Im Zentrum aktueller Bestrebungen, die technologische Wettbewerbsfähigkeit und Versorgungssicherheit im Bereich Halbleiter zu stärken, stehen häufig modernste Chips, auch „Cutting-Edge“ genannt. Was dabei aktuelle Gesetzesvorhaben wie der europäische Act-Entwurf vernachlässigen, ist die Relevanz älterer Halbleiterfabriken. Auf diesem Gebiet ist China hingegen besser aufgestellt.
Herzstück des modernen und digitalen Lebens, vom Auto, Laptop und Server bis hin zum Medizingerät, sind die unterschiedlichen Chips, die darin verbaut sind. Einige dieser Halbleiter unterliegen wegen des stetigen technologischen Fortschritts einem enormen Innovationsdruck, der dem sogenannten Moore’schen Gesetz folgt: Demnach versuchen Chip-Hersteller alle zwei Jahre die Schaltkreisdichte und damit die Rechenleistung zu verdoppeln, um weiter „Cutting-Edge-Chips“ – also modernste Chips – zu fertigen. Besonders Prozessoren, die zum Beispiel neue Smartphone- oder Server-Generationen leistungsfähiger machen, unterliegen dieser Logik. Die Strukturbreite der Transistoren gibt Auskunft über die Rechenleistung des Prozessors, gemessen in „Nanometern“ – einem Millionstel Millimeter entsprechend. Es gilt die Faustregel: Je kleiner diese Größe, desto moderner der Fertigungsprozess und desto höher die Performanz. Doch hierbei handelt es sich nur um eine Kategorie von Halbleitern. Es gibt zahlreiche weitere Chips mit anderen Funktionen, die für unsere moderne Gesellschaft unersetzlich sind: Chips zum Laden der Smartphone-Batterie, zur Steuerung der Bremsanlage, zum Schalten des Airbags, zum Lesen des Fingerabdrucks oder zur Stromversorgung des Servers – bei denen es nicht um Rechenleistung, sondern um unterschiedlichste physikalische Eigenschaften geht.
Diese Chips werden, im Gegensatz zu den oben genannten reinen Rechenprozessoren, nicht in den modernsten Halbleiterfabriken hergestellt. Ihre Produktion verteilt sich vielmehr auf unzählige kleinere, oft ältere Halbleiterfabriken. Und eine besonders große Zahl dieser Fabriken steht in China. Wenn es um Chinas Wettbewerbsfähigkeit in der Halbleiterindustrie geht, wird aktuell viel über die eingangs erwähnten Cutting-Edge-Chips gesprochen. Dabei wird allzu leicht übersehen, dass das Land bei der Fertigung zahlreicher Halbleiter in älteren Fabriken neben Taiwan weltweit führend ist. Dies zeigt, dass die Bewertung der technologischen Wettbewerbsfähigkeit Chinas allein anhand von Cutting-Edge-Chips zu kurz greift. Wie wichtig die Rolle eines bestimmten Landes in Halbleiter-Wertschöpfungsketten ist, lässt sich nur mit Blick auf spezifische Halbleiter, ihre Funktionen und die Endanwender-Industrien beurteilen.
Für Europas Abnehmer-Industrien in den Bereichen Automobil, Medizingeräte und Industrie 4.0 spielen Chips mit größerer Strukturbreite eine zentrale Rolle. Sie sind sogar wichtiger als die zuvor genannten Cutting-Edge-Chips. Wenn es also darum geht, Europas Resilienz zu erhöhen und die Versorgung mit strategisch wichtigen Halbleitern zu sichern, ist es wichtig zu erkennen, wie aktuelle Produktionskapazitäten verteilt sind, um Abhängigkeiten entsprechend zu bewerten und zu verringern. Diese Erkenntnis spiegeln aktuelle industriepolitische Gesetzesvorhaben, wie zum Beispiel der EU Chips Act, aktuell noch nicht wider. Ein konkreter Fall ist die Abhängigkeit Europas von älteren Fabriken in China und Taiwan.
Um besser zu verstehen, wie sich die Fertigung von Chips mit größeren Strukturbreiten in das Gesamtbild der Halbleiterfertigung einordnet, hilft es, ein Stück rauszuzoomen. So offenbart sich ein hochkomplexer und spezialisierter Aufbau, mit vielen eng ineinandergreifenden Zahnrädern. Mehr als 1000 Prozessschritte, 80 verschiedene Arten von Fertigungsequipment und bis zu 400 unterschiedliche Chemikalien braucht es, um einen modernen Halbleiter herzustellen. An diesem komplexen Prozess sind insbesondere die USA, Taiwan, Südkorea, Japan, China und Europa beteiligt, die alle an verschiedenen Stellen der Wertschöpfungskette eine wichtige, oft sogar unersetzliche Position einnehmen. Hinzu kommt, dass Chips in ihrer Funktion im jeweiligen Endprodukt stark variieren – ein moderner Prozessor im Smartphone hat wenig mit dem Leistungshalbleiter zum Laden eines E-Autos gemeinsam. Es handelt sich also eigentlich um ein ganzes Netzwerk von Wertschöpfungsketten, die je nach Funktion und Technologie des Chips auf eng abgestimmten Fertigungsprozessen fußen, von den Materialien bis zu den Maschinen.
Ein modernes Auto enthält ungefähr 1000 Halbleiter, wie zum Beispiel Mikrocontroller, Leistungshalbleiter, Sensoren oder Chips zur Funkübertragung. Sie kontrollieren den Motor, die Bremsen und den Airbag, helfen beim Einparken und Navigieren, empfangen Internet, regeln Scheibenwischer. Zunehmend braucht es für Weiterentwicklungen wie autonomes Fahren auch modernste Prozessoren und KI-Chips. Diese erweitern den Bedarf an Chips im modernen Auto, ersetzen jedoch nicht die zuvor genannten. Grundsätzlich gilt bei vielen dieser Automobil-Halbleiter nicht das Prinzip, dass die älteren Technologien mit der Zeit durch moderne Chips mit kleineren Strukturbreiten ersetzt werden. Dies ist aufgrund ihrer technischen Funktion schlichtweg nicht immer möglich. Marktanalysten gehen davon aus, dass auch im Jahr 2030 jeder zweite im Auto verbaute Halbleiter auf sogenannten Mature Nodes – also auf Chips mit größeren Strukturbreiten von mindestens 28 Nanometern – basieren wird. Ähnlich sieht es für den Gesundheits-, den Maschinenbau- und den Verteidigungssektor aus. Besonders noch ältere Fertigungsprozesse für 40- bis 180-Nanometer-Chips waren während der Engpässe im Jahr 2020 rar. Ganze Produktionslinien für Autos, Medizingeräte oder Industriemaschinen standen zeitweise still.
China verfolgt seit mehr als einem Jahrzehnt das Ziel, ein eigenes, lokales und wettbewerbsfähiges Halbleiter-Ökosystem aufzubauen und sich international unabhängig zu machen – mit Blick auf moderne Fertigungstechniken bisher ohne Erfolg. Das liegt vor allem am hohen Spezialisierungsgrad in der transnationalen Wertschöpfungskette, der den Aufbau von Prozesswissen und hohe Investitionen in einen spezifischen Produktions- oder Prozessschritt über Jahrzehnte voraussetzt. Die viel diskutierte EUV-Belichtungsmaschine, unersetzlich für modernste Chip-Fertigung, des niederländischen Unternehmens ASML, basiert zum Beispiel auf Forschung und Entwicklung von mehr als zwei Jahrzehnten und einem Netzwerk aus gut 5000 Zulieferern. Dieser Rückstand lässt sich nicht allein mit hohen Subventionen aufholen. Hinzu kommen die Exportrestriktionen, die die USA im Oktober 2022 gegen China verhängt haben, um das Land bei der Fertigung modernster Halbleiter auszubremsen, beziehungsweise ihre Fähigkeiten in diesem Bereich einzufrieren.
Bei den Cutting-Edge-Halbleitern liegt China also noch viele Jahre im Rückstand. Der technische Fortschritt des Landes im Bereich der Mature Nodes ist mit Blick auf die Fertigungskapazität dagegen beachtlich. Die Markteintrittsbarrieren sind niedriger als im Cutting-Edge-Bereich. Denn hier greifen weder die US-amerikanischen Exportkontrollen, noch braucht es ein vergleichbar hohes Level an Innovation, Kapital und Prozesswissen. China hat freien Zugang zu notwendigen Maschinen, Entwicklungssoftware und Auftragsfertigern. Im Bereich 20 bis 45 Nanometer ist Taiwan in puncto Fertigungskapazität führend, gefolgt von China mit mehr als dreimal so viel Fertigungskapazität wie Europa. Bei noch älteren Technologien zwischen 50 und 180 Nanometern ist der Unterschied noch deutlicher. Hier ist die Fertigungskapazität Chinas mehr als doppelt so hoch wie die Taiwans. In beiden Bereichen könnten aktuell weder Japan, Europa noch die USA ohne Fertigungskapazitäten in China und Taiwan auskommen, auch wenn alle drei Länder selbst einige dieser älteren Fabriken lokal betreiben.
Die globale Verteilung der Fertigungskapazität für Mature Nodes zeigt, dass Europas Stärke in diesem Bereich schon lange von chinesischen und taiwanesischen Unternehmen herausgefordert wird oder sich europäische Halbleiter-Unternehmen in der Vergangenheit dazu entschieden haben, ihre Produktion, zum Beispiel aufgrund niedriger Lohn- und Energiekosten, in den asiatischen Raum zu verlagern. Und besonders China ist aktuell dabei, diesen Fertigungszweig weiter auszubauen. Allein SMIC, der führende chinesische Auftragsfertiger, hat drei neue Mature Node-Fabriken angekündigt – in Tianjin, Schanghai und Peking. Auch die neuesten US-Exportkontrollen tragen dazu bei, dass ältere Fertigung für China ein attraktiver Bereich ist, in dem es seine ohnehin starke Rolle ungehindert ausbauen kann: Für die Zukunft ist daher absehbar, dass Europa potenziell mehr von Mature Nodes aus China abhängig sein wird als heute.
Dieser Aspekt wird jedoch im europäischen Chips Act-Entwurf derzeit nicht berücksichtigt, weil diese älteren Fertigungsprozesse nicht unter Subventionen für sogenannte neuartige Halbleiterfertigung fallen. Mit Blick auf die strategische Relevanz dieser Chips für Automobil-, Maschinenbau- und Gesundheitsindustrie ist dieser blinde Fleck im EU-Chipgesetz nicht nachvollziehbar. Es würde sich lohnen, hier nachzubessern: Ernst gemeinte Debatten um die Versorgungssicherheit von Endanwender-Industrien müssen auch die große Relevanz der Mature Node-Fertigung adressieren und Rückschlüsse aus Abhängigkeiten in diesem Bereich ziehen. Europa muss die ganze Vielfalt der Chipfertigung in den Blick nehmen, um sich strategisch gut aufzustellen.