Auch wenn die EU-Kommission Atomstrom fortan als „nachhaltig“ bezeichnet: Er rechnet sich nicht. Amory Lovins, der Vordenker der Energiewende, hat die Argumente aktuell noch einmal zusammengetragen und das Ergebnis ist eindeutig: Atomstrom ist schlecht fürs Klima und fürs Portemonnaie. Die EU-Taxonomie soll ein Wegweiser für Investoren und Kreditgeber sein. Unternehmen und Projekte, die nicht den Nachhaltigkeitskriterien entsprechen, bergen gewisse Risiken. Die Taxonomie soll dabei helfen, Investitionen so zu lenken, dass sie ökologisch und sozial zukunftssicher sind und mit ihnen somit auf lange Sicht Gewinne erzielt werden können. Es ist offensichtlich, dass neue Investitionen in Atomstrom oder fossile Energien nicht nachhaltig sind – so offensichtlich, dass ihre Einstufung als „nachhaltig“ die Glaubwürdigkeit der gesamten EU-Taxonomie untergräbt und sie in ihrer Lenkungswirkung spürbar schwächt.
Die Feinabstimmung der EU-Taxonomie für nachhaltiges Finanzwesen wäre eigentlich eine Sache für Expertinnen und Experten gewesen – und ganz bestimmt nicht für die große Politik. Nicht politisches Verhandlungsgeschick, sondern Sachverstand und nachprüfbare Kriterien sollten entscheiden, welche wirtschaftlichen Aktivitäten, welche Branchen und Technologien nachhaltig sind. Frankreich und Deutschland schicken sich derweil an, das wichtige Instrument der Taxonomie als zukunftsweisendes und gestaltendes Politikprojekt der EU vorsätzlich und aus niederen Motiven vor die Wand zu fahren. Die Europäische Kommission kann im Grunde nicht anders als dabei aktiv zu helfen. Denn so wollen es die Europäischen Verträge.
Die Feinabstimmung der EU-Taxonomie für nachhaltiges Finanzwesen wäre eigentlich eine Sache für Expertinnen und Experten gewesen – und ganz bestimmt nicht für die große Politik.
Frankreichs bestehende Atomkraftwerke sind in wirtschaftlicher Not. Es braucht eine europäische Lösung und eine atomfreundliche Erzählung, um aus dem Schlamassel zu kommen. Wenigstens bis zur Präsidentschaftswahl im April 2022 muss Präsident Emanuel Macron als starker Mann in Europa und erfolgreicher Verfechter französischer Interessen dastehen.
Deutschland hat sich beim Einsatz von klimaschädlichem fossilen Methan-Gas verrannt und steht wegen der Russland-freundlichen Energiepolitik und Nord Stream 2 mit dem Rücken zur Wand. In der Ostsee und auf der Krim wird derzeit die unter Willy Brandt begonnene Ostpolitik nach dem Motto „Wandel durch Handel“ ad absurdum geführt. Die SPD kann wohl nicht anders. Frankreich und Deutschland unterstützen sich gegenseitig – zum Schaden Europas.
Beide Länder haben angestrebt, dass ihre falsche Politik in der EU-Taxonomie zumindest bis auf weiteres als „nachhaltig“ eingestuft wird. Das ist zunächst eine Prestigefrage. Aber es ist auch eine wirtschaftlich-finanzielle, denn es ist zu erwarten, dass die Finanzierungskosten für nicht nachhaltige Vorhaben und Unternehmen steigen werden. Auch mit negativen Auswirkungen auf die Verzinsung von Staatsanleihen ist zu rechnen, auch wenn dieser Effekt in der Eurozone relativ gering ausfallen dürfte.
In Frankreich wurden bisher keine ausreichenden Rückstellungen gebildet, um die alten und zunehmend maroden Atomkraftwerke stillzulegen, zurückzubauen und die Standorte sicher zu machen. Auch für die sichere Lagerung des dabei anfallenden zusätzlichen Atommülls für Hunderttausende von Jahren sind noch keine Vorkehrungen getroffen. Es fehlen dafür schätzungsweise 600 Milliarden Euro in den Bilanzen der Eigner und Betreiber der Atomkraftwerke, vielleicht auch deutlich mehr. Arnulf Grubler hat am Beispiel Frankreich eindrucksvoll gezeigt, wie die Kosten von Atomkraftwerken kontinuierlich gestiegen sind. Die Atomwirtschaft ist somit ein Sonderfall: Technologielernen und Erkenntnisgewinn führen hier zu immer höheren Anforderungen und steigenden Kosten. Der schon immer falsche Mythos vom billigen Atomstrom löst sich in roter Tinte auf.
Die Atomwirtschaft ist ein Sonderfall: Technologielernen und Erkenntnisgewinn führen hier zu immer höheren Anforderungen und steigenden Kosten.
Woher soll das Geld dafür in Frankreich kommen? Der Betreiber Electricité de France (EDF) hat es nicht, und der französische Staat kann es auch nicht einfach an EDF überweisen. Das wäre mit dem grenzüberschreitenden Wettbewerb auf dem europäischen Strommarkt schlicht nicht vereinbar. Die 600 Milliarden Euro, die es mindestens braucht, um bei Stilllegung von Atomanlagen die Kapitaldeckung des Rückbaus in der Bilanz des Eigners oder Betreibers nachzuweisen, können über entsprechende Atom–Anleihen von Unternehmen, privaten oder staatlichen Banken aufgenommen werden. Das wird für EDF und den Atomstaat Frankreich natürlich leichter, wenn diese Anleihen in der EU-Taxonomie als „nachhaltig“ eingestuft sind. Dann kann die Europäische Zentralbank sie ankaufen; vielleicht kann sie ihren Ankauf sogar noch nicht einmal ablehnen oder ausschließen. Angekauft würden sie wohl auch von Investmentfonds und Pensionskassen in der Eurozone, die es mit Nachhaltigkeit nicht so genau nehmen.
Eine Reihe von Mitgliedsstaaten haben sich zur Aufnahme der Atomenergie in der EU-Taxonomie klar positioniert. Sieben – Frankreich, Finnland und fünf Staaten in Mittel- und Osteuropa – haben sich dafür ausgesprochen; fünf Staaten, darunter Deutschland, dagegen. Die übrigen Staaten sind allerdings keineswegs neutral.
Frankreich und – außerhalb der EU – auch Großbritannien befinden sich in Europa auf der einen Seite des Spektrums: Sie beherrschen alle Technologien im atomaren Brennstoffkreislauf und haben eigene Atomwaffen. Beide unterstützen Atomkraft, denn sie verleiht ihren militärischen Atomprogrammen wirtschaftliche und technologische Breite und Tiefe. Beide sind darauf angewiesen immer neue Generationen von Atomphysikern und Ingenieuren zu rekrutieren und auszubilden. Dafür braucht es eine positive Erzählung über die Errungenschaften und Vorteile der Atomtechnologie. Politik und Rhetorik sind pro-Atom ausgerichtet – auch wenn Frankreich angekündigt hat, 24 der ältesten Atomkraftwerke bis 2025 abzuschalten und die Abhängigkeit vom Atomstrom von 75 auf 50 Prozent zu reduzieren. Als Präsident Macron am 19. Januar vor dem Europäischen Parlament die Ziele der französischen Ratspräsidentschaft vorstellte, kritisierten ihn grüne Abgeordnete als „Cheflobbyisten der Atomindustrie“.
Frankreich und Großbritannien unterstützen Atomkraft, denn sie verleiht ihren militärischen Atomprogrammen wirtschaftliche und technologische Breite und Tiefe.
Die britische Regierung muss inzwischen ausländische Unternehmen mit dem Bau neuer Atomkraftwerke beauftragen, weil die heimische Technologiebasis schon zu weit erodiert ist. Großbritannien hat in seiner eigenen Taxonomie für ein nachhaltiges Finanzwesen Atomkraft dennoch explizit ausgenommen. Atomkraft ist nach britischer Lesart zwar wichtig, ja sogar staatstragend, aber trotzdem nicht „nachhaltig“. So viel Ehrlichkeit stünde der EU-Kommission auch gut zu Gesicht. In der EU sind sonst nur Finnland, Ungarn und die Slowakei schon lange und beständig pro-Atom. Sie betreiben Atomkraftwerke, aber ihnen fehlt die militärische Dimension. Polen legt seit Jahren gelegentlich neue Planungen für den Bau von Atomkraftwerken vor, die bislang aber allesamt nicht umgesetzt wurden.
Am anderen Ende des Spektrums stehen Dänemark und Österreich, die schon seit Jahren gegen Atomkraft und für erneuerbare Energien eintreten. Österreich war das erste Land in der EU, das nach einem Referendum 1978 Atomkraftwerke auf seinem Staatsgebiet verboten hat. Die österreichische Regierung geht nun sogar so weit, den Vertrag zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft in Frage zu stellen und bereitet eine Nichtigkeitsklage gegen die Taxonomie vor. Der Euratom-Vertrag von 1957 verpflichtet die EU-Mitgliedsstaaten zur Förderung der „friedlichen“ und zivilen Nutzung der Atomtechnologie, vor allem zur Erzeugung von Atomstrom. Der Vertrag beruht auf längst nicht mehr haltbaren Annahmen, wurde auf Druck Frankreichs aber nie umfassend überarbeitet. Er steht außerhalb des rechtlichen Rahmens der EU, bindet aber dennoch die EU-Kommission und die Mitgliedsstaaten.
Zwischen diesen Extremen befinden sich EU-Mitgliedstaaten wie Griechenland, Irland, Lettland, Luxemburg, Malta, Portugal oder Zypern. Sie haben keine Atomkraftwerke und werden auch keine bauen, weil diese sich nicht für kleine oder dicht besiedelte Länder eignen. Zwei weitere Staaten setzen einen beschlossenen Atomausstieg mehr oder weniger stringent um: Belgien, dessen Abhängigkeit vom Atomstrom besonders hoch ist und dessen Atomkraftwerke altersbedingt zu den gefährlichsten in der EU zählen; und Italien, wo sich 2011 95 Prozent der Bevölkerung für den Atomausstieg aussprachen.
Der Euratom-Vertrag beruht auf längst nicht mehr haltbaren Annahmen, wurde auf Druck Frankreichs aber nie umfassend überarbeitet.
Andere EU-Mitgliedsstaaten wie die Niederlande, Kroatien oder Slowenien haben keine konkreten Pläne, ihre alten und zunehmend maroden Atomkraftwerke durch neue zu ersetzen. Wieder andere haben zwar Pläne, neue Atomkraftwerke zu bauen, revidieren diese aber. So hat die Tschechische Republik ihr ursprüngliches Vorhaben, zwölf Atomkraftwerke zu bauen, zusammengestrichen, und es ist unklar, wie die zwei verbliebenen finanziert werden sollen. Atomkraft rechnet sich nicht; sie kann ohne staatliche Subventionen und Haftungsfreistellungen im wirtschaftlichen Wettbewerb nicht bestehen. Darum hat auch Bulgarien seine Pläne zum Bau neuer Atomkraftwerke aufgegeben. Das könnte sich nun jedoch ändern, wenn die EU und ihre Banken mit Subventionen und Krediten winken, abgesichert durch die EU-Taxonomie.
Deutschland liegt hierbei politisch wie geographisch in der Mitte. Wir sind ein ausschließlich nicht-militärischer Anbieter aller wesentlichen Atomtechnologien. Ein Land, das seinen Ausstieg 1990 eingeleitet, 2000 und 2002 vereinbart, 2010 in Frage gestellt, und 2011 dann wohl endgültig gesetzlich verankert hat. Dennoch wird in Gronau weiterhin Uran angereichert und werden in Lingen atomare Brennelemente hergestellt. Deutschland kann in der EU als „Mehrheitsmacher“ oder Zünglein an der Waage die Abstimmung für Atom im EU-Ministerrat oder im Europäischen Parlament noch kippen und damit ein Zeichen für die Energiewende setzen. Dafür sind nun knapp vier Monate Zeit – die Entscheidung steht erst nach der französischen Präsidentschaftswahl an.