Lettland

Lettland macht Schlagzeilen. Außenpolitisch, weil das Land, genau wie die Nachbarstaaten Estland und Litauen, als mögliches nächstes Angriffsziel der Russischen Föderation gesehen wird. Aber auch innen- und wirtschaftspolitisch, weil es im Juli mit 21,5 Prozent die höchste Inflationsrate seit den 1990er Jahren vorweist – also zu Beginn der Transformationsphase von einer Plan- zu einer Marktwirtschaft.

Unterbrochene Lieferketten sind eine Ursache für die hohe Inflation, aber eben auch der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine. Denn die steigenden Energiepreise sind ein wirkungsmächtiger Faktor. Lettlands Abhängigkeit vom russischen Gas soll zwar zum 1. Januar 2023 mit einem Einfuhrstopp beendet werden, aber Alternativen zu finden, ist ähnlich wie in Deutschland nicht einfach.

Zudem ist unklar, ob zumindest für die überschaubare Zukunft genügend Gas vorhanden und gespeichert ist. Premierminister Krisjanis Karins zeigte sich auf einer Pressekonferenz davon überzeugt; das zuständige Unternehmen Latvijas Gaze, an dem auch das russische Energieunternehmen Gazprom (34 Prozent) sowie Uniper Ruhrgas (18,26 Prozent) beteiligt sind, mag das so jedoch nicht bestätigen.

Auch wenn die Letten mit den Folgen einer hohen Inflation in der jüngsten Geschichte schon mehrfach konfrontiert waren, nicht nur während der Transformation in den 1990er Jahren, sondern auch bei der Finanzkrise 2008/2009, so sind die Auswirkungen erneut sehr schmerzlich. Denn es trifft jeden, wenn die Heiz-, Nahrungs-, Wohnungs- und Transportkosten in die Höhe schießen.

Sie alle nehmen einen hohen Anteil des Haushaltsbudgets des lettischen Durchschnittsbürgers ein, mehr als in anderen Gesellschaften. Gerade die Heizkosten werden sich dramatisch nach oben bewegen in einem Land, in dem neben den kalten Wintern auch die Zwischenjahreszeiten zumeist eher kühl daherkommen. Statt 170 Euro stehen bei einem Bekannten dann auf einmal 614 Euro auf der Rechnung für die Heizkosten.

Auch die Preise für Lebensmittel wie Milchprodukte, Brot, Kaffee, Zucker und Fleisch (Rind) sind um mindestens ein Drittel gestiegen. Kein Wunder, dass bei einer kürzlich durchgeführten Umfrage nun als gewünschtes Durchschnittseinkommen 1 646 Euro angegeben werden, 12 Prozent mehr als im Vorjahr. Vor zehn Jahren war es nur ein wenig mehr als die Hälfte gewesen.

Der Staat hat begriffen, dass er eingreifen muss. Bei Heizungskosten wird er hohe Preise zum Teil kompensieren. Für ältere Menschen, Rentner und versehrte Menschen hat die Regierung angekündigt, einen Inflationsausgleich zur Verfügung zu stellen. Ist das ausreichend? Der Finanzexperte Andris Suvajevs ist skeptisch: „Für viele Haushalte wird dies nicht zu ertragen sein, und es wird ein enormer Druck auf die kommunalen Sozialdienstleister zukommen, die Kosten mitzutragen.“

Der Staat hat begriffen, dass er eingreifen muss.

Doch staatliche Stellen tun sich schwer mit Sozialleistungen. Lettland ist stolz auf eine niedrige staatliche Verschuldung von nur rund 43 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Zum Vergleich: In Deutschland steht dieser Wert bei 68 Prozent, in Italien bei 152 Prozent. Sie wird allgemein als Sicherheitselement gegen schwere Krisen verstanden und steht im Einklang mit einer sehr großen Skepsis gegenüber zu vielen staatlichen Eingriffen, sicherlich immer noch eine Folge der Abkehr vom staatlichen Wirtschaften als Teilrepublik der Sowjetunion.

Am 1. Oktober wird das nationale Parlament neu gewählt. Im Augenblick werden mindestens zehn Parteien gute Chancen eingeräumt, die Fünf-Prozent-Hürde zu überspringen. Die Koalitionsverhandlungen werden also erneut schwierig werden. Doch viel Zeit wird dafür nicht bleiben, die kalte Jahreszeit steht an. Neben den privaten Haushalten haben auch die Krankenhäuser Finanzbedarf angemeldet, um die steigenden Kosten finanzieren zu können. Eine neue Variante des Coronavirus ist auch in Lettland nicht auszuschließen.

Reinhard Krumm, FES Riga
 

Frankreich

Nach einer langen Phase mit jährlichen Preissteigerungen von kaum mehr als 1 Prozent ist in Frankreich schon seit 2021 wieder eine ansteigende Inflationsdynamik zu spüren. Mit Beginn des Krieges in der Ukraine nahm diese weiter an Fahrt auf. Im Juli erreichte die Teuerungsrate mit 6,1 Prozent den höchsten Stand seit 1985 und bis zum Jahresende erwartet das französische Statistikamt einen weiteren Anstieg auf 6,5 bis 7 Prozent. Das sind Zahlen, die Erinnerungen an die 1970er Jahre wachrufen.

Doch weisen Ökonomen darauf hin, dass sich die aktuelle Inflationsdynamik von dem „klassischen“ Fall eines parallelen Preisanstiegs aller Güter sowie der Löhne unterscheidet. Gegenwärtig handele es sich vor allem um eine „importierte Inflation“, die nur die Preise bestimmter Güter betrifft, allen voran Energie – die Strompreise stiegen im ersten Halbjahr um das Sechsfache – und Lebensmittel. Die Entwicklung der Löhne und Gehälter konnte diesem Anstieg bislang nicht folgen. Angesichts der rasant steigenden Energiepreise hatte die französische Regierung bereits im Herbst mit dem bouclier énergétique (Energieschutzschild) ein Maßnahmenpaket auf den Weg gebracht, dass den Inflationsschock für die Haushalte abfedern sollte.

Der Preis für Gas wurde „eingefroren“ und der Anstieg des Strompreises bis Ende 2022 auf 4 Prozent gedeckelt. Bedürftige Haushalte mit einem Jahreseinkommen von bis zu 10 000 Euro erhielten zudem eine einmalige Gutschrift, einen chèque énergie, von bis zu 277 Euro für ihre Strom- und Gasrechnungen. Und Haushalte, die mit Heizöl heizen, sollen im Winter ebenfalls entlastet werden. Dafür wurden 230 Millionen Euro Hilfsmittel bereitgestellt. Um die Preisspirale an den Tanksäulen zu bremsen, wird zudem ein Preisnachlass von 30 Cent pro Liter Kraftstoff (ab November nur noch 10 Cent)  gewährt. Das Wirtschaftsforschungsinstitut OFCE schätzt, dass diese Maßnahmen den Anstieg der Inflation um etwa 2 Prozent gebremst haben.

Gleichwohl ist dieser „Schutzschild“ für Energiepreise nicht unumstritten. Zwar hat er bislang die Inflation in Frankreich im Vergleich zu seinen Nachbarländern deutlich begrenzen können, doch argumentieren Kritiker, dass die Maßnahmen stärker auf bedürftige Gruppen ausgerichtet werden sollten. Zudem sind die bislang ergriffenen Maßnahmen emblematisch für die Spannung, die zwischen dem kurzfristigen Ziel des Kaufkrafterhalts und dem mittel- und langfristigen Ziel des Energieeinsparens und der energetischen Transition besteht. Bislang fehlt es in Frankreich noch an begleitenden Maßnahmen, die das Energiesparen anregen – auch wenn sich langsam eine gesellschaftliche Debatte über eine Mäßigung des Konsums entwickelt.

War die Kaufkraft schon das bestimmende Thema bei den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im Frühjahr, so sorgt sie inzwischen auch für lebhafte und kontroverse Debatten in der neu zusammengesetzten Nationalversammlung. Dort verfügt das Regierungslager nach den Wahlen nicht mehr über eine absolute Mehrheit. Premierministerin Elisabeth Borne musste deshalb für das kurz vor der Sommerpause von ihr eingebrachte Gesetzesvorhaben zum Schutz der Kaufkraft in zähen Verhandlungen mit der Opposition nach einem mehrheitsfähigen Kompromiss suchen. Dabei prallten diametral entgegengesetzte Konzepte zum Erhalt der Kaufkraft aufeinander. Die Macronisten setzen vor allem auf die Verlängerung und Ausweitung des boucliers énergétique. Damit soll nicht zuletzt die Akzeptanz in der Bevölkerung für die Sanktionen gegen Russland gesichert werden, denn Marine Le Pen hat Präsident Macron schon öffentlich aufgefordert, diese aufzuheben, da sie wirkungslos seien und vor allem der eigenen Bevölkerung schadeten.

Ein Zugehen des Regierungslagers auf die linke Opposition und ihre Vorschläge blieb bislang aus.

Daneben enthält das von den Regierungsparteien mit Unterstützung der konservativen Republikaner durchgepaukte Hilfspaket zum Kaufkrafterhalt moderate Anpassungen der Sozialleistungen und Renten, die unterhalb der Inflationsrate liegen. Gleiches gilt für den Index zur Berechnung der Gehälter der öffentlichen Bediensteten, der um 3,5 Prozent angehoben wurde. Des Weiteren sieht das Paket eine Ausweitung der nach den Gelbwesten-Protesten eingeführten „Macron-Prämie“ vor. Diese ermöglicht es Unternehmen, Arbeitnehmern eine Prämie von bis zu 6 000 Euro auszuzahlen. Da auf diese Prämie keine Sozialabgaben und Steuern erhoben werden, wenden Kritiker ein, sie sei ein Anreiz für Unternehmen, Lohnerhöhungen zu umgehen. Auf Drängen der Republikaner wurde zudem die Möglichkeit geschaffen, dass Unternehmen in bestimmten Fällen von ihren Beschäftigten einen Teil der Arbeitszeitverkürzung „zurückkaufen“ können. In Frankreich gilt die 35-Stunden-Woche. Die linke Opposition sieht in der „Rückkaufoption“ einen Angriff auf diese Errungenschaft aus der Jospin-Zeit, da sie viele Arbeitnehmer vor die Alternative stelle, ihr Einkommen aufzubessern oder die verdiente Erholung in Anspruch zu nehmen.

Deshalb hält die linke Parlamentsopposition dem Regierungslager vor, alles zu tun, um allgemeine Lohn- und Gehaltsanpassungen zur Sicherung der Kaufkraft zu vermeiden. Dagegen plädiert sie vor allem für eine über die Inflationsanpassung hinausgehende Anhebung des Mindestlohns sowie die Einberufung einer „Lohnkonferenz“. Einen weiteren Kontrastpunkt zum Regierungslager setzte sie mit ihrer Forderung nach einer Besteuerung der Überprofite. Angesichts der situationsbedingt hohen Gewinne in einigen Wirtschaftssektoren forderten Sozialisten und Kommunisten in einem Gesetzesentwurf eine Sondersteuer von 25 Prozent für Unternehmen des Energie- und Transportsektors, die zuletzt Gewinne weit über der Größenordnung der Vorjahre erwirtschaftet hatten.

Mit den aus dieser Sondersteuer fließenden Einnahmen sollte eine dauerhafte Absenkung der Mehrwertsteuer auf Kraftstoff finanziert werden. In Reaktion auf diese Debatte hat TotalEnergies angekündigt, ergänzend zu dem staatlich finanzierten Preisnachlass die Benzinpreise an den eigenen Tankstellen zusätzlich um 20 Cent herabsetzen zu wollen. Zuvor war bekannt geworden, dass das Unternehmen seine Gewinne im ersten Halbjahr auf 18,8 Milliarden Euro verdreifachen konnte. Auch andere Energieunternehmen haben inzwischen nachgezogen und angekündigt, ihre Kunden entlasten zu wollen.

Mit Verweis auf solche „freiwilligen“ Gewinnweitergaben wehrte die konservative Parlamentsmehrheit die Forderung nach einer Besteuerung der Übergewinne vorerst ab. Doch nach der Sommerpause wird das Thema mit Sicherheit wieder zurück auf der Agenda sein. Insgesamt weist die Debatte zum Schutz der Kaufkraft in der neugewählten Nationalversammlung eine deutliche ideologische Konvergenz zwischen den Macronisten und den Republikanern auf. Ein Zugehen des Regierungslagers auf die linke Opposition und ihre Vorschläge blieb dagegen bislang aus und scheint auch für die nähere Zukunft unwahrscheinlich.

Thomas Manz, FES Paris

 

Tansania

Schon zu Beginn des Jahres hatte die Zentralbank gewarnt, dass der Wiederanstieg des Ölpreises nach dem Covid-19-Crash und vor allem auch die verzögerten saisonalen Regenfälle die Inflation anheizen könnten. Die anhaltenden Unterbrechungen in der Containerschifffahrt und bei den globalen Lieferketten hatten schon vor dem russischen Angriffskrieg zu einem Anstieg der Transportkosten und höheren Verbraucherpreisen geführt. Ein Teil des Preisanstiegs bei Nahrungsmitteln führte eine große Tageszeitung auf entweder Profitgier oder Panikkäufe zurück. Denn selbst Sardinen würden jetzt für einen Preis verkauft, den man „niemals zuvor“ habe zahlen müssen. Dass Bananen jetzt doppelt so teuer sind, könne man nur damit erklären, dass Händlerinnen und Händler aus Verwirrung Profit schlagen.

Während sich die globale Debatte um den Weizen zu drehen scheint, steht der Weizenverbrauch in Tansania erst an vierter Stelle nach Mais, Maniok und Reis. Die soziale Bedeutung von Mais ist in Tansania jedoch nicht zu unterschätzen: eine Mahlzeit ohne den geliebten Maisbrei Ugali? Unvorstellbar. Zeitungsberichten zufolge lag der Maispreis im Juni 78 Prozent höher gegenüber dem Vorjahr. Die wichtigsten Produkte der Weizenindustrie in Tansania sind Nudeln und Brot. 80 Prozent des Weizens, der hauptsächlich aus Russland importiert wird, werden in Städten konsumiert und man kann davon ausgehen, dass es eher Wohlhabende und die Mittelschicht sind, die solche Produkte kaufen. Für viele arme Familien ebenfalls entscheidend: Selbst der Reispreis stieg zuletzt um 38 Prozent gegenüber dem Vorjahr.

Jetzt, wo verflüssigtes Erdgas weltweit große Aufmerksamkeit erlangt, will man umso mehr vom Boom profitieren.

Um die sozialen Belastungen abzufedern, subventioniert die Regierung unter Präsidentin Samia Suluhu Hassan die Spritpreise, nutzt staatliche Großmengenbeschaffung, um die Preise auf dem Kraftstoffmarkt zu kontrollieren und denkt über einen Preisstabilisierungsfonds nach. Der Anstieg der Kraftstoffpreise wird als „einigermaßen zumutbar“ beschrieben, wobei die Preissteigerung von immerhin 33 Prozent sich insbesondere auf die Bustarife auswirkt. In Dar es Salaam sind die Buspreise im Mai um 100 Tansania-Shilling gestiegen, umgerechnet 4 Cent. Diese Erhöhung ist für viele Pendlerinnen und Pendler schlicht nicht bezahlbar. Fußmärsche über mehrere Kilometer hinweg zeugen davon. Schon jetzt beklagt der Busunternehmensverband gegenüber der Verkehrsaufsichtsbehörde, die Anpassung sei angesichts stark gestiegener Kraftstoffpreise zu gering.

Die Lösung der Probleme mit der Energieversorgung – konkret, der häufigen Nichtverfügbarkeit von Strom, es sei denn man besitzt einen Dieselgenerator – ist besonders in den dynamisch wachsenden Städten allerdings seit jeher eine der drängenden Aufgaben im Land. Tansanias Elektrizitätsverbrauch lag 2019 bei 2,61 Milliarden Kilowattstunden. Zum Vergleich: Der Weltdurchschnitt lag bei 125,19 Milliarden Kilowattstunden. Zur Energiegewinnung für den Großraum Dar es Salaam – Prognosen zufolge im Jahr 2050 eine der 20 größten Städte weltweit – wird ein Wasserkraftstaudamm gebaut. Allerdings sorgten hier im letzten Jahr Dürre und schwindende Wasserreserven bereits für Wasserrationierung.

Mit unendlichen Hoffnungen verbunden sind die Erdgasvorkommen in der südlichen Region Lindi. Jetzt, wo verflüssigtes Erdgas weltweit große Aufmerksamkeit erlangt, will man umso mehr vom Boom profitieren. Die Regierung bemüht sich weiter um Investitionen im Energiesektor. Die neue Präsidentin, seit 2021 im Amt, hat das Land für internationale Partner geöffnet, was zum einen für ein verändertes Investitionsklima und zum anderen für Finanzierungszusagen wie IWF-Kredite sorgt. Ob sie mit den zahlreichen Darlehen zur Schaffung des dringend benötigten finanzpolitischen Spielraums für Investitionen und Sozialausgaben tatsächlich auch die langfristigen Auswirkungen der Folgen der Pandemie und des russischen Angriffskrieges abzufedern vermag, wird nun zum Testfall ihrer Wirtschafspolitik.

Elisabeth Bollrich, FES Tansania