Die britische Ölfirma Rockhopper verklagt derzeit Italien vor einem internationalen Schiedsgericht auf eine Entschädigung in Höhe von rund 225 Millionen Euro. Grund ist ein durch die italienische Regierung erlassenes Ölförderverbot. Der deutsche Energiekonzern RWE fordert von den Niederlanden 1,4 Milliarden Euro – der Staat verbietet ab 2030 die Kohleverbrennung, RWE muss dann ein Kohlekraftwerk stilllegen. Bisher sind es zwar nur wenige Konzerne, die wie Rockhopper und RWE gegen Klimamaßnahmen der EU-Staaten klagen. Doch dürfte dies der Beginn einer massiven Klagewelle sein. In der Folge könnten die EU und ihre Mitgliedsstaaten sogar Klimaziele weit verfehlen.
Möglich werden diese Klagen durch ein bisher kaum bekanntes Investitionsschutzabkommen, den Energiecharta-Vertrag. Unterschrieben haben diesen Vertrag Anfang der 1990er Jahre alle EU-Staaten, auch Deutschland. Nach Berechnungen von Investigate Europe schützt die Energiecharta fossile Infrastruktur in der EU, Großbritannien und der Schweiz im Wert von rund 350 Milliarden Euro. Aus Angst vor Energiecharta-Klagen verschieben und verwässern EU-Staaten bereits heute ihre Klimagesetze oder geben diese ganz auf.
Unmittelbar nach dem Ende der Sowjetunion wollten westliche Staaten Rechtssicherheit für Konzerne schaffen, die in den neuen Postsowjetländern investieren wollten. Da sie den Rechtssystemen vor Ort nicht trauten, übertrugen sie über Investitionsschutzverträge mögliche Streitschlichtungen an internationale Schiedsgerichte. Ein solcher Vertrag ist die Energiecharta. Sie sollte jene Unternehmen schützen, die im Energiesektor investierten. Den Vertrag unterzeichneten neben der EU viele Postsowjetstaaten wie Afghanistan, Aserbaidschan oder Kasachstan. Auch andere Industrienationen wie die Türkei und Japan schlossen sich an. Heute nutzen Energie-Unternehmen die Charta, um Staaten auf Milliarden-Entschädigung zu verklagen, wenn diese Gesetze beschließen, um aus Kohle, Öl oder Gas auszusteigen und so ihre Klimaziele zu erreichen.
Ein Vertragsbruch bietet keinen Ausweg aus dem Energiecharta-Vertrag. Welche Optionen bleiben also der EU und den Mitgliedsstaaten?
Verhandelt werden solche Klagen vor privaten Schiedsgerichten. Gegen dieses bislang bei Investitionsschutzabkommen übliche Vorgehen wurde in den letzten Jahren erhebliche Kritik laut, z.B. während der Verhandlungen zum Transatlantischen Handelsabkommen TTIP. Aktuelle Handelsabkommen wie TTIP sind zwar in einigen Details moderner formuliert als die Energiecharta, die als Investitionsschutzvertrag der ersten Stunde gilt, doch setzen sie auf das gleiche System privater Schiedsgerichte. Damit finden Verhandlungen weitgehend unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt, die Schiedssprüche können von Staaten kaum angefochten werden.
Viele der Energiecharta-Klagen, darunter auch jene von Rockhopper und RWE, werden vor dem Washingtoner ICSID-Schiedsgericht verhandelt. Wenn ein Staat sich weigert, einen Schiedsspruch zu akzeptieren und eine Entschädigung zu zahlen, sehen dessen Verfahrensregeln es vor, Eigentum des betreffenden Staates auch in anderen Staaten zu beschlagnahmen, welche die ICSID-Regeln akzeptieren. Im Klartext bedeutet dies: Investoren können vor Schiedsgerichten Staaten mithilfe der Energiecharta verklagen und Entschädigungsansprüche durchsetzen, selbst wenn der betreffende Staat die Charta nicht länger akzeptiert. Deshalb ist ein Vertragsbruch kein Ausweg aus dem Energiecharta-Vertrag. Welche Optionen bleiben also der EU und den Mitgliedsstaaten?
Seit Jahren versuchen die EU-Staaten, die Energiecharta zu reformieren. Im Jahr 2018 stimmten auch die übrigen der insgesamt 55 Vertragsparteien einem Modernisierungsprozess zu. Im Oktober 2020 präsentierte die Kommission den Mitgliedsstaaten eine EU-Verhandlungsposition. Vor wenigen Wochen legte die EU sich auf eine Verhandlungsposition fest. Doch die Einigung der EU-Staaten heißt noch lange nicht, dass der Vertrag reformiert werden kann. Alle Vertragsparteien der Charta müssten einer neuen Vertragsfassung zustimmen. Doch die japanische Regierung teilte bereits 2019 mit, sie sei der Auffassung, „dass es nicht notwendig ist, die derzeitigen Bestimmungen des ECT zu ändern“. Hätte aber die Energiecharta unreformiert Bestand, könnte dies das Erreichen der Ziele des europäischen Green New Deal verhindern.
Das Problem: Ein unmittelbarer Austritt ist unmöglich.
Entnervt von den zähen Verhandlungen griffen entsprechend zuletzt zwei EU-Staaten zu einem ungewöhnlichen Mittel: Die französische und die spanische Regierung schickten Briefe an die EU. In dem französischen Schreiben heißt es, die Modernisierung werde „wahrscheinlich erst in einigen Jahren“ abgeschlossen sein. Auch seien die Ziele der EU „weit davon entfernt“, erreicht zu werden. Deshalb müsse man einen „koordinierten Austritt“ aus der Energiecharta „öffentlich diskutieren“. Die spanische Regierung schreibt, dass ein Austritt die „einzige effektive langfristige Lösung” sei, sollte die Charta nicht mit den Klimazielen vereinbart werden können.
Längst hat die EU-Kommission eingesehen, dass die Reform scheitern könnte. Im vergangenen Dezember erklärte Handelskommissar Valdis Dombrovskis, dass die Kommission „andere Optionen vorschlagen könnte, einschließlich eines Austritts. Dies gelte für den Fall, dass es nicht gelingen sollte, die Charta „innerhalb eines angemessenen Zeitrahmens“ an die EU-Klimaziele anzupassen. Das Problem: Ein unmittelbarer Austritt ist unmöglich.
„Es wird für die EU-Staaten schwer, sofort den Energiecharta-Vertrag zu verlassen“, sagt der Rechtswissenschaftler Markus Krajewski, der seit vielen Jahren zum Investitionsschutz forscht. Denn die Konstrukteure der Energiecharta haben vorgesorgt. Artikel 47 des Vertrags sieht vor, dass ein Staat 20 weitere Jahre lang verklagt werden kann, nachdem er die Charta verlassen hat. Wissenschaftler sprechen vom Sonnenuntergangsartikel, Aktivistinnen von der Zombie-Klausel.
Der EU und den Mitgliedsstaaten bliebe eine letzte Möglichkeit, eine Energiecharta-Klagewelle abzuwenden. In den vergangenen Jahren waren es in zwei Drittel aller Charta-Verfahren Investoren aus der EU, die EU-Staaten verklagten, wie im Fall RWE gegen die Niederlande. Das internationale Vertragsrecht erlaubt es Vertragsparteien, Zusatzabkommen zu schließen, die nur sie betreffen. Darin könnten die Staaten vereinbaren, die Energiecharta nicht länger auf innereuropäische Fälle anzuwenden.
Die Energiecharta mit dem Schiedsgerichtsregime, das das Erreichen der Klimaziele bedroht, könnte also letztendlich zu Fall gebracht werden – von einem Gericht.
Doch in dieser Frage sind die EU-Staaten zerstritten. Vor wenigen Jahren entschied der Europäische Gerichtshof bereits, dass Investitionsschutzverträge zwischen EU-Staaten nicht mit EU-Recht vereinbar seien. Daraus folgerten zahlreiche Staaten, dass dies auch für den einzigen Investitionsschutzvertrag zwischen mehreren EU-Staaten gelten müsse: die Energiecharta. Doch einige Regierungen widersprachen vehement.
Doch selbst wenn die EU-Regierungen sich auf ein Zusatzabkommen einigen würden, könnten die Schiedsrichter dieses möglicherweise nicht anerkennen. Investitionsschutzexperte Markus Krajewski sagt dazu: „Es gibt durchaus die Auffassung, dass ein solches inter-se-Abkommen der Vertragsparteien die Rechte der Investoren beschneidet, die sie durch die Energiecharta haben.“ Inter-Se-Abkommen sind Abkommen, mit denen die Parteien von einem bestehenden Vertrag abweichen, in dem sie eine natürliche Vertragspartei sind.
Im vergangenen Dezember bat die belgische Regierung nun den Europäischen Gerichtshof klarzustellen, ob die Energiecharta mit EU-Recht vereinbar sei. Das Urteil könnte Klarheit darüber bringen, ob innereuropäische Charta-Klagen künftig möglich sind. Die Energiecharta mit dem Schiedsgerichtsregime, das das Erreichen der Klimaziele bedroht, könnte also letztendlich zu Fall gebracht werden – von einem Gericht.
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