Ernüchterung macht sich breit in New York. Am 18. und 19. September trafen sich die Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen zur Halbzeitbilanz der UN-Entwicklungsziele (kurz SDGs). Das Ergebnis: Von 140 bewertbaren Zielen sind nur etwa 15 Prozent auf dem Weg, bis 2030 erreicht zu werden, bis zu 30 Prozent entwickelten sich sogar rückläufig. Darauf aufbauend waren die Reaktionen nahezu durchgehend gleich. Zentrales Anliegen müsse es sein, die Ziele doch noch zu erreichen. Die Staatengemeinschaft setzt dabei auf die Aspekte Digitalisierung und Finanzierung. Mit einer reichlichen Portion Technikoptimismus und Finanzspritzen – Deutschland etwa gibt rund 300 Millionen Euro aus Mitteln des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung an die Weltbank – soll in den verbleibenden sieben Jahren alles anders, aber eben doch auch alles wieder gleich gemacht werden. So erscheint es wenig verwunderlich, dass sich die Rednerinnen und Redner beim Gipfeltreffen inzwischen im rhetorischen Niemandsland der Hoffnungen, Träume und Wünsche wiederfinden. Diese unverbindlichen Durchhalteparolen sind damit zu erklären, dass die Beteiligten in massiven Sachzwängen verhaftet sind und sich in den Widersprüchen der Agenda verrennen.
UN-Generalsekretär António Guterres forderte direkt zu Beginn des Gipfels die Mitgliedstaaten auf, nicht auf die Ursachen des Scheiterns und gegenseitige Schuldzuweisungen zu fokussieren, sondern die Anstrengungen zum Erreichen der Ziele noch zu verstärken. Um es mit Kurt Tucholsky zu sagen: Im Übrigen gilt hier derjenige, der auf den Schmutz hinweist, für viel gefährlicher als der, der den Schmutz macht. So wurde von ganz oben die Frage tabuisiert, ob sich die Staatengemeinschaft eingestehen muss, dass die SDGs selbst ein Problem sind. Offensichtlich gibt es keine Exit-Strategie aus diesem Vorhaben.
Die Frage wurde tabuisiert, ob sich die Staatengemeinschaft eingestehen muss, dass die SDGs selbst ein Problem sind.
Nachhaltige Entwicklung sei etwa der beste aller Business-Pläne, sagte Guterres bereits zuvor beim SDG-Aktionswochenende. Er verschwieg dabei jedoch, dass in der gegenwärtigen Weltwirtschaftsordnung eine Wertschöpfung auf Kosten von anderen Menschen und ihrer natürlichen Umwelt lediglich der beste „Business-Plan“ bleibt, wenn Profit generiert werden soll. Nachhaltigkeit und Wirtschaftswachstum sind nahezu ausschließlich ein Widerspruch, auch wenn die Beteiligten des Gipfeltreffens hierzu Meisterleistungen der kognitiven Dissonanz oder des Greenwashing vollbringen. Die Forderung nach mehr Wirtschaftswachstum im SDG 8 steht sinnbildlich für eine Lebenslüge der Vereinten Nationen. Dieses Streben nach immer Mehr ist für die Weltproblemlagen unserer Zeit mitverantwortlich bis grundlegend ursächlich. Zu den größten Unternehmen der Welt zählen insbesondere jene, deren Ausbeutung von fossilen Energieträgern zur globalen Klimakrise und zu einer strukturellen Ungleichheit zwischen Weltregionen geführt hat.
Nach der Hälfte der Laufzeit zeigen sich die Beteiligten des Gipfeltreffens enttäuscht, dass trotz der SDGs etwa die Erderwärmung nicht ausreichend eingedämmt wurde. Sechs von neun planetaren Grenzen sind schon heute überschritten. Im Widerspruch dazu steht, dass bereits im Vorfeld der Verhandlungen zu den SDGs das Ziel zur Reduzierung der fossilen Energien einkassiert wurde. Schon eine Diskussion darüber hätte dazu geführt, dass die ölfördernden Staaten erst gar nicht an den Verhandlungstisch gekommen wären. Beim SDG-Gipfel wurde nun wieder eine Erklärung verabschiedet, die neben Irland von Katar vorangetrieben wurde. In diesem zehnseitigen Dokument ist jedoch erneut keine Reduzierung fossiler Energieträger festgehalten. Beide Länder profitieren schließlich (zumindest aktuell noch) davon. Im Durchschnitt müsste ein Mensch seinen CO2-Ausstoß in Irland auf etwas weniger als ein Drittel und in Katar auf ein Neuntel reduzieren. So ist es letztlich blanker Hohn, wenn in der Erklärung auf die Verletzlichkeit der Länder durch den Klimawandel hingewiesen wird, aber fossile Energieträger verschwiegen werden.
Schon eine Diskussion über die Reduzierung der fossilen Energien hätte dazu geführt, dass die ölfördernden Staaten erst gar nicht an den Verhandlungstisch gekommen wären.
Eine zweite Lebenslüge der Vereinten Nationen liegt darin, dass die Staaten die Entwicklungsziele trotz Krisen wie Corona erreichen wollen. Tatsächlich ermöglichen die SDGs vielmehr eine Lebensweise, die gerade zu globalen Krisen führt. Im SDG 9 wird etwa der Ausbau von Infrastruktur angestrebt. Dies führt mitunter zu einer Versiegelung von Böden, zu Entwaldung und zur Vernichtung von tierischen Rückzugsräumen. In der Folge kommt es zu einer zunehmenden Übertragung von Krankheitserregern von Tieren auf den Menschen, wie es die Weltgesellschaft am Beispiel von Covid-19 kürzlich erlebte. Auch die beim Gipfel wiederkehrend hervorgehobene Hungerkrise basiert nicht auf einem quantitativen Mehr an Infrastruktur, sondern auf einer massiven Verteilungsungerechtigkeit und auf Lieferblockaden. Aus dem Lösungsansatz des Immer-mehr entstehen letztlich meist neue Problemlagen, sogenannte „Verschlechtbesserungen“.
Eine dritte Lebenslüge ist mit Blick auf globale soziale Ungleichheiten festzustellen. Das SDG 10 umfasst unter anderem eine Unterteilung in nachhaltige und nicht-nachhaltige Länder, bezogen auf deren Migrationspolitik, bei der Länder mit hohem Geflüchteten-Bevölkerungsanteil als nicht-nachhaltig eingestuft werden. Damit werden Grenzregime angestrebt, die Menschen ordnen und trennen sollen. Die Erklärung des SDG-Gipfels geht nun sogar darüber hinaus, da darin eine maximale Verwässerung in Form von einer „Berücksichtigung nationaler Gegebenheiten“ betont wird. Nachhaltige Entwicklung bedeutet hier de facto, dass Menschen in ihrer Mobilität behindert werden oder diese unmöglich gemacht wird. Soziale Gerechtigkeit würde genau das Gegenteil bedeuten, denn die größte Chance auf einen sozialen Aufstieg haben jene, die Grenzen überschreiten können. Gegenwärtig erleben wir Regulierungskrisen etwa an den Außengrenzen Europas oder der USA. Für Zehntausende werden diese Orte zu Massengräbern. Nachhaltig im Sinne sozialer Gerechtigkeit wären freie Wege, also jede einzelne Staatsgrenze weniger. Die SDGs führen jedoch zu einer Zunahme sozialer Ungleichheiten, weil sie eine globale Personenmobilität durch den Ausbau von Grenzen behindern. Kaum etwas erscheint sinnbildlicher für das Scheitern der Vereinten Nationen im Allgemeinen, als die ihr zugrunde liegende Idee von Einzelstaaten, die Menschen voneinander zu trennen versuchen.
Spätestens jetzt zur Halbzeit der SDGs wird eines deutlich: Der Elefant im Raum ist, dass es gar nicht mehr um diese Ziele gehen könnte, wenn die Beteiligten die Herausforderungen der gegenwärtigen Polykrise ernst nehmen würden. Die UN-Entwicklungsziele dienen letztlich der Aufrechterhaltung einer nicht-nachhaltigen Lebensweise. Es erscheint verblüffend, dass die dominanten Vorstellungen von Wohlstand aufrechterhalten werden sollen und gleichzeitig die daraus resultierenden, regelmäßig eintretenden Krisen völlig ausgeblendet werden. Nachhaltigkeit bedeutet, zukünftig lebenden Menschen eine zumindest nicht weniger lebenswerte Welt zu hinterlassen. Das Gipfeltreffen hat gezeigt, dass die Mitgliedstaaten sehenden Auges diese Minimalforderung mit den SDGs verfehlen werden und mit ihrem technikoptimistischen und finanzgetriebenen Handeln zudem eine Verschärfung von Krisen in Kauf nehmen.