Blickt man heute auf die Situation im Jahre 2022, ist offensichtlich, dass die Europäische Zentralbank (EZB) zu spät auf die vor allem durch den Krieg gegen die Ukraine verursachte Inflationswelle reagierte. Zusätzlich droht die EZB nun schon wieder der Entwicklung hinterherzuhinken. Diesmal jedoch, indem sie zu lange auf die Bremse tritt – mit ernsthaften Risiken für die Realwirtschaft und die Stabilität des Finanzsystems der Eurozone. Die EZB-Präsidentin Christine Lagarde beschrieb die derzeitige Situation auf ihrer Pressekonferenz Mitte Juni zutreffend als „noch nie dagewesen“ und „außerordentlich“. Die Entscheidungen der Bank seit letztem September bezeichnete sie als „in jeder Hinsicht gewaltig, sowohl was das Tempo als auch was die Höhe und den Umfang der Erhöhungen angeht“. Denn seit September hat es sieben Zinsanhebungen gegeben, die letzte davon diesen Monat, wodurch der EZB-Leitzins um insgesamt 3,5 Prozentpunkte gestiegen ist.

Nach so einer historisch immensen Dosis an geldpolitischer Einschränkung wäre zu erwarten, dass die EZB sehr sorgfältig erwägt, ob weitere Zinserhöhungen gerechtfertigt sind – oder ob es besser wäre zu warten, bis die Auswirkungen ihrer Schocktherapie ersichtlicher sind. Stattdessen gab Lagarde auf die Frage, ob die EZB in Erwägung ziehe, beabsichtigte Zinserhöhungen auszusetzen, die unverblümte Antwort, dass über eine Pause oder eine Aussetzung der Erhöhungen bisher nicht diskutiert worden sei, da die EZB viel zu tun habe. Dabei ließ sie offen, was die EZB zu tun hat, das sie von ihrer Kernaufgabe abhält, über ihre Zinspolitik nachzudenken.

Auf ähnlich schroffe Weise beantwortete sie die berechtigte Frage über die Einschätzung der EZB zum „neutralen Zins“ – einem vieldiskutierten theoretischen Konzept, das dabei hilft, zu ermitteln, ob die aktuelle Zinspolitik restriktiv (über neutral) oder stimulierend (unter neutral) ist. So wischte sie die Frage kurzerhand vom Tisch und behauptete, dass eine Auseinandersetzung mit der Frage schlicht nicht notwendig sei.

Doch stellt sich die Frage: Wenn es diese Richtschnur nicht gibt, aufgrund welcher Daten ist die EZB dann so absolut überzeugt davon, dass weitere Zinsanhebungen nötig sind? Lagarde führte aus, dass sich Mitglieder des EZB-Rats die Datenlage sehr sorgfältig angesehen hätten und die EZB ihre Beurteilung der Inflationsaussichten aktualisiert habe. Die für 2025 prognostizierte Rate von 2,2 Prozent bezeichnete sie als „nicht ausreichend“ und „nicht rechtzeitig“ genug.

Auch wenn es sinnvoll ist, geldpolitische Entscheidungen auf Inflationsprognosen zu gründen, hat sich die EZB in dieser Hinsicht nicht mit Ruhm bekleckert.

Aber auch wenn es grundsätzlich sinnvoll ist, geldpolitische Entscheidungen auf Inflationsprognosen zu gründen, hat sich die EZB in dieser Hinsicht nicht mit Ruhm bekleckert. So betrug die Differenz zwischen der im März 2021 vorhergesagten Zahl und der letztlich eingetretenen Rate für das Jahr 2022 7,2 Prozentpunkte. Für 2023 liegt die Differenz zwischen der ersten und der letzten Schätzung immerhin noch bei vier Prozentpunkten. Mit allem gebotenem Respekt für Prognosen dieser Art: Sie können nicht als fundierte Erkenntnisse dafür herhalten, stur immer weiter die Zinsen zu erhöhen.

Ein differenzierter Ansatz der EZB zur Zinspolitik würde auf der weitverbreiteten Erkenntnis gründen, dass Geldpolitik mit langen und variablen Zeitverzögerungen wirkt. Dem stimmte Lagarde zumindest teilweise zu: „Es gibt eine gewisse Zeitverzögerung – aber nicht so lange, wie es in Lehrbüchern heißt, die in der Regel von 18 bis 24 Monaten oder etwas länger ausgehen.“

Eine unmittelbare Folge so einer Zeitverzögerung ist, dass sich die Wirkung der heute – oder in der Tat der gestern – ergriffenen Maßnahmen zur Inflationsbekämpfung erst nach einiger Zeit einstellt. Wenn die Zentralbank so lange die Zinsen weiter erhöht, bis deutlich zu sehen ist, dass die Inflation auf ihre Zielrate sinkt, stellt sie ihre restriktive Politik viel zu spät ein. Nach solchen Transmissionsverzögerungen befragt, antwortete Lagarde jedoch: „Es genügt zu sagen, dass wir die Wirkung schon wahrnehmen. Sehen wir alle Wirkungen? Offensichtlich nicht. Wir wollen aber alle sehen, bis hin zur Inflationsrate.“

Angesichts all der Ungewissheiten über die Inflationsaussichten verwundert es, dass die EZB in ihrer Absichtserklärung lediglich über die Inflationsrate im Jahresvergleich redet – also beispielsweise die Rate vom Mai diesen Jahres als Differenz zum Preisniveau vom Mai 2022 angibt –, aber kein Wort über die kurzfristige Dynamik verliert. Aufgrund des heftigen Inflationsschocks von 2022 macht sich bei dieser Herangehensweise ein aktueller Inflationsrückgang erst zeitverzögert bemerkbar.

Eine kurzfristige Inflationsdynamik kann sichtbar gemacht werden, indem die Veränderungen im (saisonbereinigten) Preisniveau über einen Zeitraum von beispielsweise drei Monaten errechnet werden. Um dies mit der auf jährlichen Daten basierenden Berechnung vergleichbar zu machen, wird die dreimonatige Veränderungen auf zwölf Monate hochgerechnet.

In der Eurozone hat sich die Inflation schon erheblich verlangsamt.

Stellt man diese – in den USA sehr gebräuchlichen – Berechnungen an, wird deutlich, dass die Inflation in der Eurozone schon erheblich zurückgegangen ist. Im Mai 2023 lag die Gesamtinflationsrate bei nur 1,8 Prozent. Die Kerninflation (ohne Lebensmittel und Energie) ist auf 3,9 Prozent gesunken und selbst die Inflation bei Dienstleistungen, die von der EZB mit besonderer Sorge verfolgt wird, ist schon etwas abgeschwächt.

Natürlich kann eine solche kurzfristige Dynamik schwankend und irreführend sein. Trotzdem ist es unverständlich, warum die EZB in ihrer öffentlichen Kommunikation solche Daten nicht nennt. Was die Öffentlichkeit angeht, zeigt die EZB-Umfrage zur Inflationserwartung der Verbraucherinnen und  Verbraucher zum Glück, dass die Haushalte in der Eurozone für die nächsten drei Jahre eine Inflationsrate von 2,5 erwarten. Niedrige Erwartungen sind also ziemlich gut verankert. Was könnte hinter der rüden Rhetorik der EZB („wir haben viel zu tun“) stecken? Will die Bank ihre kämpferische Seite bekunden, nachdem sie 2022 zu zögerlich war? Versucht sie, das deutsche Publikum zu beeindrucken, das seit Jahren darüber klagt, dass die EZB zu wenig auf Preisstabilität hinarbeitet?

In der gegenwärtigen Situation steht die Geldpolitik nicht nur vor einem schwierigen Kompromiss zwischen Preisstabilität und Wachstum, sondern auch vor einer Gratwanderung zwischen Preis- und Finanzstabilität. Auch wenn niemand daran zweifelt, dass Preisstabilität das Hauptziel der EZB ist, sollte ihre Präsidentin Christine Lagarde zumindest überzeugender erklären, warum und ob Leitzinserhöhungen in immer höher dosierten Schritten wirklich gerechtfertigt sind.

Dieser Artikel ist eine gemeinsame Veröffentlichung von Social Europe und dem IPG-Journal.

Aus dem Englischen von Ina Goertz