Wir leben in einer in vielerlei Hinsicht zerrissenen Welt, die mit unterschiedlichen Krisen zu kämpfen hat, die alle miteinander zusammenhängen und sich inzwischen gegenseitig verstärken. Doch eine ernst zu nehmende globale Führung ist nicht in Sicht: Die meisten Regierungen scheinen ihre sehr spezifischen nationalen Probleme geradezu obsessiv mit kurzfristigen Maßnahmen bekämpfen zu wollen, statt zusammenzuarbeiten und konkrete Strategien zu entwickeln, mit denen die sich abzeichnenden existenziellen Bedrohungen der Menschheit abgewendet werden können.
Die Trägheit, Schwerfälligkeit und regelrechte Unfähigkeit der multilateralen Institutionen, die Mitte des 20. Jahrhunderts (ebenfalls nach einer globalen Krise) entstanden sind, wird jetzt schmerzhaft deutlich. Selbst neuere internationale Initiativen zur Bewältigung globaler Probleme wie die Klimakonferenz der Vereinten Nationen (COP), die gerade in Ägypten zu ihrer 27. Sitzung zusammenkommt, bringen scheinbar keine nennenswerten Entscheidungen oder Durchbrüche – obwohl dies dringend notwendig wäre.
Das allein reicht schon aus, um viele Menschen in Verzweiflung zu stürzen. Statt zu verzweifeln, müssen wir jedoch darüber nachdenken, warum Regierungen auf politischen Entscheidungen beharren, die eindeutig in die Katastrophe führen, und welchen Interessen diese Entscheidungen dienen. Insbesondere müssen wir die Machtungleichgewichte auf globaler Ebene und innerhalb der Länder erkennen, denn diese verschärfen eine sozial irrationale und ungerechte Politik noch zusätzlich. Nur so können wir erzwingen, dass sich wirklich etwas verändert.
Es deutet einiges darauf hin, dass die ungleiche Machtverteilung inzwischen auch in der internationalen politischen Diskussion stärker als Problem erkannt wird. Ein kürzlich erschienener Bericht des Forschungsinstituts der Vereinten Nationen für soziale Entwicklung (UNRISD) formuliert das Kernthema – die Bekämpfung von Machtungleichgewichten – schon im Titel: Crises of Inequality: Shifting Power for a New Eco-social Contract („Krisen der Ungleichheit. Machtverschiebung für einen neuen sozialen und ökologischen Gesellschaftsvertrag“). Die Analyse setzt bei einer wichtigen Erkenntnis an: Dass derzeit die extremen Ungleichheiten und die Zerstörung der Umwelt massiv zunehmen und wir dadurch für alle möglichen Krisen noch anfälliger werden, ist nicht das Ergebnis von „Mängeln“ in unserem Wirtschaftssystem, sondern die direkte Folge dieses Systems.
Die Eliten können sich unverhältnismäßig gut gegen die Auswirkungen verschiedener Krisen abschirmen.
In diesem Wirtschaftssystem ist die Ungleichheit zur treibenden Kraft geworden, wobei diejenigen, die bereits Macht haben, den rechtlichen und ordnungspolitischen Rahmen vorgeben. Dieser Rahmen sorgt dafür, dass sie sich fortwährend bereichern und ihre Macht sichern können, und setzt eine wirtschaftliche und ökologische Dynamik in Gang, die für den Großteil der Gesellschaft extrem zerstörerisch ist. Die Eliten (reiche Einzelpersonen und große Unternehmen) können sich unverhältnismäßig gut gegen die Auswirkungen verschiedener Krisen abschirmen – ganz gleich, ob es sich um Gesundheitskatastrophenwie die Pandemie oder ökologische Verwüstungen und Klimaveränderungen handelt, die manche Orte unbewohnbar machen und Lebensgrundlagen zerstören. Damit nicht genug: Die Eliten können – wie sich während der Corona-Pandemie sowie in finanziell und wirtschaftlich volatilen Zeiten gezeigt hat – von diesen Krisen sogar noch profitieren, während Millionen Menschen an ihnen zugrunde gehen.
Im UNRISD-Bericht wird – wie auch in vielen anderen Berichten – die Ansicht vertreten, es gebe einen besseren Weg in die Zukunft. Dafür müssen unsere Volkswirtschaften weltweit komplett neu geordnet werden. Der Bericht nennt dafür drei entscheidende Faktoren: ein Wirtschaftsmodell, das die Umwelt und die soziale Gerechtigkeit in den Vordergrund stellt – was voraussetzt, dass die Beziehungen zwischen Staat, Markt, Gesellschaft und Natur neu austariert werden; eine andere Finanzpolitik, die auf einem fairen und gerechten Steuersystem aufbaut; und einen neu konzipierten Multilateralismus, der sich vor allem auf globale Solidarität gründet.
Angesichts der aktuellen geopolitischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Realitäten, die augenscheinlich allesamt in die entgegengesetzte Richtung gehen, mag das utopisch erscheinen. Tatsächlich aber werden ähnliche Argumente überall auf der Welt immer lauter geäußert. Der Club of Rome etwa vertritt 50 Jahre nach Die Grenzen des Wachstums in seiner jüngsten Publikation Earth for All: Ein Survivalguide für unseren Planeten die These, die erforderlichen Veränderungen seien durchaus realisierbar.
Die Mächtigen werden alles daransetzen, den Status quo aufrechtzuerhalten.
Dabei geht es um fünf grundsätzliche Weichenstellungen: die Beseitigung der Armut, die Bekämpfung der Ungleichheit, die Gewährleistung eines sicheren Grundeinkommens und einer sozialen Absicherung für alle, die Umgestaltung der Nahrungsmittelsysteme und die Energiewende, einschließlich der umfassenden Umstellung auf erneuerbare Energien. Diese Ziele erfordern eine Kombination aus wirtschafts- und sozialpolitischen Maßnahmen sowie rechtliche und politische Reformen auf nationaler und internationaler Ebene. Das setzt natürlich voraus, dass die Bevölkerung weltweit so massiv mobilisiert wird, dass sie die Regierungen zwingen kann, diese wichtigen politischen Veränderungen auch tatsächlich zu realisieren.
So sieht es auch der UNRISD-Bericht. Die Mächtigen werden alles daransetzen, den Status quo aufrechtzuerhalten, von dem eine kleine Gruppe auf Kosten der großen Mehrheit profitiert – ungeachtet der sozialen und menschlichen Kosten und der Gefahren für unseren Planeten. Der Bericht zeigt auf, wie Reiche und Großunternehmen auf unterschiedlichste Weise die politische Kontrolle, das staatliche Handeln, die Vorschriften und die Medien beeinflussen, um ihre persönlichen und privaten Interessen ohne Rücksicht auf die Konsequenzen durchzusetzen. Nationale und globale Eliten können Einfluss darauf nehmen, wie vermeintliche Umverteilungsprogramme konzipiert, inhaltlich ausgestaltet und umgesetzt werden. Dieses Machtgefälle wird durch räumliche Ungleichheiten zwischen und innerhalb der einzelnen Länder noch verschärft.
Es braucht also eine Gegenmacht – die Macht der kleinen Leute, die nur dann Stärke entwickeln, wenn sie sich zusammentun, verbünden und an einem Strang ziehen. Sie müssen überzeugt und motiviert werden, sich für einen neuen sozialen und ökologischen Gesellschaftsvertrag starkzumachen. Der UNRISD-Bericht legt nahe, dass dies gelingen kann, wenn dieser Gesellschaftsvertrag auf Menschenrechte für alle, auf Geschlechtergerechtigkeit und Solidarität, auf fortschrittliche Steuerregelungen und auf den Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft setzt, sowie wenn er die Bedürfnisse der Natur und historisch gewachsene Ungerechtigkeiten anerkennt. Das ist eine große Aufgabe. Aber die Menschheit muss sich dieser Herausforderung stellen, wenn sie auf diesem Planeten überleben will.
Dies ist eine gemeinsame Veröffentlichung von Social Europe und dem IPG-Journal.
Aus dem Englischen von Christine Hardung