Sind die Menschen aus dem Ahrtal, die ihre durch die Flutkatastrophe im Juli 2021 zerstörten Häuser dauerhaft verlassen mussten, deutsche Klimaflüchtlinge? Diese Frage warf jüngst die ZEIT auf, was durchaus bemerkenswert ist. Denn mit dem Begriff „Klimaflüchtling“ assoziieren die allermeisten Menschen in Deutschland und Europa wohl nur Menschen aus Afrika, dem Nahen Osten oder Südasien, die mit ihrem letzten Hab und Gut durch überflutete oder verwüstete Landschaften laufen und verzweifelt nach Schutz suchen.
Dass viele der nicht-europäischen Klimaflüchtlinge diesen Schutz vor allem in Europa suchen werden, gilt bei vielen als sicher. Auch in den Medien ist dies schon seit längerem ein beliebtes Motiv: Bereits in den Zweitausender Jahren äußerte beispielsweise die Financial Times die Sorge, dass der Klimawandel einen „menschlichen Tsunami“ gen Europa verursachen werde. Wird der Klimawandel also schon bald eine gigantische Flüchtlingskrise an den Grenzen Europas auslösen? Oder stellt die klimawandelinduzierte Migration Europa nicht vor ganz andere Herausforderungen?
Die Forschung zum Thema „Klimamigration“ jedenfalls kommt zu Ergebnissen, welche die Ängste vor einem möglichen „Massenansturm“ von Millionen Klimaflüchtlingen auf Europa in näherer Zukunft deutlich relativieren. Denn wenn Menschen im Zusammenhang mit Dürren, Flutereignissen oder anderen Auswirkungen der globalen Erwärmung ihre Heimstätten verlassen, so migrieren sie meist nicht besonders weit. Die allermeisten dieser Migrierenden oder Geflüchteten bewegen sich innerhalb des eigenen Herkunftslandes oder gehen in ein Nachbarland.
Da die Hauptbetroffenen von Klima- und Umweltwandel ärmeren Bevölkerungsgruppen des globalen Südens angehören – also zum Beispiel kleinbäuerlichen Familien –, verfügen sie gar nicht über die notwendigen (finanziellen) Ressourcen, um etwa von Ostafrika nach Europa migrieren zu können. Einige Menschen sind so arm, dass sie gar nicht die Möglichkeiten haben, um überhaupt irgendwohin zu migrieren. Diese auch als trapped populations bezeichneten Menschen sind diejenigen, die wohl am härtesten von den Auswirkungen des ökologischen Wandels betroffen sein werden.
Zudem ist es in den seltensten Fällen der Klimawandel allein, der Migration oder Flucht hervorruft. Fast immer spielen auch Konflikte, wirtschaftliche Faktoren, politische Rahmenbedingungen oder demografische Gründe eine Rolle, wenn Menschen ihre Heimat verlassen. Vor allem aus diesem Grund gibt es weder im rechtlichen noch im wissenschaftlichen oder im politischen Kontext eine allgemein akzeptierte Definition solcher Begriffe wie „Klimaflüchtling“, „Klimamigration“ oder „Klimamigrant“, weshalb sie stets mit Anführungszeichen versehen werden sollten.
Einige Menschen sind so arm, dass sie gar nicht die Möglichkeiten haben, um überhaupt irgendwohin zu migrieren.
Zudem handelt es sich bei Flucht und Migration im Kontext des Klimawandels meist um zirkuläre Prozesse; das heißt, dass viele Menschen nicht permanent weggehen, sondern zum Teil nach kurzer Zeit wieder in ihre Heimatorte zurückkehren. Im Falle von temporärer Arbeitsmigration kann dies auch positive Effekte haben: Einzelne Haushaltsmitglieder arbeiten für einen gewissen Zeitraum woanders, verdienen Geld und können damit unter Umständen klimabedingte Schäden und Verluste ihrer Haushalte kompensieren. Die Frage, ob und wann Migration eine Anpassungsstrategie an die Folgen klimatischen Wandels darstellt, hat in den letzten Jahren im Forschungsfeld „Klimamigration“ enorm an Bedeutung gewonnen.
Auch wenn Szenarien einer apokalyptischen, vorwiegend vom Klimawandel hervorgerufenen Flüchtlingskrise an den Rändern Europas eher unwahrscheinlich sind, ist dies kein Grund für Gelassenheit oder gar Sorglosigkeit. Da bereits in wenigen Jahren und Jahrzehnten etwa durch den Anstieg des Meeresspiegels Territorien oder – im Falle einzelner pazifischer Inselstaaten – sogar ganze Nationen verschwinden oder zumindest unbewohnbar werden könnten, wird die Relevanz der „Klimamigration“ für Politik und Gesellschaft in Zukunft rund um den Globus noch größer werden. Exakte Prognosen sind nicht möglich. Wahrscheinlich werden sich diese Mobilitätsprozesse jedoch auch zukünftig vor allem innerhalb von Ländern und Regionen abspielen.
Zudem führen weder die direkten Effekte des Klimawandels noch die Migration, die in erster Linie durch diese Effekte hervorgerufen wird, automatisch und direkt zu mehr (bewaffneten) Konflikten. Ähnlich wie das Verhältnis zwischen Klimawandel und Migration ist das Verhältnis zwischen Klimawandel und Konflikten sehr komplex. Ob mehr und intensivere Dürren oder Flutereignisse die Wahrscheinlichkeit von Konflikten in einem Land erhöhen oder nicht, hängt sehr stark auch von politisch-institutionellen oder sozioökonomischen Faktoren ab.
Es steht jedoch fest, dass der Klimawandel und klimabezogene Migration tendenziell Risikomultiplikatoren sind, die in der direkten Nachbarschaft Europas durch Ressourcenkonflikte oder gesellschaftliche Spannungen Instabilität befördern können – mit wiederum negativen Folgen für Europa. Und wie die eingangs erwähnte Frage nach den deutschen Klimaflüchtlingen aus dem Ahrtal zeigt, steht noch etwas anderes fest: Auch die Menschen des „alten Kontinents“ sind nicht vor klimawandelbezogener Migration gefeit. Ein Anstieg des Meeresspiegels von über einem Meter etwa könnte in einigen Jahrzehnten einen Großteil der Niederlande und Küstengebiete in anderen Teilen Europas nahezu unbewohnbar machen.
In den seltensten Fällen ist es der Klimawandel allein, der Migration oder Flucht hervorruft.
Wie sollten politische Akteure – in Europa und weltweit – nun mit dem Phänomen „Klimamigration“ umgehen? Die Komplexität der Wechselwirkungen zwischen Klimawandel und Migration verlangt nach differenzierten und kontextspezifischen Antworten. Diese Antworten lassen sich aber an den folgenden allgemeinen Leitsätzen ausrichten: Eine Verhinderung von Zwangsmigration (soweit dies möglich ist); eine Förderung des positiven Potenzials von Migration (z.B. durch Rücküberweisungen); und die Anwendung menschenrechtsbasierter Strategien zur Sicherung menschenwürdiger Lebensbedingungen für Migranten, ihre Familien und vulnerable Bevölkerungsgruppen im Allgemeinen.
Die Vielschichtigkeit des Problems „Klimamigration“ erfordert zudem ein aktives Engagement auf verschiedenen Ebenen, von der globalen bis zur lokalen Ebene, sowie die Zusammenarbeit unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen und Politikfelder wie Migrationspolitik, Klimapolitik, ländliche Entwicklung oder Stadtplanung. Zwar gibt es schon Programme und Initiativen – zum Beispiel die Platform on Disaster Displacement (PDD) –, die auf globaler Ebene vor allem ausgewählte Aspekte von Klima- oder Umweltmigration adressieren. Erstrebenswert wäre allerdings eine zentrale Institution, die ganz unterschiedliche Organisationen und Akteure zusammenbringt, um mit einem umfassenden Mandat Normen und Leitlinien zur Bewältigung der vielfältigen Herausforderungen der „Klimamigration“ zu entwickeln.
Auch sollten durch diese Institution entsprechende Anstrengungen auf regionaler, nationaler und lokaler Ebene unterstützt werden, denen eine besondere Bedeutung zukommt. Notwendigerweise würde es hierfür einer ausreichenden Finanzierung bedürfen. Europa stünde hier in einer besonderen Verantwortung, sich entsprechend zu engagieren. Als Teil des globalen Nordens hat es einen Großteil der weltweiten Treibhausgasemissionen seit Anbeginn des industriellen Zeitalters ausgestoßen. Andererseits liegt es im ureigensten Interesse Europas, seinen Nachbarregionen bei der Bewältigung mobilitätsbezogener und anderer Folgen des Klimawandels zu unterstützen.
Vor allem müssen sich EU und europäische Regierungen ebenso dafür wappnen, dass der Klimawandel in zunehmendem Maße auch in Europa Migration und Umsiedlungen (mit-)verursachen wird. Nützlich und notwendig wäre hierfür zunächst die Entwicklung von Szenarien, an deren Ende nicht nur die zu erwartenden Zahlen von Migrierenden oder Umzusiedelnden stehen, sondern vor allen Dingen konkrete politische Handlungsempfehlungen, wie diese Herausforderungen angegangen werden könnten. Es bedarf grundsätzlich eines tiefgreifenden Problembewusstseins – und das sollte Europa beim Thema „Klimamigration“ schnell entwickeln.