In Berlin finden wir derzeit eine paradoxe Situation vor: Im Stadtteil Steglitz sollen, so hat es der Berliner Senat im Dezember 2021 beschlossen, zwei Autobahnabschnitte, die A 103 und die A 104, rückgebaut werden. Dafür entsteht an anderer Stelle ein neues Teilstück des Berliner Rings. Der 3,2 Kilometer lange 16. Bauabschnitt der Autobahn A 100 führt mitten durch den dicht besiedelten Bezirk Neukölln. Hier leben 327 073 Menschen, darunter viele Migranten und arme Leute, auch die Wohnungsnot ist hier besonders drückend.
Doch damit nicht genug: Das Verkehrsministerium hat kürzlich die Planung für den 17. Bauabschnitt ausgeschrieben. Seine Realisierung würden den bestehenden 77 Kilometern Autobahn in Berlin nochmals 4 weitere Kilometer hinzufügen. Das ist selbst der dem Auto zugeneigten Berliner SPD zu viel. Auf ihrem Landesparteitag im Juni 2022 sprachen sich die Delegierten mehrheitlich gegen den Weiterbau aus. Auch im Koalitionsvertrag der Berliner Senatskoalition aus SPD, Grünen und Linkspartei ist der 17. Bauabschnitt ausdrücklich unerwünscht. Und doch wird täglich an einer Autobahn weitergebaut, deren Planung auf die 1950er Jahre zurückgeht. Die gesellschaftliche Auseinandersetzung dürfte in den nächsten Jahren die Berliner Stadtpolitik prägen.
Wieso gibt es überhaupt Autobahnen, die mitten durch dichtbesiedelte Gebiete führen?
Wieso gibt es überhaupt Autobahnen, die mitten durch dichtbesiedelte Gebiete führen – angesichts des Flächenverbrauchs und der Gesundheitsfolgen durch Lärm und Abgase ein offensichtlich problematisches Konzept?
Die Antwort auf diese Frage findet sich den 1930er Jahren: Le Corbusier und andere Architekten und Stadtplaner hatten sich die saubere, funktional getrennte Stadt ausgedacht. Das Modell sah drei zentrale Maßnahmen vor: Entflechtung der Städte, sprich die räumliche Trennung von Wohnen und Arbeiten; Entlastung der Städte, sprich die Verlagerung ins Umland; autogerechte Planung der Städte, sprich die Umgestaltung der Stadt für einen reibungslosen Autoverkehr. Die Folge war eine explosionsartige Vermehrung von Verkehrsflächen für das Auto, die Besiedelung der Vorstädte und infolgedessen immer mehr Autoverkehr.
Das Modell war außerordentlich erfolgreich, nahezu alle Städte der Welt räumten ab den 1950er Jahren dem Auto den Weg frei, das mit seinem universalen Freiheitsversprechen in eine goldene Zukunft lockte. Kritik ließ nicht lange auf sich warten: Viktor Gruen, einer der erfolgreichsten Architekten des zwanzigsten Jahrhunderts, hielt das Modell bereits in den 1970er Jahren für gescheitert. In seinem Buch Die Lebenswerte Stadt: Visionen eines Umweltplaners schrieb er 1975: „Die unheilige Dreieinigkeit (Entflechtung, Entlastung und Automobilgerechtigkeit) erweist sich als Totengräber der Urbanität, als Erzeuger funktioneller und sozialer Segregation und als Geburtshelfer jener asozialen Monokulturen, die wir jetzt als Ghettos bezeichnen. Harte Worte von einem, der als Erfinder der Shopping-Mall gehörig zur Verbreitung der autozentrierten Moderne beigetragen hatte.
Viele Städte versuchen derzeit, ihre Zerstörung durch Autobahnen schrittweise rückgängig zu machen: Paris hat eine innerstädtische Autobahn am emblematischen Seineufer stillgelegt. Madrid wiederum hat einen Teil seines Autobahnrings M30 in einen Tunnel verbannt und damit ebenfalls eine Wiederbelebung des Flussufers erreicht. In der für breite Autoschneisen berühmten koreanischen Hauptstadt Seoul wurde bereits 2011 eine komplette innerstädtische Stadtautobahn in eine Grünfläche verwandelt. Doch es geht auch anders. Oslo ist stolz auf seine Pläne für eine autofreie Innenstadt, gleichzeitig wird dort eine neue Autobahn von Oslo nach Trondheim gebaut. In Österreich wurde gerade der Neubau der Lobau-Autobahn nahe Wien von der grünen Klimaschutzministerin abgeblasen, der sozialdemokratische Bürgermeister will aber unbedingt trotzdem einen neuen Abschnitt Stadtautobahn bauen.
Selbst im Mutterland der unbegrenzten Automöglichkeiten, dem „land of the freeway“, setzt ein Umdenken ein.
Selbst im Mutterland der unbegrenzten Automöglichkeiten, dem land of the freeway, setzt ein Umdenken ein. Kaum ein Land hat dem Auto so kompromisslos den Weg geebnet wie die USA. Das Freeway-Netz der Vereinigten Staaten ist seit den 1950er Jahren auf 75 400 Kilometer angewachsen. Viktor Gruen beschrieb das Vorgehen in Die Lebenswerte Stadt so: „Man pumpte mehr und mehr Autos durch die innerstädtischen Gebiete durch die Konstruktion von Stadtautobahnen, Autobrücken und Autotunnels. Um diese ungeheuren Fluten von einströmenden Individualverkehrsmittel auch nur halbwegs zu bewältigen, demolierte man Gebäude, verbreiterte Straßen, verengte Gehsteige und baute eine Unzahl von Tief- und Hochgaragen.“
Doch nun diskutieren über 30 US-Städte über den Rückbau von Stadtautobahnen. Das hat zum Teil finanzielle Gründe: Der Zustand der in Teilen bald 70 Jahre alten Verkehrswege hat sich zusehends verschlechtert, was vor allem daran liegt, dass Bundesstaaten und Kommunen für 80 Prozent der Finanzierung des Unterhalts aufkommen müssen – für viele Städte und Gemeinden ein Problem. Angesichts leerer Kassen, aber auch von Debatten um Flächenverbrauch, Verkehrsperspektiven, Demografie sowie Gerechtigkeitsfragen in den USA sehen sich viele Städte vor die Frage gestellt: Entfernen oder neu bauen?
In den USA propagiert der Congress for the New Urbanism (CNU) – ein Zusammenschluss von Stadtplanern und Aktivisten, die sich selbst als freeway fighters bezeichnen – den Rückbau unter dem Motto Highways to Boulevards.
Für Ben Crowther, der das Programm zum Rückbau der städtischen Highways bei CNU leitet, spielt die Regierung natürlich eine Schlüsselrolle bei der Eliminierung von Autobahnen. Doch die Bewegung dazu wird oft „von einer Basis aus aufgebaut, von Menschen in der Nachbarschaft, die eine Vision davon haben, was es ohne die Autobahn sein könnte“. Aber dies sei kein Hochgeschwindigkeitsprozess, betont Crowther: Die Bemühungen „dauern keine Jahre – sie dauern Jahrzehnte“.
Wie positiv sich der Rückbau von Stadtautobahnen auf US-Städte auswirkt, zeigt das Beispiel Portland.
Dabei sind innerstädtische Autobahnen und deren Rückbau nicht nur ein verkehrspolitisches Thema in den USA, sondern auch ein soziales und eines, das mit der Frage von Minderheitenrechten und bestimmten Ethnien angetanem Unrecht verknüpft ist. Beispiel Rochester im Bundesstaat New York: Wie in vielen anderen Städten wurde dort ein innerstädtischer Autobahnring gebaut. Viele Bewohner, insbesondere aus mehrheitlich von Schwarzen bewohnten Vierteln, mussten weichen, sie wurden enteignet oder ihres angestammten Lebensumfeldes beraubt. Und sie mussten einer Infrastruktur Platz machen, von der sie selbst herzlich wenig profitierten und die auf das Mobilitätsbedürfnis vorwiegend weißer Vorstädter zugeschnitten war. Zusammen mit der rassistischen Wohnungspolitik haben die städtischen Interstate Highways die Landschaft gemäß einer Ideologie der weißen Vorherrschaft neu kartiert. Das sieht auch der US-Verkehrsminister so. Auf einer Veranstaltung sagte Pete Buttigieg: „Rassismus ist physisch in einige unserer Autobahnen eingebaut.“
Gerade hat Rochester ein Teilstück zugeschüttet, das als offener Tunnel eine unüberwindliche Schneise darstellte. Daraufhin entstand ein ganz neuer Straßenraum und vorher getrennte Nachbarschaften konnten wieder zueinander finden. Allerdings droht der Rückbau, der auch ein lukratives Immobilien-Geschäft darstellt, nun der historischen Ungerechtigkeit noch eine weitere hinzuzufügen: Stichwort grüne Gentrifizierung. Steigende Attraktivität der Gegend um den Rückbau könnte zu einer neuerlichen Vertreibung der verbliebenen Bewohner führen.
Einige US-Städte folgen dem Modell von Rochester und verwandeln ehemalige Autobahnen in kleinere, begehbare Boulevards. Manche bedecken Autobahnen mit Parks oder ersetzen sie lediglich durch autobahnähnliche Straßen, wie in Seattle geplant. Andere dagegen, wie Syracuse und Detroit, haben sich verpflichtet, Abschnitte der Autobahn durch besser verbundene, fußgängerfreundliche Viertel zu ersetzen. Wie positiv sich der Rückbau von Stadtautobahnen auf US-Städte auswirkt, zeigt das Beispiel Portland. Der erste jemals in den USA rückgebaute Autobahnabschnitt war der Portland Harbour Drive, der bereits 1962 in der zweitgrößten Stadt des Bundesstaates Oregon demontiert wurde. Heute gilt die boomende Stadt als das Freiburg der USA, in der Alternativkultur und Fahrradverkehr stark sind.
An den kommenden Auseinandersetzungen um den (Rück-)Bau von Autobahnen kristallisieren sich die sozialen Konflikte unserer Zeit.
Zurück nach Berlin: Hier braut sich ein perfekter Sturm zusammen. Gerade innerstädtische Autobahnen – hier ist das Missverhältnis zwischen Mobilitätsnutzen für Einige und immensen Schäden und Ungerechtigkeiten für die Vielen am offensichtlichsten – fokussieren wie in einem Brennglas aktuelle gesellschaftliche Probleme. Sei es Klimawandel, Gerechtigkeit oder Lebensweise: An den kommenden Auseinandersetzungen um den (Rück-)Bau von Autobahnen kristallisieren sich die sozialen Konflikte unserer Zeit. Denn immer weniger Menschen können den Sinn solcher einschneidenden Verkehrsinfrastrukturen erkennen, zumal die Planungen aus Zeiten stammen, in denen die Mehrheit noch gar nicht geboren war. „Stadtautobahnen symbolisieren den alten, vergangenen Geist“, so der Soziologe Andreas Knie.
Ist es da nicht verständlich, dass eine junge Klima-Generation zu immer radikaleren Mitteln greift, um die Hoffnung auf eine Abwendung der Klimakatastrophe aufrechtzuerhalten, z.B. durch medienwirksame Straßenblockaden? Die Klimabewegung hat – spätestens seit es ihr 2019 erfolgreich gelang, die Internationale Automobilausstellung aus Frankfurt zu vergraulen – den Kampf gegen den „Autokapitalismus“ aufgenommen. Wie es der Klimaaktivist Tadzio Müller gegenüber dem Autor sagte: „Der Autokapitalismus will eine Schneise durch unsere Wohngebiete, Parks und Subkulturen schlagen – das werden wir verhindern.“