreis von Sherpas, benannt nach dem britischen Vertreter John Hunt, der 1953 die Mount-Everest-Expedition von Edmund Hillary geleitet hatte und vor Rambouillet für den Prime Minister Harold Wilson verhandelte. Wie dieser ließen sich alle beteiligten Staats- und Regierungschefs buchstäblich auf den Gipfel führen. Absolute Verlässlichkeit und gegenseitiges Vertrauen waren dementsprechend auch hier zentral.
Große Bedeutung hatte von Anfang an die moderierende, wegweisende und auch Gate-Keeper-Funktion der Sherpas im Vorfeld der Weltwirtschaftsgipfel, deren Problemstellungen sich angesichts ihrer Komplexität und Interdependenz durchaus mit Himalaja-Besteigungen vergleichen ließen. Währungsturbulenzen, grassierende Inflation, Ölpreis-Krise, steigende Arbeitslosigkeit und Welternährungslage waren in den 1970er Jahren die vorherrschenden Themen. Die Entwicklungspolitik, heute zentral für die G7, führte zumeist ein Schattendasein, einmal abgesehen vom Weltwirtschaftsgipfel 1982 in Versailles, der auf die Empfehlungen der Nord-Süd-Kommission reagierte.
In den vergangenen Jahren hat die G7 versucht, ihre Relevanz durch „Agenda Setting“ herzustellen.
In den vergangenen Jahren hat die G7 versucht, ihre Relevanz durch Agenda Setting herzustellen. Dafür wurden die Gipfel-Themen jedes Jahr erweitert, und der Umfang des abzuarbeitenden Programms nahm zu. Neben die globalen Wirtschafts- und Energiethemen traten der Klimawandel und schließlich die Covid-19-Pandemie. Mit der inhaltlichen Ausweitung ging eine organisatorische Vergrößerung des G7-Prozesses einher. Zu dem jährlichen großen Treffen gesellten sich anlassbezogene Sondergipfel. Es entstand ein dichtes Netz von Arbeitsgruppen und Referaten in den verschiedenen Regierungszentralen und Ministerien, sodass mittlerweile neben den öffentlich sichtbaren, nur wenige Tage dauernden G7-Gipfeln eine weit ausgedehnte Governance-Struktur existiert, die ganzjährig tätig ist.
Das Sherpa-System wurde ausgebaut und der G7-Prozess zunehmend auf eine administrative Beamtenebene geholt. Selbstverständlich sind diese Governance-Strukturen zentral für die Erarbeitung der G7-Programme und die Vorbereitung der Gipfeltreffen selbst. Diese Institutionalisierung hat jedoch dafür gesorgt, dass der Gipfelprozess inzwischen tendenziell von einem „Sherpa-Unwesen“ getrieben ist, während sich die Gipfel selbst mehr zu inszenierten „Schauen“ entwickelt haben.
Teamwork braucht aber eine ehrliche Debatte. Das gilt für kleine Projektteams genauso wie für Regierungen. Internationale Kooperation sollte deswegen mehr sein als institutionelle Zusammenarbeit und das Händeschütteln bei Gipfelterminen. Vonnöten ist ein offener politischer Austausch, der nur gelingen kann, wenn Vertrauen herrscht und die G7 sich nicht als bloße Zweckgemeinschaft versteht. Elementare Grundlage dafür sind gemeinsame Werte wie Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, nicht zuletzt in einem Wirtschaftsbündnis.
Ein konkretes Instrument für den offenen politischen Austausch ist das für G7-Gipfel bereits geltende Konsensprinzip, das zwar Konflikte überdecken kann, jedoch auch zu intensiven kompromissbereiten Verhandlungen zwingt. Es sollte gepaart werden mit einem Terminkalender, der Raum für informelle Gespräche bietet, sodass eine Vertrauensbasis entstehen kann. Regelmäßige digitale Check-ins über das Jahr verteilt ohne große Vorbereitung dürften eine ähnliche Wirkung entfalten.
Vor 30 Jahren erwirtschafteten die G7-Staaten zusammengenommen noch etwa 70 Prozent des weltweiten Bruttoinlandsprodukts, 2020 waren es lediglich noch etwa 45 Prozent.
Die G7 wurde als eine Institution des Globalen Nordens gegründet – aber zugleich mit einem weltweiten Anspruch. Seit dem ersten Treffen der sechs „westlichen“ Staats- und Regierungschefs beim Weltwirtschaftsgipfel 1975 hat sich jedoch nicht nur die G7, sondern auch das globale Machtgefüge in vielerlei Hinsicht geändert. So nimmt die G7 heute eine fundamental andere Rolle in der Weltpolitik ein: Vor 30 Jahren erwirtschafteten die G7-Staaten zusammengenommen noch etwa 70 Prozent des weltweiten Bruttoinlandsprodukts, 2020 waren es lediglich noch etwa 45 Prozent. Außerdem stellen sie nur etwa 10 Prozent der Weltbevölkerung. Erschwerend hinzu kommen der Vertrauensverlust in politische Eliten und die Erosion der Demokratie in den USA und einigen EU-Mitgliedstaaten.
In der G7 treffen sich nicht länger die führenden sieben Wirtschaftsnationen. Die Gruppe der Sieben hat damit einen Großteil ihrer – von Anfang an kritisch zu betrachtenden – Legitimation verloren, zumal Gipfelentscheidungen häufig von innenpolitischen Abhängigkeiten und Rücksichtnahmen verwässert oder sogar blockiert werden. Zu Recht wird danach gefragt, mit welchem Anspruch die G7 eigentlich globale Politik macht. Dennoch bildet sie in Kooperation mit der Europäischen Union weiterhin einen einflussreichen Zusammenschluss für die Zukunft. Das gilt insbesondere mit Blick auf neue Technologien und die Setzung ihrer Standards.
Auch wenn sich die G7 als ein auf Ungleichheit basierender exklusiver Club der Reichsten und Mächtigsten verstehen lässt, haben sich in den vergangenen Jahrzehnten die Vorstellungen von Gerechtigkeit in den G7-Staaten gewandelt. Da damals wie heute ein funktionierendes multilaterales Forum fehlt, um die vielfachen globalen Herausforderungen kooperativ in einem größeren internationalen Rahmen anzugehen, braucht es weiterhin die G7. Durch den zunehmenden geopolitischen Wettbewerb sowie den Einfluss autoritärer Staaten taugen derzeit weder die UN noch die G20 als ein solches Gesprächs- und Verhandlungsforum.
Die internationale Zusammenarbeit wird in den nächsten Jahren voraussichtlich noch schwieriger werden. Wenn sich die G7 nun selbst verpflichtet, ihren Fokus auf globale Gerechtigkeit und Inklusion zu setzen, kann sie zu einem Anker für gleichgesinnte Demokratien werden. Die exklusive Einladung von weiteren Gastländern – wie etwa Indien oder Senegal – sowie das diesjährige Motto der deutschen G7-Präsidentschaft „Fortschritt für eine gerechte Welt“ können dabei nur ein Anfang sein.
In die richtige Richtung weist zudem das erfolgreiche Werben für eine Mindestbesteuerung für alle international tätigen Unternehmen mit einem Umsatz oberhalb eines Jahresgewinns von 750 Millionen Euro. Die Idee einer gerechteren globalen Zukunft ernst zu nehmen, heißt, inklusiv, sprich mit anderen Demokratien auch über die G7-Staaten hinaus, belastbare Ideen für eine zukunftsweisende internationale Politik zu entwickeln. Zentrale Elemente sind die soziale Abfederung ungleicher Ressourcenverteilungen und die Förderung gleichberechtigter Teilhabe im wirtschafts- und außenpolitischen Dialog. So könnte das G7-Bündnis zeitgemäß bleiben und sein wertebasiertes Potenzial voll ausschöpfen.