Im 18. Jahrhundert leitete Europa den revolutionären Siegeszug der fossilen Brennstoffe ein. Nun ist es an der Zeit, sich von den Energieträgern zu verabschieden, die die neuere Geschichte bislang geprägt haben. Wenn wir es schaffen, die CO2-Emissionen bis 2050 auf netto null zu bringen, wäre das eine beachtliche Leistung. Wenn nicht, dürften die Grundvoraussetzungen für unsere Existenz gefährdet sein.

Es steht enorm viel auf dem Spiel. Die Worst-Case-Szenarien lösen bei sachlicher Bewertung düstere Katastrophenphantasien aus. Immerhin schicken wir uns an, den Gesetzen der Thermodynamik zu trotzen und unsere Zivilisation, die sich auf konzentrierte Energieträger stützt, auf die Kraft von Wind und Sonne umzustellen.

Wie können wir inmitten einer solchen Umwälzung entscheiden, was realistisch ist und was nicht? Wie viel wird die Energiewende uns kosten? Wie stark werden Europäerinnen und Europäer ihren Lebensstil und ihr Arbeitsleben umstellen müssen? Wie lässt der Umstieg sich gerecht gestalten?

Im November 2018 veröffentlichte die Europäische Kommission eine Untersuchung darüber, wie die Emissionen bis 2030 um 40 Prozent und bis 2050 um 80 Prozent zu senken wären. Auch Szenarien für das Erreichen des Netto-Null-Ziels bis 2050 werden geliefert. Im Dezember 2020 hat die weltweit führende Unternehmensberatung McKinsey ein noch aktuelleres Gutachten über Europas Weg zum Netto-Null-Ziel veröffentlicht. Die Modelle unterscheiden sich im Detail, kommen aber zu grundsätzlich ähnlichen Ergebnissen.

Nur fünf Prozent der erforderlichen Emissionssenkungen setzen Technologien voraus, die sich noch in der Entwicklung befinden.

Die Dekarbonisierung bis 2050 ist ein hochgestecktes, aber erreichbares Ziel. Laut McKinsey können fast drei Viertel der Emissionssenkungen, die wir bis 2030 erreichen müssen, mit Technologien umgesetzt werden, die entweder schon ausgereift sind oder in Ansätzen schon angewendet werden wie zum Beispiel die Elektroauto-Technologie.

Nur fünf Prozent der erforderlichen Emissionssenkungen setzen Technologien voraus, die sich noch in der Entwicklung befinden. Selbst bei einer langfristigen Betrachtung, die den Zeitraum bis 2050 in den Blick nimmt, lassen sich 87 Prozent der notwendigen Reduktionen mit Technologien realisieren, die bereits im Einsatz sind oder zumindest im begrenzten Umfang getestet wurden. Für die verbleibenden 13 Prozent werden also Innovationen benötigt, die noch in der Grundlagenforschung stecken.

Die Kosten für die Bereitstellung all dieser Technologien sind gigantisch. McKinsey geht für den Zeitraum von 2020 bis 2050 von Ausgaben in Höhe von 28 Billionen Euro aus. Die Kommission rechnet in ihrem ambitioniertesten Szenario mit einem Kostenaufwand von 28,4 Billionen Euro zwischen 2031 und 2050. Billionen müssen in das Energiesystem gepumpt werden – für Solarpanels, Windparks, Akkus und das Stromnetz. Aber auch in die Modernisierung von Gebäuden, in Industrie und Landwirtschaft, und vor allem in den Verkehr müssen riesige Summen fließen.

Zahlen im zweistelligen Billionenbereich lösen Beklemmung aus. Das relativiert sich, sobald sie zum Bruttoinlandsprodukt ins Verhältnis gesetzt werden. Das Gesamt-BIP der EU27 lag 2019 bei knapp 14 Billionen Euro. Das Investitionsvolumen macht in der Summe rund 22 Prozent des BIP aus. McKinsey geht davon aus, dass die EU jedes Jahr etwa 5,8 Prozent des BIP in die Energiewende stecken muss, wenn sie bis 2050 das Netto-Null-Ziel erreichen will. Das ist zwar eine erhebliche Summe, die aber zum größten Teil keine Neuausgaben beinhaltet: Unsere Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen lässt sich nur überwinden, wenn wir bremsen und gleichzeitig Gas geben.

In den Wirtschaftszweigen, in denen die Emissionen sich nur schwer senken lassen, würde an Direktinterventionen auch weiterhin kein Weg vorbeiführen.

Vier Fünftel der Investitionen, die wir in eine umweltfreundliche Zukunft stecken müssen, werden durch die Umverteilung der Billionensummen abgedeckt, die bislang in die fossilintensiven Wirtschaftszweige fließen. Die nötigen Mehrausgaben belaufen sich auf etwa 5,4 Billionen Euro über einen Zeitraum von 30 Jahren – das sind zwischen 1 und 1,5 Prozent des BIP. Die Kommission kommt zu einer sehr ähnlichen Einschätzung. Übrigens entsprechen 1,2 Prozent des BIP genau dem, was die EU27 im Jahr 2019 für ihre Streitkräfte ausgaben. Das ist eine Menge Geld, aber beileibe nicht jenseits des Realisierbaren.

Die große Frage ist also nicht, wie sich die zusätzlich benötigten Gelder auftreiben lassen, sondern wie sichergestellt werden kann, dass die ohnehin anfallenden Investitionsausgaben in die richtige Richtung fließen. Weniger als 40 Prozent der hohen Kosten, die erneuerbare Technologien in der Anfangsphase verursachen, werden sich bis 2030 wirtschaftlich rechnen. In der Industrie und im Bausektor, wo Emissionen sich nur schwer senken lassen, wird sich nur aus einem winzigen Bruchteil der notwendigen Investitionen ein angemessener Gewinn erwirtschaften lassen.

An diesem Punkt kommt die Politik ins Spiel. Wenn die Finanzierungslücke mit öffentlichen Geldern geschlossen werden soll, müssten Europas Regierungen laut McKinsey 30 Jahre lang 4,9 Billionen Euro an Subventionen aufbringen. Diese Summe müssten die Steuerzahler den Investoren anbieten, um sie für die Energiewende zu gewinnen – 365 Euro für jeden Mann, jede Frau und jedes Kind in der EU27, und das jedes Jahr über einen Zeitraum von 30 Jahren. Das ist zweifellos schmerzhaft und ungerecht, aber keineswegs unvorstellbar.

In jedem Fall sind staatliche Gelder nur eine von mehreren Möglichkeiten, wie Unternehmen sich zum Investieren bewegen lassen. Eine Alternative wäre die Kohlenstoffbepreisung. McKinsey geht davon aus, dass 80 Prozent der benötigten Investitionen sich wirtschaftlich rechnen würden, wenn eine Tonne CO2-Emissionen 100 Euro kostet. Die Erlöse aus dem Emissionshandel könnten anschließend als Subventionen oder anderweitige Fördermittel reinvestiert werden. In den Wirtschaftszweigen, in denen die Emissionen sich nur schwer senken lassen, würde an Direktinterventionen auch weiterhin kein Weg vorbeiführen.

Aus leidvoller Erfahrung wissen wir, dass auch winzige Interessengruppen die EU-Politik überproportional stark beeinflussen können.


Dies ist ein Teil der Herausforderungen, vor denen die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten stehen. Derzeit ist das laufende EU-Budget auf ein Prozent des BIP gedeckelt. Das zusätzlich aufgelegte Programm „Next Generation EU“ ist ein Schritt in die richtige Richtung, aber die 32 Milliarden Euro pro Jahr, die es für Klimaausgaben in den nächsten sieben Jahren vorsieht, sind viel zu wenig. Eine Aufstockung wäre zwar ein Kraftakt, aber durchaus vorstellbar, zumal wenn die Ausgaben aus Brüssel durch nationale Mittel und die Kreditvergabe durch politisch ausgerichtete Banken wie die Europäische Investitionsbank ergänzt werden.

Natürlich sollte man die Dimension einer solchen Herausforderung nicht unterschätzen. Aus leidvoller Erfahrung wissen wir, dass auch winzige Interessengruppen die EU-Politik überproportional stark beeinflussen können – die Einflussnahme der französischen Agrarlobby ist legendär. Unsere Lebensweise ist mit den fossilen Brennstoffen aufs Engste verbunden, und genau dies wird ja auch häufig als Grund genannt, warum die Energiewende so schwer umzusetzen ist: Sie betrifft alle.

Umso bemerkenswerter ist, dass weder die EU-Kommission noch McKinsey in ihren Berechnungen zum Netto-Null-Ziel radikale Veränderungen im Lebensstil der europäischen Bevölkerung unterstellen. Weniger Reisen und ein bewussterer Umgang mit dem häuslichen Energieverbrauch wären schon eine Hilfe, ebenso die Abkehr vom Fleischkonsum. Nach dem Modell von McKinsey könnte eine Reihe von Verhaltensänderungen die Emissionen in der EU um 15 Prozent senken und damit die Lücke schließen helfen, die die Wirtschaftszweige reißen, in denen sich die Emissionssenkung am schwierigsten gestaltet.

Die Energiewende wird das Erscheinungsbild Europas ebenso verändern wie einst die fossile Revolution.

Die grundlegende Energiewende wird das Erscheinungsbild Europas ebenso verändern wie einst die fossile Revolution. Windparks, Solaranlagen und Stromleitungen werden die Landschaft prägen. Auf dem Weg zum Netto-Null-Ziel ist die Landumnutzung ein Schlüsselfaktor.

Doch auch in diesem Punkt wird gern übertrieben. Die gesamte benötigte Fläche für Solar- und Windparks – zwischen 1,5 und drei Prozent der Gesamtfläche der EU – kann durch die Nutzung von brachliegenden oder ungenutzten Flächen gewonnen werden. Dafür brauchen weder Naturschutzgebiete noch Wälder zerstört zu werden. Der landwirtschaftliche Flächenbedarf wird durch eine effizientere Nahrungsmittelnutzung wahrscheinlich zurückgehen.

Dies sind natürlich Pauschalaussagen. Wie die Erfahrungen der letzten Jahrzehnte überdeutlich gezeigt haben, muss die Energiewende in ganz Europa Kommune für Kommune erkämpft werden. Um die Zielkonflikte zu entschärfen, könnte Europa umweltfreundliche Energie aus dem Ausland importieren. Eines der Aha-Erlebnisse der Energiewende wird sein, dass Europa zum ersten Mal seit Anbruch des Kohlenwasserstoff-Zeitalters weitgehend energieautark sein wird. Europas Nachbarn in Nordafrika sind naheliegende Partner für saubere Energie. Allein aus geopolitischen Gründen wird nach Alternativen zu den Öl- und Gasimporten gesucht werden müssen.

In Anbetracht der bisherigen Finanzierungsmodelle für saubere Energie ist das Thema Energiewende oft mit der Angst vor hohen Stromrechnungen für Privathaushalte verbunden. In diesem Punkt sind die Modellrechnungen jedoch sehr beruhigend. Sowohl die EU-Kommission als auch McKinsey rechnen damit, dass die Energiekosten bis 2030 leicht ansteigen werden, aber weit weniger massiv als seit 2000.

Alle Szenarien deuten darauf hin, dass die Energiekosten nach 2030 sinken, weil die Haushalte effizienter mit Energie umgehen werden.

Alle Modellierungsszenarien deuten darauf hin, dass die Energiekosten nach 2030 sinken, weil die Haushalte effizienter mit Energie umgehen werden. 2050 dürften die Familien in Europa deutlich weniger für Strom ausgeben. Am meisten profitieren würden Haushalte mit niedrigem Einkommen, die derzeit unverhältnismäßig hohe Stromrechnungen zahlen.

Ein weiteres zentrales Thema bei der gerechten Gestaltung der Energiewende sind die Arbeitsplätze. Beide Modellrechnungen sagen voraus, dass eine CO2-neutrale Wirtschaft 2050 mehr Jobs bieten wird als die heutige, von fossilen Brennstoffen abhängige Wirtschaft. Demnach werden die Arbeitsplatzverluste in der Industrie und im Bereich der fossilen Energieträger durch die Zugewinne an Energieeffizienz, die Modernisierung des Gebäudebestandes, die erneuerbaren Energien und die Energieübertragung mehr als wettgemacht.

Das Problem sind die regionalen Unterschiede. Der schwierigste Fall dürfte das stark kohleabhängige Polen sein. Doch selbst dort, so schätzt McKinsey, werden sich unter dem Strich positive Effekte ergeben und Hunderttausende neue Arbeitsplätze entstehen.

Natürlich kann es sein, dass diese Prognosen sich als unrealistisch erweisen. Es wäre nicht das erste Mal in der Geschichte, dass Fachleute eine gigantische Herausforderung unterschätzen – es genügt der Hinweis auf die utopischen Erwartungen an die Atomkraft oder auf die zahllosen Programme, die in aller Welt zur Optimierung der Landwirtschaft aufgelegt wurden. Es kann sein, dass der Umstieg sich wesentlich heftiger gestaltet.

Die kollektive Mobilisierung der Dekarbonisierung hat nicht im Entferntesten die Größenordnung der kriegsbedingten Notlagen oder sozialen Revolutionen.

Doch selbst wenn die Szenarien nur zur Hälfte zutreffen, ist die Botschaft eindeutig. Technisch mag die Dekarbonisierung ein schwindelerregendes Unterfangen sein, aber die kollektive Mobilisierung, die sie erfordert, hat nicht im Entferntesten die Größenordnung der kriegsbedingten Notlagen oder sozialen Revolutionen, mit denen sie manchmal verglichen wird. Auch wird sie das Alltagsleben in Europa nicht annähernd so stark verändern wie die Verlagerung weg von der Landwirtschaft nach 1945.

Auf die Beschäftigungsentwicklung dürfte die Energiewende sich weit weniger stark auswirken als die Deindustrialisierung der 1970er und 1980er Jahre oder gar der existenzielle Schock, den die osteuropäischen EU-Mitglieder in den 1990er Jahren zu verkraften hatten.

Wenn man den europäischen Arbeitsmarkt für das Jahr 2050 vorausberechnet, verblassen die durch die Klimakrise notwendig gewordenen Veränderungen in der Arbeitswelt und in den Qualifikationsanforderungen im Vergleich zu den tiefgreifenden Transformationen, die das „Basisszenario“ des globalen Kapitalismus erzwingt. Wie McKinsey ganz nebenbei anmerkt, könnte das Erreichen des Netto-Null-Ziels bis 2050 bedeuten, dass 18 Millionen Arbeitskräfte umgeschult werden müssen. Selbst das ist allerdings noch eine Kleinigkeit im Vergleich zu den 100 Millionen, die laut McKinsey bereits bis 2030 umgeschult werden müssen – nämlich in Folge dessen, was die Unternehmensberatung euphemistisch als „Automatisierung“ bezeichnet.

Die vor uns liegenden politischen und wirtschaftlichen Herausforderungen sind zweifellos gigantisch – und im globalen Maßstab sind sie es erst recht. Doch Investitionen in die Energiewende und die ökologische Modernisierung könnten sich als das Aktionsfeld erweisen, auf dem Europa seinen Bürgerinnen und Bürgern tatsächlich eine dynamische und vielversprechende Zukunft bieten kann.

Dieser Artikel ist eine gemeinsame Veröffentlichung von Social Europe und dem IPG-Journal.

Aus dem Englischen von Christine Hardung