Das Interview führte Claudia Detsch.
Sie weisen seit Jahren auf das eher schwierige Verhältnis von Energie- und Geopolitik hin. Diese Appelle verhallten bisher weitestgehend ungehört – bis zum russischen Angriff auf die Ukraine. Waren wir zu blauäugig?
In Deutschland ist zum einen der Begriff „Geopolitik“ historisch sehr belastet. Zum anderen hat es an einer strategischen Ausrichtung der Energiepolitik gefehlt. Man verließ sich stattdessen auf die wechselseitigen Abhängigkeiten und hoffte, sie würden dramatischen Entwicklungen wie dem Angriff Russlands auf die Ukraine entgegenwirken.
Welche geopolitischen Auswirkungen erwarten Sie zukünftig, wenn im Rahmen der Energiewende mehr Länder auf Erneuerbare Energien umsteigen? Werden solche Gefahren dann gebannt?
Es wird regionaler, fragmentierter und heterogener. Da wir verstärkt auf Erneuerbare Energien und Elektrifizierung umsteigen, müssen wir die Stromnetze ausbauen, über die EU hinaus zusammen mit unseren Nachbarn. Im Vergleich zu den globalen Handelsströmen bei den Fossilen wird die Energiewelt also regionaler. Weltweit verfolgen die Staaten zudem unterschiedliche Transformationspfade und setzen auf teils konkurrierende Technologien. Sie haben unterschiedliche Ambitionen, auch was das zeitliche Erreichen der Klimaziele angeht. Die Heterogenität wird also zunehmen. Das birgt Gefahren. Bestehende geo-ökonomische Rivalitäten und geopolitische Bruchlinien in der Welt könnten sich verstärken. Das gilt übrigens auch für den Westen. Zwar erleben wir derzeit sicherheitspolitisch einen geeinten Westen. Allerdings ist er energiepolitisch gespalten, weil die USA in jeder Hinsicht reich an Energie sind, während Europa auch künftig auf Importe angewiesen sein wird, dann von erneuerbarem Strom und Wasserstoff.
Die Energiewende wird also nicht dazu führen, dass internationale Konflikte abnehmen?
Die Transformationsphase wird disruptiv und bedarf deswegen internationaler politischer Bearbeitung. Schon weil wir in Zusammenarbeit die Klimaziele schneller erreichen würden. Die Zeichen stehen aber auf Konkurrenz – um Wertschöpfung, um Rohstoffe und seltene Erden. In Zukunft werden wir mehr innerstaatliche Konflikte um die Nutzung von Wasser, Land und Energiestandorte sehen und dafür weniger internationale Konflikte.
Die Konflikte um knapper werdenden Raum werden also auch innerhalb Europas zunehmen?
Absolut, vor allem auf lokaler Ebene. Wo es früher um große Öl- und Gasvorkommen ging, da geht es in Zukunft um die Frage nach idealen Standorten für Erneuerbare. Für Europa wird es sehr wichtig, die Nachbarschaft mit einzubeziehen. Das wird aber nur möglich sein, wenn die Wertschöpfung sehr viel gerechter verteilt wird. Die Energietransformation lebt von der Anwendung neuer Technologien. Der Wert wird nicht mehr über die Ressource erzielt, sondern durch den Einsatz von Technologien. Insofern haben wir ganz andere Liefer- und Wertschöpfungsketten als noch bei den fossilen Energien. Die Wertschöpfung ist durch den Einsatz von Technologien jetzt sehr viel gleicher verteilt. Und sie fällt geringer aus. Das muss sich, salopp gesagt, erst einmal zurechtruckeln für alle Beteiligten.
Sie haben es angesprochen: Die USA sind in diesem neuen Kräftespiel sehr gut positioniert. Bei Europa kommt es dagegen auf die Ausgestaltung und die Beziehung zu den angrenzenden Regionen an. Wie sieht es mit China aus?
Aus meiner Sicht sind sowohl die USA als auch China absolut prädestiniert, zu den Gewinnern zu zählen. China schon allein durch den Reichtum an Metallen, den sogenannten seltenen Erden, und durch die Verarbeitungskapazitäten, die sie sich sehr weitsichtig gesichert haben. Wenn wir die Energiewende schnell und relativ kostengünstig umsetzen wollen, müssen wir uns mit China ins Benehmen setzen. Gleichzeitig haben wir aber das Spannungsverhältnis zwischen China und den USA. Europa ist hier in einer schwierigen Position, die sich zuletzt wegen des russischen Angriffskriegs nochmals dramatisch verschlechtert hat.
Russland hätte auch nach dem fossilen Zeitalter weiterhin eine Energiegroßmacht sein können. Bei den Erneuerbaren und beim Wasserstoff sind die Voraussetzungen theoretisch sehr gut. Dafür bräuchte es allerdings Technologietransfers aus dem Westen. Hat sich das Land durch den Angriff auf die Ukraine von dieser Möglichkeit auf lange Sicht verabschiedet?
Ich fürchte, das ist so. Die Frage ist sehr berechtigt, weil wir ein klimaneutrales Europa ohne Russland gar nicht darstellen können. Ein Teil Russlands liegt in Europa und dort gibt es zudem große Rohstoffvorkommen. Es gab durchaus Standortvorteile in Russland. Theoretisch muss man daran wieder anknüpfen, soweit es die geopolitische und sicherheitspolitische Situation erlaubt. Aber jetzt verbietet es sich angesichts des Kriegs erst einmal, das konkret zu planen.
Derzeit frohlocken viele andere Gas- und Öllieferanten, weil sie durch die Bemühungen einer Diversifizierung der europäischen Energieimporte einen ungeahnten Wiederaufstieg erleben. Das ist riskant für den Klimaschutz. Wie lassen sich also dennoch gemeinsame Ausstiegspfade festlegen?
Das ist genau der Punkt, die Gaslieferkette sollte gemeinsam dekarbonisiert werden. Zumindest sollte die LNG-Infrastruktur H2-ready sein. Im besten Fall aber lässt sich ein Übergang zu grünem oder blauem Wasserstoff verhandeln. Dann könnte man auch die Langfristperspektive bieten, auf die viele LNG-Lieferanten nun beharren. Ferner müsste man in Deutschland und in Europa Kapazitäten schaffen, um aus Erdgas Wasserstoff zu gewinnen. Das wäre schon aus Technologie- und Innovationsgründen wichtig. Bei uns wird das Thema Wasserstoff stark reduziert auf Fragen der Energietransformation. Dabei ist Wasserstoff zentral für die Industrierevolution und den Standort Europa. Und ich glaube auch, dass wir die Technologien für die Abscheidung und Nutzung von CO2 brauchen.
Sie haben vor der Gefahr gewarnt, uns unter dem Druck, die Gasimporte zu diversifizieren, wieder an die fossile Energie binden zu müssen. Daher fordern Sie, diese Infrastruktur wenigstens so auszulegen, dass sie später auch für grünen oder anderen Wasserstoff genutzt werden kann. Wenn Sie auf die jüngsten Abmachungen mit Gaslieferanten schauen – lässt sich die Infrastruktur für Wasserstoff nutzen oder zeichnet sich bereits ab, dass diese Investitionen verloren sind?
Wir sind in der Vergangenheit davon ausgegangen, dass Energiepolitik von einem strategischen Zieldreieck geleitet werden sollte: Versorgungssicherheit, Klimaschutz und Wettbewerbsfähigkeit. Allerdings waren in Deutschland die Märkte auf Wettbewerbsfähigkeit ausgerichtet und deswegen haben die Unternehmen auf günstiges russisches Pipeline-Gas gesetzt. Die Politik hat immer ambitioniertere Klimaziele gesetzt, verschärft nochmal durch den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts mit der Klimaneutralität bis 2045. Die politisch-normative Wirklichkeit war immer stärker abgekoppelt von der Umsetzung. Die Versorgungskrise holt uns nun auf den harten Boden der Realität zurück. Nun erleben wir, dass die vermeintlichen stranded assets, Vermögenswerte also, die dauerhaft von Wertverlusten bis hin zum Totalverlust gekennzeichnet sind, uns jetzt helfen – Kohlekraftwerke etwa.
Ich finde es sehr gefährlich, nur auf eine Lösung zu schauen. Man braucht Redundanzen im System. Selbst wenn wir jetzt ein stärker auf Effizienz und Elektrifizierung ausgerichtetes Energiesystem schaffen, werden wir uns gut überlegen müssen, dieses robust und resilient zu gestalten und die n-1-Regel mitzudenken. (Das n-1-Kriterium besagt, dass das Stromnetz jederzeit den Ausfall einer wichtigen Leitung oder anderer Komponenten verkraften können muss, ohne dass es zu großflächigen Stromausfällen kommt, d.Red.) Wir werden das Vorsorge-Prinzip gerade bei den Netzen und Speichern sehr strategisch umsetzen müssen. Das bedeutet etwa eine Stromleitung mehr und das bedeutet auch ein Back-up über Wasserstoff.
Sie haben gefragt, ob wir derzeit auf einem guten Weg sind. Wenn wir ganz ehrlich sind, kennen wir den Weg noch gar nicht. Wir haben modelliert, wie das Energiesystem 2045 aussehen sollte, wenn alles passt. Systemmodellierung ist wichtig, aber sie muss nun mit der harten Realität kontrastiert werden. Viel wird sich leider nicht so schnell umsetzen lassen, sowohl was die Geschwindigkeit betrifft – Stichwort Material- und Fachkräftemangel – als auch gesellschaftspolitisch. Die Steuerungsaufgabe für die Politik ist enorm. Kurzfristig muss man die geopolitischen Realitäten anerkennen und vermutlich auch auf Kohleverstromung setzen müssen. Wir haben derzeit nicht viele Alternativen, und wir wissen auch nicht, ob die Eskalationsspirale in einem Energiekrieg mit Russland noch weitergedreht wird.
In diesem Fall wird es stark auf die europäische Solidarität untereinander ankommen. Bestehen wir diesen Lackmustest, wenn es hart auf hart kommt?
Das wird sehr spannend. Gerade in Deutschland werden wir auf Solidarität angewiesen sein; Solidarität auch von Ländern, die uns früh davor gewarnt haben, uns in die Abhängigkeit von Russland zu begeben. Länder, die ihr Gas teurer bezahlt haben, weil sie sich nicht abhängig machen wollten. Wir stehen ohnehin vor einer enormen Herausforderung, was die Kohäsion Europas angeht – gerade mit Blick auf die unterschiedlichen Geschwindigkeiten beim Wasserstoffausbau. Das wird sich jetzt nochmal dramatisch verschärfen durch die Frage der Solidarität. Mitgliedstaaten in Europas Süden, die gelitten haben unter der Austeritätspolitik Deutschlands, können jetzt ihre Standortvorteile ausspielen. Italien und die iberische Halbinsel dürften regionale Energiehubs werden und damit eine zentrale Bedeutung für die europäische Energieinfrastruktur erlangen. Auch Griechenland sehe ich in einer wichtigen, auch geopolitischen Position, denn das östliche Mittelmeer wird wichtige Energiekorridore von Ägypten und den Golfstaaten nach Europa beherbergen. Dort sollten Energiekooperationen als Teil der Konfliktbearbeitung vorangetrieben werden. Insgesamt braucht es eine kluge, strategische und glaubhafte Energiediplomatie seitens der deutschen Regierung.
Wie steht es aber de facto um die Abstimmung auf europäischer Ebene, etwa beim Wasserstoff? Mir scheint, es wird weitestgehend auf nationaler Ebene geplant.
Ja und nein. Ich fürchte, dass wir den Vorteil, den wir in Europa noch in der Technologieführerschaft haben, sehr schnell verspielen, weil andere Weltregionen sehr viel pragmatischer Wertschöpfungsketten etablieren. Wir möchten ambitionierte Qualitätskriterien und Nachhaltigkeitsstandards setzen. Für Drittländer kann das aber auch eine Hürde darstellen. Wer kann zu solch strengen Kriterien liefern? Auch das ist ein Teil dessen, was ich mit Lern- und Suchräumen meine. Die müssen wir uns leisten. Es ist ja auch so, dass uns die Brücke wegbricht – der Übergangsenergieträger russisches Pipeline-Gas. Auch stehen hinter der Ukraine als Wasserstofflieferant große Fragezeichen. Damit wird es noch schwieriger, die Systemtransformation zu schaffen und das nicht nur im Energiesektor, sondern auch in den energieintensiven Industrien. Denn auch die Möglichkeit, blauen und türkisen Wasserstoff einzusetzen, ist schwieriger geworden.
Bisher sehen Sie uns aber noch nicht gut aufgestellt?
Wir haben politische Scheuklappen. Ich bin sicher, dass wir Technologien wie CCS, die Speicherung von Kohlendioxid im Untergrund, und CCUS, die Abscheidung, Nutzung und Speicherung von Kohlenstoff, brauchen, um in der Zukunft negative Emissionen darstellen zu können. Dieser Debatte müssen wir uns öffnen. Wir haben zudem in unseren Modellen noch gar nicht abgebildet, wie die Kreislaufwirtschaft aussehen wird, was das Recycling für den Energiebedarf, aber auch für die Wieder-Neuaufteilung der Wertschöpfungskette heißt. Wir müssen mitdenken, wie wir in dieser geopolitisch und geoökonomisch sehr viel unfreundlicheren Welt Versorgungssicherheit, Klimaschutz und Wettbewerbsfähigkeit austarieren und mit welchen Partnern wir zusammenarbeiten wollen. Was brauchen wir an Energiesouveränität, an Technologiesouveränität, um Europa fit für 2050 zu machen? Viele Antworten darauf liegen in Europa selbst. Eigentlich müsste man an einen Ausgangspunkt der europäischen Integration zurück wie die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl. Aber wir werden auch nachhaltige globalisierte Wirtschaftsbeziehungen brauchen. Das wird großer politischer Kunst bedürfen.
Sie sagten bereits, dass Europa weiterhin abhängig von Energieimporten sein wird. Welche Länder kommen aus ihrer Sicht als verlässliche Partner in Frage?
Wenn wir von reinem, klimaneutralem Wasserstoff sprechen, dann sind geografische Nähe und die Pipeline-Distanz bestimmend. Das ist auch der Raum, der uns politisch-regulatorisch nahe ist. Deswegen können wir den Ausbau des Stromnetzes und den Aufbau des Hydrogen Backbone in konzentrischen Kreisen denken. Die EU plus angrenzende Länder und Regionen: Großbritannien, Norwegen, der Ostseeraum, der Mittelmeerraum und natürlich auch die Ukraine nach dem Wiederaufbau. Geht es um Derivate und später auch verflüssigten, komprimierten Wasserstoff, die per Schiff transportiert werden, dann sind auch weiter entfernte Länder wie Chile, Australien und Südafrika, aber auch die Golfstaaten gut aufgestellt. Wir sollten insbesondere schauen, welche potentiellen Partner mit den gleichen Regeln spielen, und bevorzugt auf demokratische Rechtsstaaten setzen. In der Erneuerbare-Energie-Welt kann man anders als bei fossilen Energien solche Vorteile ausschöpfen.
Die internationale Ordnung ist in den letzten Jahren stark in Unordnung geraten. Die globalen Institutionen erweisen sich als wenig handlungsfähig. Sind wir für die neue, von Ihnen skizzierte Energiearchitektur gut aufgestellt?
Eigentlich bräuchte es neue Institutionen, aber die internationale Weltlage lässt mich da wenig optimistisch sein. In der EU und in Europa müssen wir die regionale Kooperation vorantreiben. Interkonnektivität mit der Nachbarschaft ist für mich das Stichwort. Das gilt nicht nur für Infrastrukturen, sondern auch für Institutionen und Regeln. Vielfach unterbelichtet ist der Bereich technischer Standards und Normen. Wenn wir es bei Strom und Wasserstoff nicht schaffen, gemeinsam mit den großen Märkten ein level playing field zu schaffen, dann wird es sehr schwierig für Europa. Deswegen ist es sehr wichtig, mit Gleichgesinnten bei der Gestaltung der globalen Märkte weiter voranzuschreiten. Das ist die politische Herausforderung: sich vorzubereiten auf eine Welt, die sehr viel protektionistischer und fragmentierter sein könnte, mit entsprechend negativen Auswirkungen auf Wertschöpfungs- und Lieferketten. Und das gleichzeitig nicht noch zu befördern, sondern kooperativ und offen zu bleiben – ein Agieren gegen den Trend also. Das ist jetzt die Aufgabe Europas.