Die Jahrestagung des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank findet erstmalig seit 50 Jahren auf dem afrikanischen Kontinent statt. Sie steht im Zeichen einer grassierenden Schuldenkrise im Globalen Süden, einer dysfunktionalen Finanzarchitektur im Umgang mit diesen Schuldenkrisen und gleichzeitig eines wachsenden Unmutes im Globalen Süden, nicht ausreichend in der globalen Finanzarchitektur repräsentiert zu sein: Mehr als 50 klimavulnerable Länder, koordiniert in den Vulnerable20, forderten im Vorfeld der Tagung vom 9. bis 15. Oktober in Marrakesch nicht nur eine Reform, sondern eine echte Transformation der globalen Finanzarchitektur. Beim Africa Climate Summit forderten die beteiligten afrikanischen Staaten die Schaffung einer neuen Finanzarchitektur inklusive besserer Schuldenrestrukturierungsverfahren, die Afrikas Bedürfnissen besser gerecht werden. Erst Anfang der Woche forderten Pakistan und Argentinien in den Vereinten Nationen ein Staateninsolvenzverfahren, unabhängig von Gläubiger und Schuldner, um Ländern in einer Schuldenkrise rasch und fair einen Ausweg zu bieten.
Doch der Globale Norden lässt es bislang nicht ausreichend zu, dass Entscheidungen für die Reform der globalen Finanzarchitektur in Formaten getroffen werden, in denen Schuldnerstimmen gleichermaßen zählen. So versuchten die USA zusammen mit einigen anderen G7-Staaten Formulierungen zur Reform der Schulden- und Finanzarchitektur in der Erklärung des UNSDG Summit im September zu blockieren. Sie argumentieren, dass solche Themen ausschließlich von IWF und Weltbank bearbeitet werden sollten. Mit dem gleichen Argument verhinderten Länder des Globalen Nordens 2014 und 2015 eine Initiative der G77 (einem Zusammenschluss von 134 Ländern des Globalen Südens) in den Vereinten Nationen zur Schaffung eines Staateninsolvenzverfahrens. Das dahinterliegende Interesse ist eindeutig: Länder des Globalen Nordens wollen an Macht- und Einflussnahmemöglichkeiten festhalten. Im IWF und der Weltbank halten die G7-Staaten über 40 Prozent der Stimmrechte und können deren Politik damit maßgeblich bestimmen. In der Generalversammlung der Vereinten Nationen gilt das Prinzip, ein Land eine Stimme, so dass die G7-Staaten dort zusammen nur etwas über drei Prozent der Stimmrechte halten.
Die Länder des Globalen Nordens wollen an Macht- und Einflussnahmemöglichkeiten festhalten.
Hätte man diesen Vorstoß damals nicht blockiert, sondern in „einfacheren Zeiten“ ein solches Staateninsolvenzverfahren geschaffen, wie IWF-Chefin Kristalina Georgieva es 2021 bei der Frühjahrstagung von IWF und Weltbank ausdrückte, hätten Länder heute vielleicht einen größeren Anreiz, frühzeitig Umschuldungsverhandlungen in Angriff zu nehmen. Doch konstruktive, substantielle Diskussionen insbesondere zu der Frage, wie eine gerechte Schuldenarchitektur aussehen könnte, sind in der Vergangenheit wie heute immer wieder bestehenden Blockbildungen zwischen Ländern im Globalen Norden und im Globalen Süden in der UN und den Internationalen Finanzinstitutionen zum Opfer gefallen.
Angesichts der verschiedenen Initiativen und der Koordination von Schuldnerländern gibt es nun die Chance, blockübergreifend Initiativen im multilateralen Bereich zu ergreifen. Die Bundesregierung kann hier eine zentrale Rolle spielen, hat sie doch in ihrem Koalitionsvertrag vereinbart, ein kodifiziertes Staateninsolvenzverfahren zu unterstützen – so wie es Pakistan und Argentinien zuletzt gefordert haben. Dafür muss sie allerdings mutiger werden und die unausgesprochene Regel der G7-Staaten infrage stellen, dass Entscheidungen zu Schuldenfragen maßgeblich im IWF verbleiben sollten.
Dies wird umso wichtiger, wenn wir die Ortswahl noch einmal näher betrachten: Für IWF und Weltbank steht die Standortwahl Marrakesch als Signal, den Globalen Süden stärker einzubeziehen. Doch gerade diese Region, in der die globale Finanzelite in den nächsten Tagen tagt, fällt in Bezug auf die Lösung der Schuldenkrise durchs Raster: Der G20 Common Framework, das Umschuldungsrahmenwerk der Gläubigerländer, durch das Länder in einer Schuldenkrise einen koordinierteren und rascheren Ausweg haben sollen, regelt den Zugang nicht nach tatsächlichem Entlastungsbedarf, sondern nach Pro-Kopf-Einkommen in den Ländern. Nur die Länder, die nach den Kategorien der Weltbank als einkommensschwach gelten, bekommen Zugang, alle anderen nicht. Viele Länder in der MENA-Region (Naher Osten und Nordafrika) fallen damit raus. So war es schon bei der Schaffung von koordinierteren Entschuldungsinitiativen in vergangenen Schuldenkrisen, wie der multilateralen Entschuldungsinitiative für hoch verschuldete arme Länder (HIPC-Initiative).
Im Globalen Süden ist es der IWF, der eine zentrale Rolle sowohl bei der Erkennung als auch der Lösung von Schuldenkrisen übernimmt.
Tatsächlich sind Staatsschulden die einzige Art von Schulden, bei der im Falle einer Krise der nötige Restrukturierungsprozess nicht mithilfe eines rechtlichen Rahmens geregelt wird. Im Globalen Süden ist es stattdessen der IWF, der eine zentrale Rolle sowohl bei der Erkennung als auch der Lösung von Schuldenkrisen übernimmt. Das liegt nicht nur daran, dass sich viele Länder in Krisen an den IWF als internationalen Kreditgeber letzter Instanz wenden. De facto dient der IWF auch als Gatekeeper zu weiteren multilateralen und bilateralen Finanzierungen sowie zum Schuldenerlass durch öffentliche Gläubiger. Diese machen ein IWF-Programm zur Voraussetzung, um mit kritisch verschuldeten Ländern überhaupt nur über die Restrukturierungen ihrer Schulden zu verhandeln. Die Rolle des IWF ist daher weitaus stärker, als es dem Umfang seiner eigenen Kreditvergabe entsprechen würde.
Nun zählt IWF-Direktorin Kristalina Georgieva schon seit Ausbruch der Covid-Pandemie zu den lautesten Stimmen, die rasche Schuldenerlasse für kritisch verschuldete Länder fordern. Doch die Praxis sieht anders aus: Die Untersuchung von 179 Schuldentragfähigkeitsanalysen von 117 Staaten zwischen 2020 und 2022 zeigt: Zwar beschreibt der IWF in 86 Ländern hohe Schuldenrisiken, doch in gerade einmal vier Länderfällen (die nicht bereits Zahlungen eingestellt oder Restrukturierungsverhandlungen aufgenommen haben) werden Schuldenerleichterungen präventiv vom IWF ins Spiel gebracht. In allen anderen Länderfällen mit ähnlich gelagerten Verschuldungsrisiken gibt es keine Empfehlungen oder Szenarien, in denen Schuldenerleichterungen eine Rolle spielen. Stattdessen empfiehlt der IWF einseitig Anpassungsmaßnahmen im Schuldnerland, um die Schuldenquote zu senken. Das bedeutet, dass die Last allein von der Bevölkerung getragen wird, während Verluste für die Gläubiger vermieden werden.
Daran zeigt sich einmal mehr die Dysfunktionalität des aktuellen Systems, das darauf setzt, dass Gläubiger Schuldenerlasse freiwillig gewähren.
Hinzu kommt die Problematik, dass die Prognosen des IWF zum Beispiel in Bezug auf das Wirtschaftswachstum systematisch zu optimistisch ausfallen. Dadurch wird die künftige Rückzahlungsfähigkeit der Schuldnerländer überschätzt und der Bedarf an Schuldenerlassen klein gerechnet. Problematisch ist das vor allem deswegen, da der vom IWF errechnete Erlassbedarf die wichtigste Grundlage ist, auf die sich öffentliche Gläubigerstaaten in Schuldenrestrukturierungsverhandlungen beziehen. Im Fall Sri Lanka schreibt der IWF in seiner Schuldentragfähigkeitsanalyse sogar selbst, dass der berechnete Schuldenerlass keine tragfähige Schuldensituation herstellen wird. Einen Anreiz, realistische Prognosen zu erstellen, gibt es jedoch nicht, denn je umfangreicher der vom IWF berechnete Erlassbedarf ausfällt, desto schwieriger wird es anschließend, alle Gläubiger an den Tisch zu bekommen und dazu zu bewegen, diesen Erlass tatsächlich auch zu gewähren.
Daran zeigt sich einmal mehr die Dysfunktionalität des aktuellen Systems, das darauf setzt, dass Gläubiger Schuldenerlasse freiwillig gewähren. Solange sich dies nicht ändert und Schuldenerlasse im Einzelfall vom Wohlwollen der Gläubiger abhängen (beziehungsweise vom spezifischen wirtschaftlichen und geostrategischen Interesse der einzelnen Gläubiger im Schuldnerland), werden sich die Fehler der Vergangenheit weiter wiederholen und Schuldenerlasse zu spät und in einem zu geringen Umfang gewährt werden. Die Vulnerable20 haben daher Recht: Es braucht eine echte Transformation der internationalen Finanzarchitektur hin zu einem regelbasierten, fairen und transparenten Staateninsolvenzverfahren. Ob diese Erwartungen bei der diesjährigen Jahrestagung von IWF und Weltbank in Marrakesch erfüllt werden, ist fragwürdig.